Beschluss vom Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht (4. Kammer) - 4 B 13/22

Tenor

Der Antragsgegnerin wird aufgegeben, die Vollstreckung gegen den Antragsteller aus dem Schmutzwassergebührenbescheid vom 7. September 2016 bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache vorläufig einzustellen.

Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.

Die Kosten des Verfahrens tragen der Antragsteller und die Antragsgegnerin je zur Hälfte.

Der Streitwert wird auf ... € festgesetzt.

Gründe

I.

1

Der Antragsteller wendet sich im Wege des vorläufigen Rechtsschutzverfahrens gegen die Heranziehung zu Schmutzwassergebühren.

2

Bis zum Inkrafttreten ihrer Satzung über die Erhebung von Gebühren für die Abwasserbeseitigung vom 29. September 2021 am 1. Januar 2022 erhob die Antragsgegnerin auf der Grundlage der Satzung über die Erhebung von Gebühren für die Benutzung ihrer Abwasseranlagen (Gebührensatzung) vom 18. Dezember 2001, zuletzt geändert durch die vierte Nachtragssatzung vom 21. August 2018, Gebühren unter anderem für Schmutzwasser.

3

Mit Schreiben vom 21. Juni 2016 wandte sich die ... AG hinsichtlich der Verbrauchsstelle .... in der ... im Stadtgebiet der Antragsgegnerin an den Antragssteller und bat ihn um Mitteilung des aktuellen Eigentümers. Bis zum 15. Mai 2016 sei er selbst dort als Mieter angemeldet gewesen. Ein neuer Verbraucher habe sich bislang nicht gemeldet. Sollte kein neues Mietverhältnis bestehen, würde sie die Verbrauchsstelle für die Zeit, in der kein Mietverhältnis besteht, automatisch auf den Eigentümer der Wohnung anmelden.

4

Unter dem 7. September 2016 erteilte die ... AG dem Antragsteller unter seiner Anschrift in ... ihre Schlussrechnung über den Verbrauch und die Kosten vom 22. September 2015 bis zum 30. Juni 2016 für jeweils ... m³ Wasser und Abwasser in Höhe von ... € bzw. ... €. Abzüglich getätigter Zahlungen und sonstiger Guthaben ergebe sich eine bis zum 22. September 2016 zu begleichende Forderung in Höhe von ... €.

5

Die Antragsgegnerin erteilte dem Antragsteller unter dem 7. September 2016 zugleich einen Schmutzwassergebührenbescheid über den Erhebungszeitraum vom 22. September 2015 bis zum 30. Juni 2016 und setzte eine Gebühr in Höhe von ... € fest. Abzüglich der geleisteten Vorauszahlungen in Höhe von ... € ergebe sich eine Forderung in Höhe von ... €.

6

Mit Schreiben vom 28. September 2016 erinnerte die ... AG den Antragsteller an die offene Forderung in Höhe von  ... €. Zuzüglich Mahnkosten in Höhe von ... € belaufe sich die bis zum 10. Oktober 2016 zu begleichende Forderung nunmehr auf ... €.

7

Mit Mahnung vom 14. Oktober 2016 forderte die .. AG den Antragsteller erneut zum Ausgleich der offenen Forderung zuzüglich weiterer .. € Mahnkosten, insgesamt ...   €, bis zum 28. Oktober 2016 auf.

8

Mit Schreiben vom 28. Mai 2021 mahnte die Antragsgegnerin die Zahlung der nach dem Schmutzwassergebührenbescheid vom 7. September 2016 offenen Forderung in Höhe von ... € an und setzte Säumniszuschläge für den Zeitraum vom 23. September 2016 bis zum 28. Mai 2021 in Höhe von ... € sowie eine Mahngebühr in Höhe von ... € fest. Der sich hieraus ergebende Betrag in Höhe von ... € sei innerhalb einer Woche nach Erhalt des Schreibens zu zahlen. Andernfalls müsse die Zwangsvollstreckung angeordnet werden.

