Urteil vom Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht (11. Kammer) - 11 A 38/20

Tenor

Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 03.12.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.01.2020 verpflichtet, dem Kläger einen Reiseausweis für Ausländer auszustellen.

Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kostenentscheidung vorläufig vollstreckbar.

Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % der zu vollstreckenden Kosten abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand

1

Der Kläger ist eritreischer Staatsangehöriger. Er reiste am 05.09.2015 in die Bundesrepublik ein und stellte am 13.06.2021 einen Asylantrag.

2

Im Rahmen seiner Anhörungen hatte der Kläger erklärt, sich der militärischen Grundausbildung in seinem Heimatland entzogen zu haben. Er sei im Rahmen seiner illegalen Ausreise gestoppt und über sechs Monate inhaftiert worden. Ein zweiter Fluchtversuch über Äthiopien sei erfolgreich gewesen. Für den Fall seiner Rückkehr fürchte er die erneute Inhaftierung und gehe davon aus, nicht in Sicherheit leben zu können.

3

Mit Bescheid vom 14.05.2018 wurde ihm auf seinen Asylantrag hin subsidiärer Schutz zuerkannt. In der Begründung des Bescheides heißt es, dass aufgrund des ermittelten Sachverhalts davon auszugehen sei, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden drohe. Dem Kläger wurde daraufhin eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 AufenthG erteilt und sodann verlängert.

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Mit Schreiben vom 25.06.2019 beantragte der Kläger die Erteilung eines Reiseausweises für Ausländer. Zur Begründung verwies er darauf, dass er einen Pass unter den gleichen Bedingungen wie anerkannte Flüchtlinge beanspruchen könne. Es sei ihm nicht zumutbar, einen Pass bei der eritreischen Botschaft zu erlangen. Er könne diesen nur erhalten, wenn er eine „Aufbausteuer“ zahle und eine Reueerklärung unterzeichne. Beides sei ein illegales Vorgehen der eritreischen Behörden. Es könne von ihm nicht verlangt werden, dass er entgegen seiner politischen Überzeugungen gegenüber Eritrea sein Bedauern über die Flucht ausdrücke und seine aus der Flucht resultierende Strafe akzeptiere. Er wäre bei einer Vorsprache in der eritreischen Botschaft zudem Gefährdungen ausgesetzt. Er engagiere sich gegen das eritreische Regime exilpolitisch. Das Botschaftsgelände sei exterritoriales Gebiet und ihm drohe eine Bestrafung durch die eritreischen Behörden. Auch seine Verwandten in Eritrea – dort würden unter anderem noch seine Eltern leben – seien gefährdet, wenn er sich hier in Deutschland an die Botschaft wenden würde. Schließlich würde auch sein Bruder gefährdet, der hier in Deutschland ebenfalls als Flüchtling anerkannt sei.

5

Mit Schreiben vom 18.09.2019 hörte der Beklagte den Kläger zunächst zu der beabsichtigten Ablehnung des Antrags an und lehnte den Antrag nach einer ergänzenden Stellungnahme des Klägers sodann mit Bescheid vom 03.12.2019 ab. Das Bundesministerium des Inneren erachte die Beschaffung eines Heimatpasses auch für subsidiär Schutzberechtigte grundsätzlich als zumutbar. Auch die dafür gegebenenfalls erforderliche Zahlung von Gebühren und Steuern führe für sich genommen nicht zu einer Unzumutbarkeit. Die Voraussetzungen des § 5 Abs. 1 AufenthV lägen daher nicht vor und die Erteilung eines Reisepasses stehe im Ermessen der Ausländerbehörde. Hier sei der Antrag abzulehnen, da die Erteilung eines Reisepasses in die Passhoheit eines anderen Landes eingreife und es dem Kläger möglich sei, einen Nationalpass seines Heimatortes zu erhalten.

