Beschluss vom Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht (11. Kammer) - 11 B 58/22
Tenor
Die Anträge werden abgelehnt.
Die Antragstellerinnen tragen die Kosten des Verfahrens.
Der Wert des Streitgegenstands wird auf 20.000,00 € festgesetzt.
Gründe
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Die Anträge,
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1. die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen die Verfügung der Antragsgegnerin vom 24. März 2022 wiederherzustellen sowie
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2. der Antragsgegnerin im Wege einer einstweiligen Anordnung vorläufig zu untersagen, aufenthaltsbeendende Maßnahmen gegen die Antragsteller zu ergreifen und bereits eingeleitete Maßnahmen gegen die Antragsteller zu ergreifen sowie bereits eingeleitete Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung aufzuheben,
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bleiben ohne Erfolg.
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1. Soweit sich die Antragstellerinnen gegen die Verpflichtung zur Duldung der Durchführung von COVID-19-Testungen in Gestalt eines PCR- beziehungsweise Antigen-Schnelltests (Ziffer 1 des Bescheides vom 24. März 2022) wenden, ist ihr Antrag als Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ihres Widerspruchs gemäß § 80 Abs. 5 Alt. 2 VwGO statthaft und auch sonst zulässig, da die Antragsgegnerin gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO den Sofortvollzug dieser Maßnahme angeordnet hat (vgl. Ziffer 2 des Bescheides vom 24. März 2022). Der Antrag ist jedoch unbegründet.
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Die Begründung der Anordnung der sofortigen Vollziehung genügt den Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO. Die Antragsgegnerin hat das besondere öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung damit begründet, dass in die Koordinierung eines Termins für die geplante Abschiebung viele unterschiedliche Behörden involviert seien, weswegen eine Terminierung auch kurzfristig erfolgen könne. Aufgrund der sich kurzzeitig ändernden Situationen im Zusammenhang mit COVID-19 im Bereich der Rückführungen stehe auch grundsätzlich erst dann fest, ob und in welcher Weise eine Testung erforderlich sei. Damit sei eine ärztliche Untersuchung beziehungsweise eine Testung nur kurzfristig vor der Abschiebung möglich. Die Antragsgegnerin hat damit hinreichend deutlich und einzelfallbezogen zu erkennen gegeben, dass sie sich des Ausnahmecharakters der Anordnung der sofortigen Vollziehung bewusst gewesen ist (vgl. hierzu VG Schleswig, Beschl. v. 17.05.2021 – 1 B 76/21 –, juris S. 3 des Beschlussabdrucks).
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Das öffentliche Interesse an der Vollziehung von Ziffer 1 des Bescheides vom 24. März 2022 überwiegt auch das Aussetzungsinteresse der Antragstellerinnen.
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Die in Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO gebotene Interessenabwägung ist in erster Linie an den Erfolgsaussichten in der Hauptsache auszurichten. Sie fällt regelmäßig zugunsten der Behörde aus, wenn der angefochtene Verwaltungsakt offensichtlich rechtmäßig ist und ein besonderes Interesse an seiner sofortigen Vollziehung besteht oder der Sofortvollzug gesetzlich angeordnet ist. Dagegen ist dem Aussetzungsantrag stattzugeben, wenn der Verwaltungsakt offensichtlich rechtswidrig ist, da an der sofortigen Vollziehung eines solchen Verwaltungsakts kein öffentliches Interesse bestehen kann. Lässt die im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO gebotene summarische Prüfung der Sach- und Rechtslage eine abschließende Beurteilung der Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts nicht zu, so hat das Gericht eine eigenständige, von den Erfolgsaussichten unabhängige Abwägung der widerstreitenden Interessen vorzunehmen (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 02.03.2016 – 1 B 1375/15 –, juris Rn. 9; OVG Schleswig, Beschluss vom 06.08.1991 – 4 M 109/91 –, SchlHA 1991, 220).
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Die die in Ziffer 1. des Bescheides vom 24. März 2022 verfügte Anordnung zur Duldung einer ärztlichen Untersuchung in Gestalt einer Testung auf eine Infektion mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 – im Wege der Entnahme eines Mund- und Nasenabstrichs – erweist sich nach summarischer Prüfung als offensichtlich rechtmäßig.
