Gerichtsbescheid vom Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht (9. Kammer) - 9 A 113/20

Tenor

Die Klage wird abgewiesen.

Die Kosten des Verfahrens tragen die Klägerin zu 1. zu 5 % und der Kläger zu 2. zu 95 %.

Die Entscheidung ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Die Kläger dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund der Entscheidung vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Tatbestand

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Die Kläger wenden sich gegen ihre Heranziehung zu Straßenausbaubeiträgen für den Ausbau der Johannes-Ströh-Straße auf dem Stadtgebiet der Beklagten.

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Die Johannes-Ströh-Straße verläuft auf der Ostseite des Bahnhofs vom südwestlichen Ende der Turmstraße in weitgehend gerader Linie Richtung Nordnordost zum nördlichsten Punkt der Turmstraße, wobei die Johannes-Ströh-Straße am nördlichen Ende des Bahnhofsgeländes eine Kurve Richtung Osten macht. Auf ihrer westlichen Seite befindet sich das Bahnhofsgelände, die Grundstücke auf der Ostseite sind primär mit gewerblich genutzten Immobilien bebaut, in der Kurve befindet sich ein Park & Ride-Gelände. Auf der Nordseite grenzen ein gewerblich genutztes Grundstück sowie eine Moschee an die Johannes-Ströh-Straße.

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Die Klägerin zu 1. ist Eigentümerin des auf dem Stadtgebiet der Beklagten, Gemarkung x, Flur x, Flurstücke xx/xx und xx/xx, liegenden Grundstücks Turmstraße xx, xx, Bad Oldesloe, sowie des ebenfalls auf dem Stadtgebiet der Beklagten, Gemarkung xx, Flur x, Flurstücke xx/x und xx/x, liegenden Grundstücks Turmstraße xx, xx, xx, Bad Oldesloe. Die Grundstücke sind 12.967,00 m² und 6.330,00 m² groß und grenzen jeweils westlich an die Johannes-Ströh-Straße und östlich an die Turmstraße an. Sie werden gewerblich genutzt und sind jeweils bebaut. Sie liegen mit Ausnahme des Flurstücks xx/xx im Geltungsbereich des Bebauungsplans Nr.xx der Beklagten vom 23.09.1982.

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Der Kläger zu 2. ist Eigentümer des auf dem Stadtgebiet der Beklagten, Gemarkung xx, Flur x, Flurstücke xx/xx, xx/xx und xx/xx, an der Turmstraße und der Johannes-Ströh-Straße liegenden Grundstücks. Dies ist 2.495,00 m² groß und unbebaut.

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Die Beklagte erwarb die Flächen, auf denen die  Johannes-Ströh-Straße verläuft, im Dezember 1998 bzw. (das Flurstück xx/xx) im Dezember 2009 von der xxx. Diese hatte die Flächen zuvor hauptsächlich für eine Ladestraße zum Be- und Entladen von Eisenbahngüterwagen genutzt. In den Jahren 1999 bis 2001 ließ die Beklagte die Straße hinsichtlich der Fahrbahn, unselbstständiger Parkplätze, des Gehwegs, der Wasserlauf- und Bordsteine, der Straßenentwässerung und -beleuchtung sowie des Straßenbegleitgrüns ausbauen. Den dafür entstandenen Aufwand in Höhe von 605.802,44 € legte sie bezüglich der Fahrbahn zu 55 %, bezüglich des Gehwegs, der Wasserlauf- und Bordsteine, der Park- und Abstellflächen sowie des Straßenbegleitgrüns zu 70 % und bezüglich der Straßenentwässerung und -beleuchtung zu 65 %, insgesamt in Höhe von 379.440,46 € auf die Anlieger·innen um, wobei sie die Johannes-Ströh-Straße als Haupterschließungsstraße im Sinne ihrer Straßenbaubeitragssatzung einstufte. Die Abnahme der Hauptleistung Straßenarbeiten erfolgte am 14.12.2000, letzte Arbeiten wurden im Mai 2001 abgeschlossen. Nachdem mit Bescheid vom 22.10.2013 auch die Flurstücke xxx, xx/xx und xx/xx, auf denen die Johannes-Ströh-Straße verläuft, von Bahnbetriebszwecken freigestellt worden waren, widmete die Beklagte die Straße am 26.03.2014 dem öffentlichen Verkehr.