6

Den dagegen eingelegten Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 27.01.2020 zurück. Botschaften seien nicht exterritorial. Es gelte auch dort die deutsche Rechtsordnung, es gäbe lediglich völkerrechtliche Zugangs- und Strafverfolgungshindernisse gegen Botschaftsangehörige. Die Aufbausteuer und die Abgabe der Reueerklärung seien zumutbar. Eine konkrete Gefährdung der Verwandten in Eritrea sei ebenfalls nicht ersichtlich. Ausweislich der Auskünfte des Auswärtigen Amtes habe der eritreische Staat 2009 aufgehört, Verwandte von Geflüchteten in Eritrea zu verfolgen, da dies aufgrund der hohen Zahl an Geflüchteten nicht mehr möglich sei. Die Beschaffung eines Nationalpasses sei daher zumutbar und die Ausstellung eines Reiseausweises für Ausländer könne nicht verlangt werden.

7

Der Kläger hat am 12.02.2020 Klage erhoben, mit der er sein Begehr unter Wiederholung und Vertiefung des bisherigen Vortrags weiterverfolgt. Ergänzend weist er darauf hin, dass es unzumutbar sei, im Falle einer Auslandsreise nach Eritrea abgeschoben zu werden. Dies sei aber zu erwarten, wenn er mit einem eritreischen Nationalpass reisen würde. Soweit das eritreische Regime behaupte, die Aufbausteuer werde nicht mehr erhoben, sei dies eine Schutzbehauptung. Man bediene sich als Umgehung des Verbots der Steuererhebung durch Botschaften in Deutschland nunmehr eines Verfahrens, mit dessen Hilfe die Steuer in Eritrea erhoben werde. Das Regime bediene sich zudem zur Eintreibung der Steuer illegaler Mittel wie Nötigung, Erpressung und Betrug. Es sei dem Kläger auch nicht zumutbar, seine Verfolger finanziell zu unterstützen. Mit der Unterzeichnung der Reueerklärung würde er zudem unwahre Tatsachen behaupten und gegen seine politische Überzeugung handeln. Er verwies zudem auf eine Stellungnahme des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, laut der eine in Eritrea verhaftete und verhörte Ausländerin bei der Beantragung eines Reisepasses mit Repressalien zu rechnen habe.

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Der Kläger beantragt,

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den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 03.12.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.01.2020, zugestellt am 31.01.2020, zu verpflichten, ihm einen Reiseausweis für Ausländer auszustellen.

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Der Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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und verweist auf seine Ausführungen in seinen Bescheiden vom 03.12.2019 und 27.01.2020. Eine Ausstellung des Reisepasses komme zudem nicht aufgrund einer Gleichbehandlung mit anerkannten Flüchtlingen in Betracht, da dies einer mittelbaren Korrektur der Entscheidung des Bundesamtes gleichkomme.

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Im Rahmen der mündlichen Verhandlung am 25.06.2021 ist der Kläger persönlich angehört worden. Diesbezüglich wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die Klage ist zulässig und begründet.

15

Der Kläger hat einen Anspruch auf Erteilung eines Reiseausweises. Der ablehnende Bescheid des Beklagten vom 03.12.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.01.2020 ist rechtswidrig.

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Nach § 5 Abs. 1 AufenthV kann einem Ausländer, der nachweislich keinen Pass oder Passersatz besitzt und ihn nicht auf zumutbare Weise erlangen kann, nach Maßgabe der nachfolgenden Bestimmungen ein Reiseausweis für Ausländer ausgestellt werden. Nach § 6 Satz 1 Nr. 1 Var. 1 AufenthV darf im Inland ein Reiseausweis für Ausländer ausgestellt werden, wenn der Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis besitzt.

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Zunächst einmal besitzt der Kläger nach dem vorliegenden Verwaltungsvorgang keinen Pass oder Passersatz. Auch die Voraussetzung des § 6 Satz 1 Nr. 1 Var. 1 AufenthV ist erfüllt. Dem Kläger wurde nach seiner Anerkennung als subsidiär Schutzberechtigten ein Aufenthaltstitel nach § 25 Abs. 2 AufenthG erteilt und sodann stets verlängert.

18

Weitere Tatbestandsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 AufenthV ist, dass der Kläger einen Pass oder Passersatz nicht auf zumutbare Weise erlangen kann.