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Die Anordnung zur Duldung dieser Maßnahme findet ihre rechtliche Grundlage in § 82 Abs. 4 Satz 1 AufenthG. Danach kann, soweit es – wie im vorliegenden Fall – zur Vorbereitung und Durchführung von Maßnahmen nach „diesem Gesetz“ und nach ausländerrechtlichen Bestimmungen in anderen Gesetzen erforderlich ist, angeordnet werden, dass ein Ausländer bei der zuständigen Behörde persönlich erscheint sowie eine ärztliche Untersuchung zur Feststellung der Reisefähigkeit durchgeführt wird.
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Diese Voraussetzungen liegen vor. Die Antragstellerinnen, die keinen Aufenthaltstitel besitzen, sind vollziehbar ausreisepflichtig. Die Aussetzung der Abschiebung ist durch Bescheid vom 4. April 2022 widerrufen worden. Bei der geplanten Aufenthaltsbeendigung durch Abschiebung der Antragstellerinnen nach Armenien handelt es sich um eine Maßnahme nach dem Aufenthaltsgesetz. Dass die Veranlassung einer ärztlichen Untersuchung zur Feststellung der Reisefähigkeit eine konkrete Maßnahme zur Aufenthaltsbeendigung sein kann, hat der Gesetzgeber mit der Aufnahme einer solchen Untersuchung in § 60c Abs. 2 Nr. 5 Buchst. a) AufenthG ausdrücklich klargestellt. Bei dem maßgeblichen Test auf eine Infektion mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 handelt es sich unzweifelhaft um eine medizinische Untersuchung, die ausweislich des angefochtenen Bescheids (vgl. S. 3 des Bescheidabdrucks) von einer medizinisch geschulten Person oder einem Arzt durch Entnahme eines Abstrichs durchgeführt werden soll. Diese ärztliche Untersuchung dient auch der Feststellung der Reisefähigkeit. Entgegen den Ausführungen der Antragstellerinnen umfasst der weit zu verstehende Begriff der „Reisefähigkeit“ im Sinne des § 82 Abs. 4 Satz 1 AufenthG auch die gesundheitlichen Voraussetzungen, um in das Zielland der geplanten Abschiebung einreisen zu dürfen (vgl. OVG Schleswig, Beschl. v. 17.05.2021 – 4 MB 21/21 –, juris S. 3 des Beschlussabdrucks). Die Reisefähigkeit im Sinne der Vorschrift ist nicht nur dann betroffen, wenn sich die Antragstellerinnen selbst für reiseunfähig halten beziehungsweise der Gesundheitszustand der Reise als solcher entgegensteht. Anhaltspunkte für ein solches Verständnis liefern weder der Wortlaut der Norm noch die Gesetzesbegründung (OVG Schleswig, Beschl. v. 17.05.2021 – 4 MB 21/21 –, juris S. 3 f. des Beschlussabdrucks m.w.N.). Die Überstellung der vollziehbar ausreisepflichtigen Antragstellerinnen nach Armenien erfordert nach den armenischen Einreisebestimmungen das Vorliegen eines negativen PCR-Tests, der nicht älter als 72 Stunden sein darf (vgl. https://www.auswaertiges-amt.de/de/ReiseUndSicherheit/armeniensicherheit/201872, zuletzt abgerufen am 05.04.2022). Aus diesem Grund ist die Untersuchung der Antragstellerinnen zur Feststellung der Reisefähigkeit im Sinne des § 82 Abs. 4 Satz 1 AufenthG erforderlich.