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Mit Bescheiden vom 17.12.2018 zog die Beklagte die Kläger zu Ausbaubeiträgen in Höhe von 221.398,83 €, 127.087,24 € und 17.890,02 € für die streitgegenständlichen Grundstücke heran. Die Kläger erhoben hiergegen Widerspruch. Im Rahmen des Widerspruchsverfahrens erließ die Beklagte mit Bescheiden vom 17.04.2020 die Ausbaubeiträge bis auf Beträge in Höhe von 98.767,62 €, 56.694,54 € und 7.980,87 €. Im Übrigen wies sie die Widersprüche mit Widerspruchsbescheiden vom 07.08.2020, zugestellt am 12.08.2020, zurück.

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Daraufhin haben die Kläger am 14.09.2020, einem Montag, Klage erhoben, zu deren Begründung sie geltend machen, die Ausbaubeiträge seien verjährt, da die sachliche Beitragspflicht spätestens im Mai 2001 entstanden und daher mit Ablauf des Jahres 2005 verjährt sei. Es habe sich bei der ausgebauten Einrichtung auch vor der Widmung im Jahr 2014 bereits um eine öffentliche Straße gehandelt, da sie bereits vor Inkrafttreten des Straßen- und Wegegesetzes vorhanden gewesen sei und einem nicht unerheblichen öffentlichen Verkehr gedient habe. Sie sei niemals als Privatstraße gekennzeichnet gewesen und von der öffentlichen Hand unterhalten worden. Zudem sei die Erhebung von Ausbaubeiträgen 18 Jahre nach Abschluss der Baumaßnahmen verfassungswidrig, denn sie verstoße gegen das Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit. Für die Entstehung der sachlichen Beitragspflicht sei auf die technische Verwirklichung des Bauprogramms abzustellen. Nach Ablauf der Festsetzungsverjährung stehe die Beitragserhebung in keinem Zusammenhang mehr mit der Verwirklichung des Bauprogramms; eine Inanspruchnahme sei nach 18 Jahren nicht mehr absehbar, sondern erscheine willkürlich. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts müsse die Möglichkeit zur Erhebung von Beiträgen nach für die Beitragspflichtigen erkennbarem Eintritt der tatsächlichen Vorteilslage zeitlich begrenzt werden. Die Vorteilslage sei hier mit der Abnahme am 14.12.2000 entstanden, als die Straße vermutlich für den Verkehr freigegeben worden sei. Eine zeitliche Begrenzung bestehe nicht, denn § 15 Abs. 2 Kommunalabgabengesetz sei vorliegend nicht anwendbar, da er erst am 11.06.2021 in Kraft getreten, zum Zeitpunkt der letzten Behördenhandlung mit Erlass der Widerspruchsbescheide am 07.08.2020 also nicht in Kraft gewesen sei. § 15 Abs. 2 Kommunalabgabengesetz genüge aber auch nicht den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts, da er nicht auf die tatsächliche Vorteilslage abstelle und daher zu unbestimmt sei. Zudem sei die Obergrenze von 20 Jahren zeitlich zu weit, angemessen sei in Anbetracht abgabenrechtlicher Festsetzungsfristen sowie des § 436 BGB ein Zeitraum von zehn Jahren. Es sei unzulässig, wenn, wie hier, die Beitragserhebung immer wieder durch nachzuholende rechtliche Schritte herausgezögert werde.

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Die Kläger beantragen,

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die Bescheide der Beklagten vom 17.12.2018 in Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 07.08.2020 aufzuheben.

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Die Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Sie hält die angefochtenen Bescheide für rechtmäßig. Durch die Einführung von § 15 Abs. 2 Kommunalabgabengesetz mit der Obergrenze für die Beitragserhebung von 20 Jahren nach Eintritt der Vorteilslage sei das Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit gewahrt. Vor Erlass des § 15 Abs. 2 Kommunalabgabengesetz sei auch die Ableitung einer Höchstfrist von 30 Jahren aus einer analogen Anwendung des § 120a Landesverwaltungsgesetz nicht unvertretbar gewesen.

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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die Entscheidung ergeht nach Anhörung der Beteiligten durch Gerichtsbescheid, da die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist (vgl. § 84 Abs. 1 VwGO).

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Die Klage ist zulässig, insbesondere fristgerecht erhoben, aber unbegründet.