19

Bei der Zumutbarkeit handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der der vollen gerichtlichen Überprüfung unterliegt und hinsichtlich dessen Anwendung die Behörde keinen Ermessenspielraum besitzt (Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 17. Oktober 2018 – 19 ZB 15.428 –, juris Rn. 9; BVerwG, Beschluss vom 20. Juni 2011 – 1 B 1/11 –, juris Rn. 6). Welche konkreten Anforderungen an das Vorliegen der Unzumutbarkeit zu stellen sind, beurteilt sich nach den Umständen des Einzelfalles und lässt sich nicht allgemeingültig beantworten (Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Urteil vom 18. Januar 2011 – 19 B 10.2157 –, juris Rn. 24, sowie Beschluss vom 13. Juni 2016 – 10 C 16.773 –, juris Rn. 17). Dabei ist es im Hinblick auf den mit der Ausstellung eines Passes regelmäßig verbundenen Eingriff in die Personalhoheit eines anderen Staates grundsätzlich nicht zu beanstanden, wenn die Ausländerbehörde den Ausländer zunächst auf die Möglichkeit der Ausstellung eines Passes durch seinen Herkunftsstaat verweist und die Erteilung eines Reiseausweises erst dann in Betracht zieht, wenn diese Bemühungen nachweislich ohne Erfolg geblieben sind (Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 17. Mai 2016 – 18 A 951/15 –, juris Rn. 3 m.w.N.; VG Hannover, Urteil vom 20. Mai 2020 – 12 A 2452/19 –, juris Rn. 23; Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 17. Oktober 2018 – 19 ZB 15.428 –, juris Rn. 9).

20

Dieser auf eine Einzelfallprüfung abstellende Maßstab gilt auch für Personen mit einem subsidiären Schutzstatus. Die generelle Unzumutbarkeit einer Vorsprache bei der Auslandsvertretung zum Zwecke der Passbeschaffung folgt weder aus der Stellung als subsidiär Schutzberechtigter noch aus § 72 Abs. 1 Nr. 1 AsylG. Nach § 72 Abs. 1 Nr. 1 AsylG erlischt die Anerkennung als Asylberechtigter oder die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, wenn der Ausländer sich freiwillig durch die Annahme oder Erneuerung eines Nationalpasses dem Schutz des Staates, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, unterstellt. § 72 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ist auf subsidiär Schutzberechtigte nicht anwendbar (Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 17. Oktober 2018 – 19 ZB 15.428 –, juris Rn. 10; Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 17. Mai 2016 – 18 A 951/15 –, juris Rn. 6; Verwaltungsgericht Hannover, Urteil vom 20. Mai 2020 – 12 A 2452/19 –, juris Rn. 28; Verwaltungsgericht Gießen, Urteil vom 28. Juli 2016 – 6 K 3108/15 –, juris Rn. 18).

21

Die Anforderungen an die Unmöglichkeit bzw. Unzumutbarkeit der Passerlangung sind vielmehr unter Berücksichtigung der besonderen Verfolgungs- bzw. Gefährdungssituation der Schutzberechtigten nach den Umständen des Einzelfalles zu stellen. Bei subsidiär Schutzberechtigen ist im jeweiligen Einzelfall zu prüfen, ob ihnen die Vorsprache im Konsulat ihres Herkunftsstaates zwecks Beschaffung eines Nationalpasses zumutbar ist, oder ob ihnen wegen Unzumutbarkeit gerade dieser Handlung durch die Ausländerbehörde ein Reiseausweis für Ausländer auszustellen ist. Im Hinblick auf die Zumutbarkeit ist im Einzelfall zu prüfen, ob die verfolgungsrechtliche Situation bei einer wertenden Betrachtung im materiellen Kern und vom Ergebnis her mit der eines Flüchtlings vergleichbar ist (Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 17. Oktober 2018 – 19 ZB 15.428 –, juris Rn. 12 m.w.N.; für syrische Staatsangehörige: VG Köln, Urteil vom 04. Dezember 2019 – 5 K 7317/18 –, juris Rn. 31 ff.). Dabei können die Zustände, die zur Gewährung subsidiären Schutzes geführt haben, auch bei der Prüfung der Zumutbarkeit Bedeutung erlangen (VG Hannover, Urteil vom 20. Mai 2020 – 12 A 2452/19 –, juris Rn. 29). Geht der drohende ernsthafte Schaden auf eine gezielte Bedrohung durch staatliche Behörden zurück, und befürchtet der Betroffene eine Gefährdung seiner im Heimatland lebenden Verwandten, so kann sich auch deshalb eine Passerlangung als unzumutbar bzw. unmöglich erweisen (Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 17. Oktober 2018 – 19 ZB 15.428 –, juris Rn. 12 m.w.N.). Bestehen belastbare Anhaltspunkte dafür, dass er seine im Bundesgebiet oder im Herkunftsstaat lebenden Familienangehörigen durch das Bemühen um Ausstellung eines Nationalpasses unmittelbar in Gefahr bringen könnte, kann ebenfalls von einer Unzumutbarkeit der Vorsprache auszugehen sein (VG Hannover, Urteil vom 20. Mai 2020 – 12 A 2452/19 –, juris Rn. 25).