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Die Regelung in Ziffer 1 des Bescheides vom 24. März 2022 erweist sich auch als im Sinne des § 108 Abs. 1 LVwG hinreichend bestimmt. Das Gebot der hinreichenden inhaltlichen Bestimmtheit erfordert zum einen, dass der Adressat das von ihm geforderte Verhalten erkennen kann, und zum anderen muss der Verwaltungsakt taugliche Grundlage der Verwaltungsvollstreckung sein können (vgl. BVerwG, Urt. v. 12.12.1996 – 4 C 17.95 –, juris Rn. 31). Die hinreichende inhaltliche Bestimmtheit setzt daher voraus, dass insbesondere für den Adressaten des Verwaltungsakts die von der Behörde getroffene Regelung so vollständig, klar und unzweideutig erkennbar ist, dass er sein Verhalten danach richten kann. Die angegriffene Verfügung genügt diesen Maßgaben. Dem steht insbesondere nicht der Umstand entgegen, dass die Antragsgegnerin in der Verfügungsziffer 1 nicht näher präzisiert hat, ob die in Aussicht genommene Testung der Antragstellerinnen in Gestalt eines PCR- oder eines Antigen-Schnelltests erfolgen wird. Bereits aus der Zusammenschau mit den weiteren Ausführungen des Bescheides, in welchem die Antragsgegnerin darauf verweist, dass im Falle der Abschiebung nach Armenien aktuell ein PCR-Test erforderlich sei, dürfte sich eine hinreichend erkennbare Konkretisierung ergeben. Im Übrigen ist jedenfalls allein maßgeblich, dass für die Antragstellerinnen hinreichend erkennbar ist, dass von ihnen die Duldung der Durchführung eines Tests auf eine Infektion mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 samt der Abnahme eines Mund- und Nasenabstrichs gefordert wird. Dies ermöglicht es den Antragstellerinnen, sich entsprechend zu verhalten, ohne dass es darauf ankäme, ob der genommene Abstrich anschließend für einen PCR-Test oder für einen Antigen-Schnelltest verwendet wird. Die Verfügung ist auch im Übrigen hinreichend bestimmt. Hinsichtlich der zeitlichen Konkretisierung der Duldungsverpflichtung erweist sich die Verfügung noch als hinreichend bestimmt, da die Verpflichtung zur Duldung der Testung ausweislich der Verfügungsziffer 1 und der Begründung des Bescheides im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit dem Beginn der Abschiebungsmaßnahme „wirksam“ werden soll, über welche die Antragstellerinnen entsprechend in Kenntnis gesetzt werden. Es handelt sich demzufolge nicht um eine bloße Verfügung „auf Vorrat“, ohne jeglichen zeitlichen Bezugspunkt. Für die Antragstellerinnen ist hinreichend erkennbar, dass sie mit der Mittelung über den Beginn der Abschiebung und der in diesem zeitlichen Zusammenhang stattfindenden ärztlichen Untersuchung die Testung zu dulden haben. Insoweit ist auch zu berücksichtigen, dass die Durchführung der Abschiebung konkret für den 7. April 2022 geplant ist.
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Eine fehlerhafte Ermessensausübung ist hinsichtlich der Ziffer 1 des angegriffenen Bescheides weder substantiiert vorgetragen noch sonst ersichtlich. Die Testung ist insbesondere zur Erreichung des Ziels der Antragsgegnerin, die Antragstellerinnen nach Armenien abschieben zu können, geeignet. Sie ist auch erforderlich, weil durch sie die notwendigen gesundheitlichen Voraussetzungen der Abschiebung geklärt werden können. Das verfolgte Ziel steht zu dem durch die ärztliche Untersuchung bezweckten Erfolg auch nicht außer Verhältnis. Die Entnahme von Körpersekret stellt zwar einen (geringen) Eingriff in die körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 GG dar. Dieser ist jedoch einerseits angesichts der potentiellen Gesundheitsgefahren, die eine Ansteckung mit SARS-CoV-2 für Dritte mit sich brächte, sowie andererseits im Hinblick auf das erhebliche öffentliche Interesse an der Beendigung des Aufenthalts der Antragstellerinnen gerechtfertigt. Zugleich sind besondere Risiken durch die geplante Entnahme von Sekret aus Rachen- oder Nasenraum nicht zu besorgen (vgl. entsprechend bereits VG Schleswig, Beschl. v. 17.05.2021 – 1 B 76/21 –, juris S. 4 des Beschlussabdrucks; OVG Schleswig, Beschl. v. 31.01.2022 – 3 MB 1/22 –, juris Rn. 29).
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Dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung des nach summarischer Prüfung rechtmäßigen Bescheides kommt der Vorrang gegenüber dem Interesse der Antragstellerinnen zu, vorerst von der Vollziehung verschont zu bleiben. Hätte ein Rechtsmittel gegen die angeordnete Durchführung eines SARS-CoV-2-Tests Erfolg, könnten die Antragstellerinnen nicht nach Armenien abgeschoben werden. Die Abwägung der gegenläufigen Interessen der Beteiligten führt vorliegend dazu, dass das hohe öffentliche Interesse an der Beendigung des Aufenthalts der Antragstellerinnen ihr Interesse überwiegt, vor der Ausreise keinen SARS-CoV-2-Test durchzuführen.