9

Der Antragsteller widersprach dieser Mahnung per E-Mail vom 15. Juni 2021 und verwies darauf, dass er das betreffende Objekt im Mai 2016 an die ..., eine Tochter der ..., veräußert und zum 30. Juni 2016 übergeben habe. In dem entsprechenden Notarvertrag sei bestimmt worden, dass die ... für die Betriebskostenabrechnung des kompletten Jahres 2016 verantwortlich sei. Die Betriebskostenvorauszahlungen der Mieter für den Zeitraum vom 1. Januar bis zum 30. Juni 2016 habe er gemäß dem Notarvertrag an die ... zahlen müssen, damit diese das komplette Jahr 2016 mit den Mietern habe abrechnen können.

10

Mit Schreiben vom 18. Juni 2021 bestätigte die Antragsgegnerin den Eingang der E-Mail vom 15. Juni 2021 und legte diesen als Widerspruch gegen den Schmutzwassergebührenbescheid vom 7. September 2016 aus. Dieser Bescheid sei jedoch „rechtskräftig“, weil der Antragsteller die sich aus der Rechtsbehelfsbelehrung ergebende Widerspruchsfrist versäumt habe.

11

Per E-Mail vom 6. Juli 2021 übermittelte der Antragsteller der Antragsgegnerin nach telefonischer Absprache eine E-Mail der  ... vom 14. Februar 2020, in der im Namen und im Auftrag der Eigentümerin, der ..., bestätigt wurde, dass sie „die Nebenkostenabrechnungen für den Zeitraum vom 01.01.2016-31.12.2016 und vom 01.01.2017-31.12.2017 ordnungsgemäß erstellt und mit den Mietern im jeweiligen Zeitraum abgerechnet“ habe.

12

Mit Schreiben seines Verfahrensbevollmächtigten vom 30. August 2021 wies der Antragsteller die Forderung dem Grund und der Höhe nach als unbegründet zurück. Er habe das streitbefangene Grundstück per 26. Mai 2016 verkauft und dabei notariell einen Nutzen/Lasten-Übergang per 1. Januar 2016 vereinbart. Er habe die Abschläge auf die Nebenkosten seinerzeit an den Käufer ausgekehrt, weshalb sogar denkbar sei, dass die vermeintliche Forderung längst durch den Käufer beglichen worden sei und insoweit ein Buchungsfehler auf Seiten der Antragsgegnerin vorliege. Der Geschäftsführer der derzeitigen Verwalterin der Immobilie, der ..., habe schriftlich versichert, dass die Abrechnung für den streitbefangenen Zeitraum ordnungsgemäß durchgeführt worden sei. Somit könne gegen ihn keine Forderung bestehen. Im Übrigen sei diese verjährt. Ferner bestreite er den Zugang des Gebührenbescheides. Insoweit trage die Antragsgegnerin die Beweislast. Er habe erstmalig durch die Mahnung vom 28. Mai 2021 von der Forderung Kenntnis erlangt und dagegen mit Schreiben vom 15. Juni 2021 „Widerspruch“ eingelegt. Der Antragsteller forderte die Antragsgegnerin auf, ihm bis zum 2. September 2021 zu bestätigen, dass die streitige Forderung nicht vollstreckt werde.

13

Die Antragsgegnerin setzte daraufhin die Vollstreckung zunächst bis zum 31. Dezember 2021 aus. Auf Anfrage der Antragsgegnerin teilte ihr die ... per E-Mail vom 22. Dezember 2021 mit, dass der Antragsteller im November 2016 Rechnungskopien im Hinblick auf eine Reklamation des Gasverbrauchs angefordert habe. Daraufhin sei im Januar 2017 die Zahlung für das Wasser erfolgt, nicht jedoch für das Abwasser.