22

Gemessen an diesen Maßstäben ist im vorliegenden Fall von einer Unzumutbarkeit der Passerlangung i.S.d. § 5 Abs. 1 AufenthV auszugehen.

23

1. Diese Unzumutbarkeit folgt aber weder aus einem wertenden Vergleich der Fluchtgründe des subsidiär geschützten Klägers mit der Situation eines anerkannten Flüchtlings, noch aus einer Bedrohung des Klägers oder seiner Angehörigen im Falle des Besuches der Botschaft oder der Verpflichtung zur Zahlung der sog. Diaspora- bzw. Aufbausteuer.

24

Die Entziehung aus dem eritreischen Nationaldienst und die daran anknüpfende Gefährdung des Klägers ist keine im materiellen Kern und vom Ergebnis her mit der eines Flüchtlings vergleichbare Situation.

25

Die Unzumutbarkeit folgt auch nicht aus einer zu erwartenden Gefährdung des Klägers im Falle des Besuchs der Botschaft oder einer Gefährdung seiner Verwandten in Eritrea und in Deutschland. Mit Blick auf die der Kammer zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel sowie unter Würdigung des in dieser Hinsicht sehr vagen Vortrag des Klägers ist keine beachtliche Wahrscheinlichkeit für eine derartige Gefährdung gegeben.

26

Auch die Verpflichtung zur Zahlung der sog. Diaspora- bzw. Aufbausteuer, die Voraussetzung für die Inanspruchnahme konsularischer Dienstleistungen ist, führt nicht zu einer Unzumutbarkeit. Die Leistung dieser Steuer ist zumutbar.

27

Zur ausführlichen Begründung hinsichtlich dieser Aspekte verweist die Kammer auf die Entscheidung vom heutigen Tag in dem Verfahren 11 A 270/20.

28

2. Die Unzumutbarkeit der Passbeschaffung folgt indes aus der mit der Beantragung konsularischer Dienstleistungen einhergehenden Selbstbezichtigung einer Straftat im Rahmen der sogenannten „Reueerklärung“.

29

Als Reueformular bzw. Reueerklärung („letter of regret“) wird das von den eritreischen Auslandsvertretungen vorgehaltene Formular „B4/4.2“ („Immigration and Citizenship Services request form“) bezeichnet (Abdruck des eritreischen Originalformulars sowie englischer Übersetzungen bei UN Security Council, Letter dated 11 July 2012 concerning Somalia and Eritrea, 13.07.2012, UN-Doc. S/2012/545 – im Folgenden: UNSC, UN-Doc. S/2012/545 –, S. 62 f., sowie Tilburg University, The 2 % Tax, Appendix). Der auszufüllende Vordruck besteht aus insgesamt 15 Punkten, die Angaben zur Person (Name, Geburtsort/-datum etc.), zur Ausreise aus Eritrea (Ausreisegründe, -ort und -datum), zu Zwischenaufenthalten in anderen Staaten, zum derzeitigen Aufenthalt (aktuelle berufliche Tätigkeit, aktuelle Anschrift) sowie zu den von dem Betroffenen nach Verlassen des Landes erfüllten „nationalen Verpflichtungen“ („national obligations“) umfassen. Mit seiner Unterschrift hat der Erklärende nach dem Wortlaut der als Anlage zu der Studie der Universität T. beigegebenen englischen Übersetzung des Formulars neben der Richtigkeit seiner Angaben abschließend zu bestätigen, dass er bereue, einen Gesetzesverstoß begangen zu haben, indem er seine nationalen Verpflichtungen nicht erfüllt habe, und dass er bereit sei, die dafür gegebenenfalls verhängten angemessenen Maßnahmen zu akzeptieren („that I regret having committed an offence by failing to fulfill my national obligation and that I am willing to accept the appropriate measures when decided“). Die seitens des UN-Sicherheitsrates veröffentlichte Übersetzung unterscheidet sich davon insoweit, als darin nicht auf die Nichterfüllung nationaler Verpflichtungen, sondern auf die Nichtableistung des Nationaldienstes Bezug genommen wird (VG Hannover, Urteil vom 20. Mai 2020 – 12 A 2452/19 –, juris Rn. 34). Bei der dem Auswärtigen Amt bekannten Fassung der Reueerklärung handelt es sich um einen Passus (zwei Sätze), in dem der Erklärende bedauert, seiner nationalen Pflicht nicht nachgekommen zu sein und erklärt, eine eventuell dafür verhängte Strafe zu akzeptieren (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea in der Fassung vom 25.02.2021, S. 26).