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Soweit die Antragstellerinnen die Anordnung der aufschiebenden Wirkung hinsichtlich der in Ziffer 3 des angefochtenen Bescheides angedrohten Entnahme des Abstrichs im Wege des unmittelbaren Zwangs beantragen, hat ihr zulässiger Antrag ebenfalls keinen Erfolg. Ihre Rechtsgrundlage findet die Androhung in den § 228, § 229 Abs. 1 Nr. 2, § 235 Abs. 1 Nr. 3, § 236, § 239 LVwG. Rechtsmittel gegen den zu vollziehenden Verwaltungsakt (Ziffer 1 des Bescheides vom 24. März 2022) haben keine aufschiebende Wirkung. Eine Frist zur Erfüllung der Duldungsverfügung war nach § 236 Abs. 2 Satz 2 LVwG nicht zu bestimmen. Die Antragsgegnerin hat die Androhung des Zwangsmittels im Sinne des § 236 Abs. 4 Satz 1 LVwG ausdrücklich auf das Zwangsmittel des unmittelbaren Zwangs bezogen. Die Androhung des unmittelbaren Zwangs steht auch in einem angemessenen Verhältnis zum Zweck, eine Überprüfung der Reisefähigkeit zum Zwecke der Abschiebung zu ermöglichen. Dass es zur Entnahme eines Abstichs aus dem Mund- und Nasenraum notwendig sein könnte, dass Dienstkräfte der Polizei oder der Justiz die Antragstellerinnen vor oder während der Untersuchung festhalten müssen, führt nicht zu einer Unverhältnismäßigkeit, da dieser Eingriff in die Rechte der Antragstellerinnen kurzzeitig ist und das mildeste Mittel zur Feststellung der Reisefähigkeit darstellt (vgl. OVG Schleswig, Beschl. vom 17.05.2021 – 4 MB 21/21 –, juris S. 5 des Beschlussabdrucks). Ob nach § 82 Abs. 4 Satz 3 AufenthG i.V.m. § 40 des Bundespolizeigesetzes (BPolG) vor der Untersuchung eine richterliche Entscheidung erforderlich ist, bedarf hier keiner Entscheidung, da die Rechtmäßigkeit der Androhung und Festsetzung unmittelbaren Zwanges davon unabhängig zu beurteilen ist. Allerdings ist hier zu beachten, dass eine richterliche Entscheidung nach § 40 Abs. 1 BPolG dann unterbleiben kann, wenn die Herbeiführung der richterlichen Entscheidung voraussichtlich längere Zeit in Anspruch nehmen würde, als zur Durchführung der Maßnahme notwendig wäre, was bei einem kurzfristigen Festhalten zum Zwecke der Entnahme eines Abstrichs anzunehmen sein dürfte (VG Schleswig, Beschl. v. 17.05.2021 – 1 B 76/21 –, juris S. 5 des Beschlussabdrucks).
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2. Der Antrag zu 2. ist als Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO statthaft und auch sonst zulässig, aber unbegründet.
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Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung des Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. § 123 Abs. 1 VwGO setzt daher sowohl ein Bedürfnis für die Inanspruchnahme vorläufigen Rechtsschutzes (Anordnungsgrund) als auch einen sicherungsfähigen Anspruch (Anordnungsanspruch) voraus. Die tatsächlichen Voraussetzungen für die besondere Eilbedürftigkeit (Anordnungsgrund) und das Bestehen eines zu sichernden Rechts (Anordnungsanspruch) sind glaubhaft zu machen, § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO.
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Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Die Antragstellerinnen haben keinen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht.
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Die Voraussetzungen der einzig in Betracht kommenden Anspruchsgrundlage nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG sind nicht gegeben. Danach ist die Abschiebung eines Ausländers auszusetzen, solange die Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist und keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird. Rechtlich unmöglich ist die Abschiebung, wenn sich aus nationalen Gesetzen, einschließlich Verfassungsrecht, Unionsrecht oder Völkergewohnheitsrecht ein zwingendes Abschiebungsverbot ergibt (Haedicke, in: HTK-AuslR / § 60a AufenthG / zu Abs. 2 Satz 1 - rechtl. Unmöglichkeit, Stand: 08.10.2020, Rn. 1).