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Rechtsgrundlage für die Heranziehung der Kläger ist § 8 Abs. 1 KAG in Verbindung mit den Vorschriften der Satzung der Beklagten über die Erhebung von Beiträgen für die Herstellung, den Ausbau, die Erneuerung und den Umbau von Straßen, Wegen und Plätzen in der Stadt Bad Oldesloe in der zum Zeitpunkt der Entstehung der Beitragspflicht rückwirkend geltenden Fassung vom 29.09.2021 (Straßenbaubeitragssatzung – SBS –). Nach § 8 Abs. 1 KAG sind Beiträge zur Deckung des Aufwandes unter anderem für den Ausbau der notwendigen öffentlichen Einrichtungen von denjenigen Grundstückseigentümer·innen zu erheben, denen hierdurch Vorteile erwachsen. Nach § 1 SBS erhebt die Beklagte zur Deckung des Aufwandes für die Herstellung sowie den Ausbau, die Erneuerung und den Umbau von vorhandenen Ortsstraßen im Sinne des § 242 BauGB, von nach den §§ 127 ff. BauGB erstmalig hergestellten Straßen, Wegen und Plätzen und von nicht zum Anbau bestimmten Straßen, Wegen und Plätzen als öffentliche Einrichtung Beiträge von den Grundstückseigentümer·innen oder an deren Stelle von den zur Nutzung dinglich Berechtigten, denen die Herstellung, der Ausbau und Umbau Vorteile bringt. Beitragspflichtig ist gemäß § 3 SBS, wer im Zeitpunkt der Bekanntgabe des Bescheids Eigentümer·in des Grundstücks oder zur Nutzung des Grundstücks dinglich berechtigt ist. Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit der Satzung bestehen nicht.

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Öffentliche Einrichtung ist hier die  Johannes-Ströh-Straße entlang des Bahnhofs von ihrer südlichen Kreuzung mit der Turmstraße bis zu der nördlichen Kreuzung mit der Turmstraße. Dies ist zwischen den Beteiligten unstreitig und entspricht dem Eindruck aus den vorliegenden Karten und Luftbildern. Die abgerechnete Maßnahme, nämlich die Herstellung neuer Teileinrichtungen und der Ausbau vorhandener Teileinrichtungen der Straße, war notwendig i. S. d. § 8 Abs. 1 KAG und damit beitragspflichtig. Dies wie auch der entstandene beitragsfähige Aufwand von 605.802,44 € und die Einordnung der Johannes-Ströh-Straße als Haupterschließungsstraße sind zwischen den Beteiligten unstreitig, Gründe für Zweifel sind nicht ersichtlich. Auch Bedenken gegen die Festlegung des Abrechnungsgebiets und die Berechnung der Beiträge für die Grundstücke der Kläger bestehen nicht.

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Die Beitragspflicht ist auch entstanden. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Entstehung der sachlichen Beitragspflicht ist in der Regel der Zeitpunkt der Verwirklichung des Bauprogramms und deren Abnahme (vgl. OVG Schleswig, Urteil vom 13.02.2008 – 2 LB 42/07– SchlHA 2008, 323, juris Rn. 32-36). Das Bauprogramm wurde verwirklicht und die Arbeiten am 14.12.2000 von der Beklagten abgenommen. Allerdings konnte zu diesem Zeitpunkt die sachliche Beitragspflicht noch nicht entstehen, weil die Straße mangels Widmung noch keine öffentliche Einrichtung war.

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Die Johannes-Ströh-Straße ist erst im Jahr 2014 dem öffentlichen Verkehr gewidmet worden. Auch ohne ausdrückliche Widmung kann gemäß § 57 Abs. 3 StrWG in bestimmten Fällen angenommen werden, dass eine Straße als gewidmet gilt. Dies wird vermutet, wenn die Straße bereits vor dem Inkrafttreten des Straßen- und Wegegesetzes, also vor dem 01.10.1962, neben ihrer Erschließungsfunktion für die anliegenden Grundstücke einem nicht unerheblichen öffentlichen Verkehr gedient hat. Diese Vermutung wird aber widerlegt, wenn die Straße nicht die Eigenschaft einer öffentlichen Straße besaß (§ 57 Abs. 3 Satz 2 Halbsatz 2 StrWG). Dies ist unter anderem dann der Fall, wenn die Straße nicht in der Unterhaltslast des Straßenbauträgers stand (vgl. Hoefer, in: Wilke/Gröller, Straßen- und Wegegesetz des Landes Schleswig-Holstein: Kommentar, Stand: März 2020, § 57 StrWG, Rn. 10). Die Flächen, auf denen heute die  Johannes-Ströh-Straße verläuft, befanden sich bis Dezember 1998 bzw. (das Flurstück 62/37) bis Dezember 2009, als die Beklagte sie entsprechend ihres Bauprogramms von der xxx erwarb, im Eigentum der Bundesrepublik Deutschland (Bundeseisenbahnvermögen) und damit nicht in der Unterhaltslast des Straßenbauträgers, der Beklagten. Sie dienten zudem Bahnbetriebszwecken.