30

Inhalt der Reueerklärung ist nach alledem indirekt die Selbstbezichtigung einer Straftat, da der Erklärende sich – zugleich mit dem Ausdruck der Reue – selbst bezichtigt, eine Straftat begangen zu haben, für die er eine Strafe akzeptiert. Eine derartige, gegen den eigenen Willen, abzugebende Selbstbezichtigung einer Straftat, ist mit dem aus Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG folgenden allgemeinen Persönlichkeitsrecht nicht vereinbar.

31

Die Achtung und der Schutz der Menschenwürde und der Freiheit sind grundlegende Prinzipien der Verfassungsordnung, die den Menschen als mit der Fähigkeit zu eigenverantwortlicher Lebensgestaltung begabte "Persönlichkeit" ansieht. (BVerfG, Urteil vom 17. August 1956 – 1 BvB 2/51 –, juris Rn. 501). Dem liegt die Vorstellung vom Menschen als einem geistig-sittlichen Wesen zugrunde, das darauf angelegt ist, in Freiheit sich selbst zu bestimmen und sich zu entfalten (BVerfG, Urteil vom 21. Juni 1977 – 1 BvL 14/76 –, juris Rn. 145). Das allgemeine Persönlichkeitsrecht schützt als "unbenanntes" Freiheitsrecht Elemente der Persönlichkeit, die nicht Gegenstand der besonderen Freiheitsgarantien des Grundgesetzes sind, diesen aber in ihrer konstituierenden Bedeutung für die Persönlichkeit nicht nachstehen (stRspr, vgl. BVerfG, Beschluss vom 10. Oktober 2017 – 1 BvR 2019/16 –, juris Rn. 38). Der spezifische Bezug des allgemeinen Persönlichkeitsrechts zu Art. 1 Abs. 1 GG kennzeichnet seinen Schutzgehalt: Bei der Bestimmung von Inhalt und Reichweite des – nicht abschließend umschriebenen – Schutzbereichs des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ist zu berücksichtigen, dass die Würde des Menschen unantastbar ist und gegenüber aller staatlichen Gewalt Achtung und Schutz beansprucht (vgl. BVerfG, Beschluss vom 31. Januar 1973 – 2 BvR 454/71 –, juris Rn. 30). Von der Vorstellung ausgehend, dass der Mensch in Freiheit sich selbst bestimmt und entfaltet, umfasst die Garantie der Menschenwürde insbesondere die Wahrung personaler Individualität, Identität und Integrität (BVerfG, Urteil vom 17. Januar 2017 – 2 BvB 1/13 –, juris Rn. 539). Damit ist ein sozialer Wert- und Achtungsanspruch verbunden, der es verbietet, den Menschen zum "bloßen Objekt" staatlichen Handelns zu machen oder ihn einer Behandlung auszusetzen, die seine Subjektqualität prinzipiell in Frage stellt (BVerfG, Urteil vom 17. Januar 2017 – 2 BvB 1/13 –, juris Rn. 539). Die unverlierbare Würde des Menschen als Person besteht hiernach darin, dass er stets als selbstverantwortliche Persönlichkeit anerkannt bleibt. Dieser in der Würde des Menschen wurzelnde Gedanke autonomer Selbstbestimmung wird in den Gewährleistungsgehalten des allgemeinen Persönlichkeitsrechts näher konkretisiert (BVerfG, Urteil vom 26. Februar 2020 – 2 BvR 2347/15 –, juris Rn. 207).