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Bei der Beurteilung der rechtlichen und tatsächlichen Gründe sind im Rahmen des Verfahrens gegen die Ausländerbehörde zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse außer Acht zu lassen. Gemäß § 42 Satz 1 AsylG ist die Ausländerbehörde an die Entscheidung des Bundesamtes über das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG gebunden. Insoweit ist durch das Bundesamt im Asylverfahren festgestellt worden, dass keine Abschiebungsverbote vorliegen. Es kommt daher vorliegend nicht darauf an, ob eine medizinische Behandlung der Erkrankung der Antragstellerin zu 2. im Zielstaat möglich und für diese zugänglich ist; hierbei handelt es sich ausschließlich um von der Antragsgegnerin nicht zu prüfende zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote.
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Der Abschiebung der Antragstellerinnen steht auch nicht das Erfordernis einer Abschiebungsankündigung gemäß § 60a Abs. 5 Satz 4 AufenthG entgegen. Nach dieser Vorschrift ist einem Ausländer, der länger als ein Jahr geduldet war, die für den Fall der durch Widerruf vorgesehenen Abschiebung mindestens einen Monat vorher anzukündigen. Diese Frist nach § 60a Abs. 5 Satz 4 AufenthG stellt ausschließlich eine Sperrfrist für den Vollzug der Abschiebung dar (vgl. Haedicke, in: HTK-AuslR / § 60a AufenthG / zu Abs. 5, Rn. 37). Die Ankündigung der Abschiebung eines länger als ein Jahr geduldeten Ausländers beruht auf der besonderen Situation, die aufgrund der längere Zeit andauernden Nichtvollziehung der Ausreisepflicht geschaffen wird. Der Vollzug soll in derartigen Fällen nicht überraschend erfolgen. Dem Ausländer soll die Möglichkeit gegeben werden, sich rechtzeitig auf die Aufenthaltsbeendigung einzustellen und seine persönlichen Angelegenheiten zu ordnen (vgl. OVG für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 06.09.2005 – 18 B 1493/05 –, juris Rn. 10 ff.). Insoweit kommt der Ankündigung auch rechtsschutzwahrende Wirkung zu (vgl. Masuch/Gordzielik in Huber, Aufenthaltsgesetz, 2. Aufl. 2016, § 60a Rn. 39).
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Ob eine solche Abschiebungsankündigung wegen des durch Bescheid vom 04.04.2022 erfolgten Widerrufs der Duldung der Antragstellerinnen vorliegend erforderlich war, kann dahinstehen, da die Antragsgegnerin die vorgesehene Abschiebung jedenfalls rechtzeitig angekündigt hat. Es bestehen bereits Anhaltspunkte dafür, dass den Antragstellerinnen im Rahmen eines Gesprächstermins bei der Antragsgegnerin am 23. September 2021 über die Bereitschaft zur freiwilligen Ausreise und die Modalitäten einer Abschiebung die Abschiebung angekündigt worden ist. Hierfür spricht auch das an die Antragsgegnerin gerichtete Schreiben des Herrn S. vom 6. Dezember 2021, der an dem vorgenannten Gespräch als Vertrauter der Antragstellerinnen teilgenommen hat. Dieser verweist in dem Schreiben nämlich darauf, dass in dem Gespräch deutlich gemacht worden sei, dass „die jetzige Duldung eine Abschiebung zur Folge haben wird, wenn beide nicht freiwillig Deutschland verlassen werden“. Jedenfalls hat die Antragsgegnerin dem Prozessbevollmächtigten der Antragstellerinnen mit Schreiben vom 1. Februar 2022 – und somit mehr als einen Monat vor der beabsichtigten Abschiebung – ausdrücklich mitgeteilt, dass zum derzeitigen Zeitpunkt ein Amtshilfeersuchen an das Landesamt für Zuwanderung und Flüchtlinge gestellt werde, um die Aufenthaltsbeendigung voranzutreiben. Der vorgesehene Vollzug der Ausreisepflicht erfolgt vor diesem Hintergrund weder überraschend noch hätten die Antragstellerinnen keine Gelegenheit gehabt, ihre persönlichen Angelegenheiten zu ordnen.