20

Die Johannes-Ströh-Straße wurde daher erst mit ihrer Widmung vom 26.03.2014 zu einer öffentlichen Einrichtung; zu diesem Zeitpunkt entstand damit auch die sachliche Beitragspflicht (vgl. OVG Schleswig a.a.O. juris Rn. 33).

21

Demzufolge ist entgegen der klägerischen Darstellung die Beitragsfestsetzung auch nicht bereits verjährt. Die Festsetzungsfrist beträgt gemäß § 15 Abs. 1 KAG vier Jahre und beginnt gemäß § 11 Abs. 1 Satz 2 KAG i. V. m. § 170 Abs. 1 AO mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem der Anspruch entstanden ist, vorliegend also, nach Widmung der Straße, mit Ablauf des Jahres 2014. Die Festsetzung mit Bescheiden vom 17.12.2018 liegt daher noch innerhalb der vierjährigen Festsetzungsfrist.

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Die Beitragserhebung ist auch nicht aufgrund des Zeitablaufs von etwa 18 Jahren zwischen dem Abschluss der Baumaßnahmen und der Festsetzung des Beitrags ausgeschlossen. Der schleswig-holsteinische Gesetzgeber hat in § 15 Abs. 2 KAG eine absolute zeitliche Obergrenze für die Erhebung von Ausbaubeiträgen von 20 Jahren ab dem Entstehen der Vorteilslage geregelt. Dieser Zeitraum ist vorliegend noch nicht abgelaufen.

23

Obwohl § 15 Abs. 2 KAG erst am 11.06.2021 in Kraft getreten ist (Art. 5 des Gesetzes zur Änderung kommunalverfassungsrechtlicher Vorschriften und des Kommunalabgabengesetzes vom 25.05.2021, GVOBl. vom 10.06.2021, S. 566), findet die Norm im vorliegenden Verfahren Anwendung. Dies ergibt sich aus allgemeinen prozessrechtlichen Grundsätzen und dem Wortlaut sowie Sinn und Zweck der gesetzlichen Neuregelung. Dem steht auch nicht entgegen, dass der Gesetzgeber bei der Schaffung des § 15 Abs. 2 KAG (im Gegensatz zu anderen mit demselben Gesetz eingeführten Änderungen) keine ausdrücklichen Regelungen zur Geltung der Norm für zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes nicht bestandskräftige Beitragsbescheide getroffen hat. Auch das Rückwirkungsverbot steht der Anwendung von § 15 Abs. 2 KAG auf Fälle, in denen die Vorteilslage vor Inkrafttreten der Neuregelung entstanden war, nicht entgegen.

24

Im Ausbaubeitragsrecht ist wie im Erschließungsbeitragsrecht anerkannt, dass ein ursprünglich rechtswidriger Beitragsbescheid durch nachträglich eintretende Rechtsänderungen geheilt werden kann (BVerwG, Urteil vom 27.01.1982 – 8 C 12.81 – juris Rn. 12; Urteil vom 12.05.2016 – 9 C 11.15 – juris Rn. 29). Dies gilt auch dann, wenn eine neue Norm ohne Rückwirkungsanordnung erlassen wird (BVerwG, Urteil vom 25.11.1981 – 8 C 14/81 – BVerwGE 64, 218, juris LS 2, Rn. 19; Urteil vom 27.04.1990 – 8 C 87/88 – juris Rn. 12-14; VGH Mannheim, Urteil vom 11.03.2010 – 2 S 2425/09 – juris Rn. 47-49; Urteil vom 30.07.2021 – 2 S 656/19 – juris Rn. 29-35). Denn die Frage, welches der maßgebliche Zeitpunkt für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts ist, also welche Sach- und Rechtslage zugrundezulegen ist, richtet sich nach dem materiellen Recht (BVerwG, Urteil vom 31.03.2004 – 8 C 5/03 – BVerwGE 120, 246, juris Rn. 35 m. w. N.).