32

Das allgemeine Persönlichkeitsrecht beinhaltet den Schutz vor Selbstbezichtigung. Mit ihm und der zu schützenden Würde eines Menschen ist eine Pflicht zur Selbstbelastung nicht vereinbar (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 22. Oktober 1980 – 2 BvR 1172/79, 2 BvR 1238/79 –, juris Rn. 17, vom 13. Januar 1981 – 1 BvR 116/77 –, juris Rn. 18, vom 26. Februar 1997 – 1 BvR 2172/96 –, juris Rn. 82; Hillgruber in Epping/Hillgruber, BeckOK Grundgesetz 47. Edition Stand: 15.05.2021, Art. 1 GG Rn. 37). Der Einzelne soll vom Staat grundsätzlich nicht in eine Konfliktlage gebracht werden, in der er sich selbst strafbarer Handlungen oder ähnlicher Verfehlungen bezichtigen muss (vgl. BVerfG, Beschluss vom 26. Februar 1997 – 1 BvR 21171/96 –, juris Rn. 82). Der Schutz gegen Selbstbezichtigungen beschränkt sich nicht auf strafrechtliche und vergleichbare Verfahren (BVerfG, Beschluss vom 13. Januar 1981 – 1 BvR 116/77 –, juris Rn. 19).

33

Zwar können zum Schutz gewichtiger Belange Dritter oder der Allgemeinheit auch zur Selbstbelastung führende Aussagen verlangt werden, jedoch nur dann, wenn sie nicht zu Zwecken der Strafverfolgung verwendet werden dürfen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 13.01.1981 – 1 BvR 116/77 –, juris Rn. 27).

34

Nach diesen Maßstäben ist eine Verpflichtung, gegen den eigenen Willen die sog. Reueerklärung zu unterzeichnen, mit dem verfassungsrechtlichen Schutz vor Selbstbezichtigung nicht vereinbar.

35

Dabei ist unerheblich, dass sich die rechtliche Position der Betroffenen in Eritrea durch die Unterzeichnung gegebenenfalls nicht verschlechtern würde (vgl. Antwort der Bundesregierung vom 09.05.2018 auf eine kleine Anfrage, BT-Drs. 19/2075, S. 6; VG Hannover, Urteil vom 20. Mai 2020 – 12 A 5005/18 –, juris Rn.42; Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea in der Fassung vom 25.02.2021, S. 27). Denn Gegenstand der Prüfung des Allgemeinen Persönlichkeitsrecht ist im Kontext von Selbstbezichtigungen nicht, inwiefern sich die rechtliche oder tatsächliche Position durch Abgabe von Erklärungen verändert (VG Hannover, Urteil vom 20. Mai 2020 – 12 A 2452/19 –, juris Rn. 40). Unerheblich ist ebenfalls, ob die Erklärung zutreffend ist oder der Erklärende unwahre Aussagen über seine persönlichen Verhältnisse abgibt. Erforderlich, aber auch ausreichend, ist einzig, dass es sich bei der Reueerklärung um eine Erklärung im Zusammenhang mit der Verfolgung einer strafbaren Handlung handelt, derer sich der Betroffene entgegen seiner eigenen Überzeugung und seinem inneren Willen aufgrund einer staatlichem Handeln zurechenbaren Zwangslage bezichtigt.