14

Nach zwischenzeitlicher Verlängerung der Aussetzung verwies die Antragsgegnerin mit Schreiben vom 6. April 2022 darauf, dass es sich bei den Schmutzwassergebühren um eine öffentlich-rechtliche Forderung handele, die auf der Grundlage ihrer Gebührensatzung erhoben werde. Abgabeschuldner sei unter anderem der Eigentümer des Grundstücks. Träten Änderungen in Kraft, seien diese entsprechend anzuzeigen. Mit der Berechnung und Ausfertigung der Gebührenbescheide sowie der Abwicklung der Zahlungen sei die ... beauftragt worden. Der Antragsteller habe als Abgabepflichtiger den Schmutzwassergebührenbescheid zusammen mit den Jahresrechnungen der ...  für das Frisch- und Abwasser erhalten. Der der Schlussrechnung der ... vom 7. September 2016 beigefügte Schmutzwassergebührenbescheid vom selben Tag sei an seine noch heute gültige Wohnanschrift versandt worden. Ferner habe er mit Schreiben vom 28. September 2016 und vom 14. Oktober 2016 unter derselben Anschrift Mahnungen erhalten. Es sei sehr unwahrscheinlich, dass gerade der Gebührenbescheid nicht angekommen sein solle. Spätestens nach dem Erhalt der Mahnungen hätte er Anlass gehabt, den Sachverhalt aufzuklären. Zudem habe der Antragsteller nach Auskunft der  ... die sich aus der Schlussrechnung vom 7. September 2016 ergebende Forderung für das Frischwasser beglichen und auch den Erhalt der Mahnung vom 28. Mai 2021 bestätigt, ohne den Zugang des Schmutzwasserbescheides zu bestreiten. Mit der jetzt erhobenen Behauptung, dass ihm der Bescheid tatsächlich nicht zugegangen sei, verhalte sich der Antragsteller widersprüchlich, sodass die Behauptung widerlegt sei. Ein Widerspruch gegen den Schmutzwassergebührenbescheid sei nicht eingereicht worden. Die privatrechtlichen Regelungen aus einem Kaufvertrag hinsichtlich der Nebenkostenabrechnungen mit Mietern seien für die Entrichtung der öffentlich-rechtlichen Schmutzwassergebührenforderungen nicht von Belang. Sie forderte den Antragsteller deshalb zur Begleichung der Forderung in Höhe von insgesamt ... € (Haupt- und Nebenforderungen gemäß Vollstreckungsankündigung) bis zum 30. April 2022 auf. Andernfalls werde die Forderung im Vollstreckungsverfahren beigetrieben.

15

Der Antragsteller hat am 25. April 2022 um einstweiligen Rechtsschutz nachgesucht.

16

Zur Begründung wiederholt er im Wesentlichen sein Vorbringen im Verwaltungsverfahren. Er hält der Antragsgegnerin vor, dem von ihm vermuteten Buchungsfehler nicht einmal nachgegangen zu sein, und verweist ergänzend auf ein Schreiben des Geschäftsführers der ...  vom 31. Juli 2020, in dem dieser die ordnungsgemäße Abrechnung der Betriebskosten für den streitbefangenen Zeitraum gegenüber den Mietern bestätigt habe. Er weist außerdem darauf hin, dass er der ... seinerzeit eine Lastschrifteinzugsgenehmigung für sein Hausverwalterkonto erteilt habe, welches er erst 2018 aufgelöst habe. Wenn 2016 eine Abrechnung existiert hätte, hätte der offene Betrag von der  ... eingezogen werden können.

17

Der Antragsteller beantragt wörtlich,

18

die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs vom gegen den ihm durch die Mahnung vom 28.05.2021 bekanntgewordenen Bescheid vom ( ..., Schmutzwassergebührenbescheid 22.9.2015 bis 30.6.2016/siehe ... Schlussrechnung  ... vom 07.09.2016, KN: ..., Beleg: ARB ... nebst Säumniszuschlägen und Mahngebühren über ... € vom 22.09.2015, anzuordnen.

19

hilfsweise,

20

die Aussetzung der Zwangsvollstreckung aus der Mahnung vom 28.05.2021, die auf den nicht bekanntgegebenen Bescheid vom (AZ: ..., Schmutzwassergebührenbescheid 22.9.2015 bis 30.6.2016/siehe ... Schlussrechnung ... vom 07.09.2016, KN: ..., Beleg: ARB ... nebst Säumniszuschlägen und Mahngebühren über ... € vom 22.09.2015, Bezug nimmt, anzuordnen.