25

Der Wortlaut des § 15 Abs. 2 KAG („Die Festsetzung von Abgabenansprüchen zur Abgeltung von Vorteilen ist ungeachtet ihrer Entstehung oder Verjährung spätestens nach 20 Jahren seit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Vorteilslage eingetreten ist, ausgeschlossen.“) erfasst alle Vorteilslagen unabhängig davon, ob sie vor oder nach seinem Inkrafttreten eingetreten sind. Eine Übergangsvorschrift oder anderweitige Regelung zur Rückwirkung hat der Gesetzgeber für § 15 Abs. 2 KAG, anders als für im selben Änderungsgesetz enthaltene Änderungen der Gemeinde- und Kreisordnung, nicht getroffen (Art. 4 des Gesetzes zur Änderung kommunalverfassungsrechtlicher Vorschriften und des Kommunalabgabengesetzes).

26

§ 15 Abs. 2 KAG zielt darauf ab, „dass nicht unbegrenzt lange Zeit zwischen dem Eintritt der Vorteilslage und der Festsetzung der als Gegenleistung dienenden Abgabe verstreichen kann“ und statuiert zu diesem Zweck eine Ausschlussfrist, die alle unter das Kommunalabgabengesetz fallenden Beiträge, die eine Gegenleistung für besondere Vorteile darstellen, erfasst (LT-Drs. 19/2961, S. 4, 5). Damit soll den Anforderungen der Rechtsprechung hinsichtlich des verfassungsrechtlichen Gebots der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit nachgekommen werden, die insofern ein Gebot einer zeitlichen Begrenzung der Erhebung kommunaler Abgaben fordert. Dieser Zweck kann nur dann erfüllt werden, wenn die Neuregelung nicht nur nach ihrem Inkrafttreten auftretende Fälle, sondern auch bereits davor aufgetretene, aber noch nicht bestandskräftige Fälle erfasst. Auch wenn der Gesetzgeber die zumindest aus Klarstellungsgründen wünschenswerte ausdrückliche Rückwirkungsanordnung weder im Gesetzestext selbst noch in seiner Begründung angesprochen hat, ist in verfassungskonformer Auslegung des § 15 Abs. 2 KAG davon auszugehen, dass er auch solche „Altfälle“ erfasst.

27

Das Fehlen einer zeitlichen Obergrenze für die Möglichkeit der Erhebung von Beiträgen widerspricht nämlich in verfassungswidriger Form dem Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit (vgl. BVerfG, Beschluss vom 03.11.2021 – 1 BvL 1/19 – juris Rn. 61-63, 77). Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts genügt auch eine analoge Anwendung einer 30-jährigen Verjährungsfrist für einen durch anfechtbaren Verwaltungsakt festgesetzten Rechtsanspruch eines öffentlich-rechtlichen Hoheitsträgers diesem Gebot nicht, da der Rückgriff zu unbestimmt ist, um dem Klarheitsinteresse der Beitragspflichtigen Rechnung zu tragen (BVerfG, a. a. O., Rn. 85) und 30 Jahre eine zu lange Zeitdauer darstellen (BVerfG, a.a.O, Rn. 77, 91). Insofern hält die Kammer nicht mehr an ihrer bisherigen Rechtsprechung zu § 120a LVwG (z. B. VG Schleswig, Urteil vom 09.03.2017 – 9 A 122/14 – juris Rn. 31-39) fest.

28

Auch das Rückwirkungsverbot steht einer Anwendung von § 15 Abs. 2 KAG auf Fälle, in denen die Vorteilslage vor Inkrafttreten der Neuregelung entstanden war, nicht entgegen. Eine „echte“ Rückwirkung von belastenden Gesetzen im Sinne einer rückwirkenden Bewirkung von Rechtsfolgen, durch die also nachträglich in einen abgeschlossenen Sachverhalt eingegriffen wird, ist grundsätzlich unzulässig (BVerfG, Beschluss vom 17.12.2013 – 1 BvL 5/08 – BVerfGE 135, 1, juris Rn. 40-41 m. w. N.). Ob eine solche echte Rückwirkung hier trotz der fehlenden Bestandskraft des Beitragsbescheides vorliegt, kann offen bleiben, denn jedenfalls handelt es sich bei § 15 Abs. 2 KAG um eine die Beitragspflichtigen allein begünstigende Regelung, da damit eine absolute zeitliche Obergrenze von 20 Jahren für die Beitragserhebung geschaffen und somit die Beitragspflicht nur eingeschränkt und nicht ausgeweitet wird (vgl. OVG Lüneburg, Urteil vom 30.09.2020 – 9 LC 110/18 – juris Rn. 88).