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Eine rechtliche Unmöglichkeit der Abschiebung ergibt sich weiterhin nicht aus einer etwaigen Reiseunfähigkeit der Antragstellerinnen. Ein inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis wegen rechtlicher Unmöglichkeit der Abschiebung gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG kann gegeben sein, wenn und solange der Ausländer wegen Erkrankung transportunfähig ist, das heißt sich der Gesundheitszustand durch und während des eigentlichen Vorgangs des „Reisens“ wesentlich verschlechtert oder eine Lebens- oder Gesundheitsgefahr transportbedingt erstmals entsteht und die Gefahr nicht durch bestimmte Vorkehrungen ausgeschlossen oder gemindert werden kann (Reiseunfähigkeit im engeren Sinn). Eine Abschiebung muss auch unterbleiben, wenn sie – außerhalb des eigentlichen Transportvorgangs – eine erhebliche konkrete Gesundheitsgefahr bedeutet. Dies ist der Fall, wenn das ernsthafte Risiko besteht, dass unmittelbar durch die Abschiebung als solche (unabhängig vom Zielstaat) sich der Gesundheitszustand des Ausländers wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtert (Reiseunfähigkeit im weiteren Sinne) (Kluth/Breidenbach, in: Kluth/Heusch, BeckOK AuslR, 31. Ed. 1.10.2021, AufenthG § 60a Rn. 12 f.).
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Gemäß § 60a Abs. 2c Satz 1 AufenthG wird gesetzlich vermutet, dass der Abschiebung gesundheitliche Gründe nicht entgegenstehen. Der Ausländer muss eine Erkrankung, die die Abschiebung beeinträchtigen kann, durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung glaubhaft machen, § 60a Abs. 2c Satz 2 AufenthG. Diese ärztliche Bescheinigung soll insbesondere die tatsächlichen Umstände, auf deren Grundlage eine fachliche Beurteilung erfolgt ist, die Methode der Tatsachenerhebung, die fachlich-medizinische Beurteilung des Krankheitsbildes (Diagnose), den Schweregrad der Erkrankung, den lateinischen Namen oder die Klassifizierung der Erkrankung nach ICD 10 sowie die Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben, enthalten, § 60a Abs. 2c Satz 3 AufenthG.
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Die Antragstellerinnen haben die gesetzliche Vermutung nicht widerlegt, sie haben hierzu im Rahmen des vorliegenden einstweiligen Rechtsschutzverfahrens auch nicht weiter vorgetragen. Zwar war der gesundheitliche Zustand der Antragstellerin zu 2. Gegenstand des Verfahrens beim Bundesamt und des Verfahrens bei der Antragsgegnerin. Aus den in der Verwaltungsakte befindlichen ärztlichen Unterlagen und Stellungnahmen lässt sich eine derzeitige Reiseunfähigkeit der Antragstellerin zu 2. gleichwohl nicht entnehmen. Ausweislich der ärztlichen Bescheinigung des Facharztes für Kinder- und Jugendmedizin Dr. G. vom 20. August 2021 ist etwa weder eine ärztliche (Reise-)Begleitung der Antragstellerin zu 2. noch ein unmittelbarer Empfang durch medizinische Fachkräfte im Zielland erforderlich. Die Antragstellerinnen haben im Rahmen des vorliegenden einstweiligen Rechtsschutzverfahrens weder vorgetragen noch glaubhaft gemacht, dass sich ihre gesundheitliche Situation derart maßgeblich geändert hätte, dass nunmehr von einer Reiseunfähigkeit auszugehen wäre. Soweit die ärztlichen Atteste eine etwaig weitergehende Versorgung der Antragstellerin zu 2. im Zielland betreffen, ist dies – im Sinne der vorstehenden Ausführungen – in dem vorliegenden Verfahren nicht berücksichtigungsfähig.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
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Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 52 Abs. 2, § 53 Abs. 2 Nr. 1 und 2 GKG, wobei die Kammer für die streitgegenständlichen Anträge zu 1. und 2. und in Bezug auf beide Antragstellerinnen jeweils den Auffangwert in Höhe von 5.000,00 € in Ansatz gebracht hat.
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