21

Die Antragsgegnerin beantragt,

22

den Antrag abzulehnen.

23

Sie wiederholt ihre Ausführungen in dem Schreiben vom 6. April 2022. Da die Gebührenbescheide ausnahmslos mit der Frischwasserabrechnung der ... in einem Briefumschlag versandt würden, sei es nicht möglich, dass zwar die Abrechnung bei einem Empfänger eingehe, nicht aber der Gebührenbescheid oder umgekehrt. Da der Antragsteller gegen den Gebührenbescheid vom 7. September 2016 keinen fristgemäßen Widerspruch erhoben habe, sei dieser bestandskräftig geworden. Die Behauptung, dass der Antragsteller erstmals mit der Mahnung vom 28. Mai 2021 Kenntnis von der Gebührenforderung erhalten habe, sei als Schutzbehauptung zu bewerten. Da der Antragsteller die nach der Abrechnung der ... offene Forderung für den Frischwasserverbrauch im Januar 2017 beglichen habe, müsse ihm die Tatsache, dass eine Forderung bestehe und in welcher Höhe, bekannt gewesen sein. Zudem seien alle weiteren Schreiben an dieselbe Anschrift adressiert gewesen, ohne dass eines als nicht zustellbar zurückgekommen sei. Ferner habe der Antragsteller bei seiner ersten Kontaktaufnahme mit ihr per E-Mail vom 15. Juni 2021 der Gebührenforderung nur im Hinblick auf die im Jahr 2016 erfolgte Grundstücksveräußerung widersprochen, ohne den Zugang des Bescheides zu bestreiten. Aus dem Auszug des Vertrages sowie den Angaben der derzeitigen Verwalterin der Immobilie ergebe sich, dass sie mit den Mietern die Betriebs- und Nebenkosten abgerechnet habe, aber nicht, dass sie auch die Zahlungen an die Antragsgegnerin übernehmen werde. Da der Antragsteller den Eigentümerwechsel entgegen § 5 Abs. 1 ihrer Satzung nicht angezeigt habe, sei er neben dem neuen Eigentümer Gebührenschuldner geblieben. Dass eine Zahlung durch den Käufer oder sonstige Unternehmen erfolgt sei, werde vom Antragsteller nur behauptet, ohne konkrete Angaben zu machen. Bei ihr würden nur Zahlungen verbucht, die auch einem konkreten Fall zugeordnet werden könnten. Sie könne deshalb ausschließen, dass die in Rede stehende Eingangssumme „übersehen“ worden sei. Nach der internen Dokumentation der ... bestehe auch kein Zweifel daran, dass ihr Gebührenbescheid und die Schlussrechnung der ... gedruckt und gemeinsam an den Antragsteller versandt worden seien.

24

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der von den Beteiligten zur Gerichtsakte gereichten Schriftsätze nebst Anlagen sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge verwiesen.

II.

25

Der Antrag hat in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg.

26

1. Der Hauptantrag ist bei verständiger Würdigung des Antragsbegehrens gemäß § 122 Abs. 1 i.V.m. § 88 VwGO dahingehend auszulegen, dass der Antragsteller die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs gegen den Schmutzwassergebührenbescheid der Antragsgegnerin vom 7. September 2016 beantragt.

27

Dieser Antrag ist unzulässig.

28

Der Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO ist nicht statthaft, weil es hier schon an der Existenz eines belastenden Verwaltungsaktes als Voraussetzung für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines hiergegen erhobenen Widerspruchs fehlt.

29

Nach der im vorläufigen Rechtsschutzverfahren nur möglichen und gebotenen summarischen Prüfung kann nicht festgestellt werden, dass der Schmutzwassergebührenbescheid der Antragsgegnerin vom 7. September 2016 gemäß § 11 Abs. 1 Satz 1 KAG i.V.m. § 112 Abs. 1 Satz 1 LVwG wirksam geworden ist.