29

Die Obergrenze von 20 Jahren ist auch in ihrer Höhe nicht zu beanstanden. Dem Gesetzgeber steht hier ein weiter Gestaltungsspielraum zu, um einen angemessenen Ausgleich zwischen dem berechtigten Interesse der Allgemeinheit an einem Ausgleich des Vorteils und dem Interesse der Einzelnen an Rechtssicherheit zu finden (BVerfG, Beschluss vom 03.11.2021 – 1 BvL 1/19 – juris Rn. 91). Die Entscheidung des schleswig-holsteinischen Landesgesetzgebers für eine Ausschlussfrist von 20 Jahren bewegt sich innerhalb dieses Spielraums. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist ein Zeitraum von 30 Jahren zu lang (BVerfG, Beschluss vom 03.11.2021 – 1 BvL 1/19 – juris Rn. 77, 91), Zeiträume von 18 und 25 Jahren liegen jedoch innerhalb dieses Spielraums (BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 29.06.2020 – 1 BvR 1866/15 – juris Rn. 8; Nichtannahmebeschluss vom 01.07.2020 – 1 BvR 2838/19 – juris Rn. 34).

30

Dies ist hier auch nicht deswegen anders zu bewerten, weil die Beklagte der klägerischen Darstellung zufolge die Abwicklung des Grundstückskaufvertrages nicht ausreichend beschleunigt und die Widmung wie auch die Beitragserhebung verzögert haben soll. Eine zeitliche Verzögerung, selbst wenn sie durch das Verhalten der Beklagten verursacht sein sollte, was hier offen bleiben kann, ändert nichts an der grundsätzlich bestehenden Beitragspflicht. Der Rechtssicherheit und dem Vertrauensschutz ist durch die allgemeine zeitliche Obergrenze für die Erhebung von Beiträgen genüge getan. Im Übrigen ist dem Antrag der Beklagten auf Freistellung von Bahnbetriebszwecken gemäß § 23 AEG von 2005, der unter anderem die gesamte Fläche der Johannes-Ströh-Straße erfasste, mit Freistellungsbescheid vom 05.09.2006 nur teilweise entsprochen worden. Mit Schreiben vom selben Tage teilte das Eisenbahn-Bundesamt mit, dass unter anderem für Flächen, auf denen Teile der Johannes-Ströh-Straße liegen, die Voraussetzungen für eine Freistellung noch nicht gegeben seien, und stellte einen neuen Bescheid in Aussicht für den Fall der Freistellbarkeit. Erst nach erneutem Antrag vom 29.05.2013 wurden die betroffenen Flächen (Flurstücke 62/37, 11/85 und 430) mit Freistellungsbescheid vom 22.10.2013 freigestellt.

31

Soweit die Kläger geltend machen, der Wortlaut des § 15 Abs. 2 KAG sei nicht bestimmt genug, da nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Formulierung auf das Entstehen der tatsächlichen Vorteilslage zu richten sei, ist dem nicht zu folgen. Der Wortlaut des § 15 Abs. 2 KAG stellt auf den Eintritt der Vorteilslage ab. Dies entspricht selbst in seiner Formulierung dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 03.11.2021 – 1 BvL 1/19 –, in dem mal von „Vorteilslage“ und mal von „tatsächlicher Vorteilslage“ die Rede ist, ohne dass mit der Nutzung des Adjektivs eine Unterscheidung verschiedener Situationen verbunden wäre. In beiden Fällen ist für den Bereich des Erschließungsbeitragsrechts die zulässige tatsächliche Nutzung der Erschließungsanlage gemeint (BVerfG, Beschluss vom 03.11.2021 – 1 BvL 1/19 – juris Rn. 78). Dies ist auf das Ausbaubeitragsrecht und den § 15 Abs. 2 KAG übertragbar, der insofern ebenfalls auf die tatsächliche Nutzbarkeit der Einrichtung abzielt.

32

Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 154 Abs. 1, § 173 VwGO i. V. m. § 100 Abs. 2 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i. V. m. § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.


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