36

Zwar wird der Kläger durch die Ausländerbehörde nicht zur Abgabe der Erklärung rechtlich verpflichtet, er hätte im Falle einer Verweigerung aber mit dem Nachteil zu leben, keinen Reiseausweis für Ausländer zu erhalten. Der Grundrechtsschutz ist jedoch nicht auf unmittelbar adressierte Eingriffe beschränkt. Auch staatliche Maßnahmen, die eine mittelbare oder faktische Wirkung entfalten, können Grundrechte beeinträchtigen und müssen daher von Verfassungs wegen hinreichend gerechtfertigt sein. Sie können in ihrer Zielsetzung und Wirkung einem normativen und direkten Eingriff gleichkommen und müssen dann wie ein solcher behandelt werden (vgl. BVerfG, Urteil vom 26. Februar 2020 – 2 BvR 2347/15 –, juris Rn. 215; VG Hannover, Urteil vom 20. Mai 2020 – 12 A 5005/18 –, juris Rn. 40). Art. 1 Abs. 1 GG, auf dem auch das Allgemeine Persönlichkeitsrecht beruht, verpflichtet den Staat nach Maßgabe des faktisch und rechtlich Möglichen auch zum Schutz vor Würdeverletzungen von Seiten ausländischer Staatsgewalt (vgl. Kunig/Kotzur in von Münch/Kunig, Grundgesetz, 7. Aufl. 2021, Art. 1 Rn. 49 m.w.N.). Keinesfalls darf der Staat seine Hand zu Verletzungen der Menschenwürde reichen (BVerfG, Urteil vom 20. April 2016 – 1 BvR 966/09 –, juris Rn. 328).

37

Weigert sich der Ausländer, gegenüber der eritreischen Botschaft die verlangte Erklärung, die eine Selbstbezichtigung einer Straftat beinhaltet, abzugeben und wird ihm deshalb ein Reiseausweis vorenthalten, stellt dies einen faktischen bzw. mittelbaren Eingriff dar, der auch unter Berücksichtigung der Passhoheit des eritreischen Staates nicht verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist (VG Hannover, Urteil vom 20. Mai 2020 – 12 A 5005/18 –, juris Rn. 40).

38

Die Kammer folgt insoweit nicht den Wertungen der Entscheidung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht vom 18. März 2021. Soweit das Oberverwaltungsgericht darin die Bedeutung der Reueerklärung zu relativieren versucht (OVG Lüneburg, Urteil vom 18. März 2021 – 8 LB 97/20 –, juris Rn. 58f), vermag sich die Kammer dem nicht anzuschließen. Unklar bleibt bereits, ob das Oberverwaltungsgericht einen Eingriff verneint oder diesen für gerechtfertigt hält. Es führt zwar aus, dass der Schutzbereich berührt sei, verneint eine Grundrechtsverletzung dann aber mit dem Verweis darauf, dass sich aus den weiteren Umständen ergebe, dass Abgabe und Entgegennahme der Erklärung mit einer geringen Ernsthaftigkeitserwartung einhergingen und dass die tatsächlichen Folgen dem Erklärungsinhalt widersprechen. Deswegen sei nicht nur die Belastung durch die Abgabe der Reueerklärung und deren Folgen gering, der Erklärungsinhalt werde auch nicht als kennzeichnend für die Persönlichkeit des Erklärenden verstanden. Soweit damit ein Eingriff in den Schutzbereich verneint werden soll, ist dieser Teil der Entscheidung widersprüchlich. Soweit die fehlende Ernsthaftigkeitserwartung als Rechtfertigung herangezogen werden soll, ist dem entgegenzuhalten, dass sich der Schutz vor Selbstbezichtigungen nicht daran orientiert, ob und welche Konsequenzen aus der Selbstbezichtigung abgeleitet werden, sondern – wie oben ausgeführt – ob sich der Betroffene entgegen seiner eigenen Überzeugung und seinem inneren Willen aufgrund einer staatlichem Handeln zurechenbaren Zwangslage selbst einer Straftat bezichtigt. Im Übrigen hegt die Kammer auch Zweifel daran, dass der eritreische Staat der Reueerklärung keine ernsthafte Bedeutung bemisst. Denn er macht sie jedenfalls erkennbar zur Bedingung für die Inanspruchnahme konsularischer Leistungen. Ob die von dem Oberverwaltungsgericht vorgenommene Aufteilung der Reueerklärung in selbstbelastendes Schuldeingeständnis einerseits und die Erklärung von Reue als solcher andererseits möglich ist, kann aus Sicht der Kammer dahinstehen. Soweit das Oberverwaltungsgericht davon ausgeht, dass angesichts der Vielzahl an eritreischen Staatsangehörigen, die vor den Menschenrechtsverletzungen in ihrem Land fliehen, nicht davon auszugehen sei, dass diese ernsthaft ihre Flucht und Entziehung von Nationaldienst bereuen, mag dies der Ernsthaftigkeit der Reue entgegenstehen. An der grundrechtlichen Wertung des unstreitig vorhandenen Schuldeingeständnisses ändert dies jedoch ebenso wenig wie die Verweis darauf, dass die Unterzeichnung des gesamten Passus eine dem Wortlaut gegenteilige Wirkung habe und das Bestrafungsrisiko senke (OVG Lüneburg, Urteil vom 18. März 2021 – 8 LB 97/20 –, juris Rn. 59). Diesbezüglich ist aus Sicht der Kammer abermals in den Blick zu nehmen, dass der durch das Persönlichkeitsrecht vermittelte Schutz vor Selbstbezichtigung nicht etwaige nachteilige tatsächliche Folgen einer Erklärung abwehren soll, sondern dem Schutz des Geltungsanspruchs der Erklärenden dient, die sich – ungeachtet der Frage, ob sich die Erklärung in ihrer Folge für sie positiv auswirkt – zu einer Erklärung gezwungen sehen, die nicht ihrem tatsächlichen Willen entspricht. Im Übrigen ist anzumerken, dass sich auch Einlassungen von Angeklagten im Strafprozess strafmindernd auswirken können, ohne dass daraus abgeleitet würde, diese positive Wirkung lasse den Eingriffscharakter einer (mittelbar) erzwungenen Selbstbezichtigung entfallen.

39

Für die Entscheidung des konkreten Falles kommt es sodann darauf an, ob der Betroffene freiwillig die Reueerklärung abgeben will, denn das Allgemeine Persönlichkeitsrecht schützt – außerhalb seines unantastbaren Wesensgehalts, Art. 19 Abs. 4 GG (BVerfG, Beschluss vom 31. Januar 1973 –, juris Rn. 30) – nur vor erzwungenen Selbstbezichtigungen, nicht hingegen vor freiwilligen Schuldeingeständnissen. Kann dem Vorbringen des Klägers entnommen werden, dass er zur Unterzeichnung der Reueerklärung im Rahmen seiner autonomen Selbstbestimmung bereit ist, ist die Klage abzuweisen. Anders stellt es sich dar, wenn sich der Kläger aus Gründen der Wahrung seiner persönlichen Integrität und Werten weigert, die Reueerklärung zu unterzeichnen. Dann kann er einen eritreischen Pass nur auf unzumutbare Weise – nämlich unter Aufgabe seines persönlichen Geltungsanspruchs – erlangen. Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 AufenthV sind dann erfüllt.

40

Vorliegend hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung erklärt, dass er die Reueerklärung nur unter Aufgabe seiner Überzeugung abgeben könne. Er habe keinen Fehler gemacht und sehe deshalb nicht ein, Reue zu zeigen. Sein Gewissen erlaube ihm schlicht nicht, die Erklärung zu unterschreiben. Er wolle nicht die Erklärung abgeben, etwas falsch gemacht zu haben. Damit hat der Kläger zur Überzeugung der Kammer dargelegt, dass die Abgabe der Reueerklärung für ihn nur unter Preisgabe des Schutzes des Allgemeinen Persönlichkeitsrecht möglich wäre und damit unzumutbar im Sinne des § 5 Abs. 1 AufenthV ist.

41

Hinsichtlich der daraus folgenden Verpflichtung zur Ausstellung eines Reiseausweises für Ausländer ist das Ermessen des Beklagten aufgrund der gebotenen europarechtlichen Auslegung unter Berücksichtigung des Art. 25 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95/EU auf Null reduziert (VG Hannover, Urteil vom 20. Mai 2020 – 12 A 2452/19 –, juris Rn. 47, 48).

42

Der Verpflichtungsklage war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben.

43

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

44

Die Berufung ist gemäß §§ 124 Abs. 1, 2 Nr. 3, 124a Abs. 1 Satz 1 VwGO zuzulassen. Die Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung, da die Frage der Zumutbarkeit der Erlangung eines Passes oder eines Passersatzes für eine große Anzahl an eritreischen Staatsangehörigen von besonderer Bedeutung ist und in der bisherigen unter- und obergerichtlichen Rechtsprechung uneinheitlich beurteilt wird.


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