30

Nach § 112 Abs. 1 Satz 1 LVwG wird ein Verwaltungsakt gegenüber derjenigen Person, für die er bestimmt ist oder die von ihm betroffen wird, in dem Zeitpunkt wirksam, in dem er ihr bekanntgegeben wird. Da der Verwaltungsakt erst mit der Bekanntgabe formell existent wird, bestimmt sie zugleich den Beginn der Widerspruchsfrist (§ 70 Abs. 1 VwGO) oder – wenn ein Vorverfahren entbehrlich ist – den Beginn der Klagefrist nach § 74 Abs. 1 VwGO (vgl. Müller, in: Huck/Müller, VwVfG, 3. Aufl. 2020, § 41 Rn. 1).

31

Die Behörde kann den ihr obliegenden Nachweis für den Zugang eines Verwaltungsaktes nicht nach den Grundsätzen des ersten Anscheins führen, indem sie die Aufgabe des Briefs zur Post nachweist und es dann Sache des Betroffenen sei, den Anscheinsbeweis zu entkräften. In Fällen, in denen der Adressat eines Bescheids – wie hier – bestreitet, diesen erhalten zu haben, genügt nach der Rechtsprechung des Schleswig-Holsteinischen Oberverwaltungsgerichts regelmäßig schon dieser Umstand, um Zweifel am Zugang im Sinne des § 110 Abs. 2 LVwG zu wecken (vgl. OVG Schleswig, Urteil vom 9. Januar 2020 – 2 LB 2/19 – juris Rn. 25 ff. m.w.N.). Nach Satz 1 dieser Vorschrift gilt ein schriftlicher Verwaltungsakt, der im Inland durch die Post übermittelt wird, am dritten Tage nach der Aufgabe zur Post als bekannt gegeben. Dies gilt nach § 110 Abs. 2 Satz 3 LVwG aber nicht, wenn der Verwaltungsakt nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist; im Zweifel hat die Behörde den Zugang des Verwaltungsaktes und den Zeitpunkt des Zugangs nachzuweisen. Anders als im Fall der Behauptung eines verspäteten Zugangs kann von einem Adressaten, der den Zugang überhaupt bestreitet, keine weitere Substantiierung verlangt werden. Eine solche Substantiierung wäre dem Adressaten zudem auch gar nicht möglich, da er nichts dazu vortragen kann, warum ihn ein Schreiben nicht erreicht hat (sogenannte Unmöglichkeit des Beweises einer Negativtatsache). Wählt die Behörde statt der förmlichen Zustellung die Bekanntgabe des Bescheids durch einfachen Brief, trägt sie im Falle des Bestreitens das Risiko der Unerweislichkeit des Zugangs, ohne dass ihr die Erleichterungen des Anscheinsbeweises zugutekommen. Ausnahmsweise ist ein substantiiertes Bestreiten des Zugangs aber dann erforderlich, wenn über die korrekte Adressierung des Bescheids und dessen behördenintern dokumentierte Absendung hinaus weitere Tatsachen, wie zum Beispiel die durch entsprechende Einlassung offenbar werdende Kenntnis des Betroffenen vom Inhalt des Bescheids, dafür sprechen, dass er ihn entgegen seinem Vorbringen tatsächlich erhalten haben könnte und sich die Behauptung vom Nichtzugang des behördlichen Schriftstücks als reine Schutzbehauptung erweist, etwa weil er auf andere Schreiben auch reagiert hat bzw. ihn andere Behördenpost auch unter dieser Anschrift erreicht hat. Insoweit genügt zwar nicht der auf einen typischen, nicht aber auf den tatsächlichen Geschehensablauf abstellende Beweis des ersten Anscheins; jedoch können bestimmte Verhaltensweisen des Betroffenen innerhalb eines längeren Zeitraums nach Absendung des Bescheids vom Gericht im Zusammenhang mit dem Nachweis der Absendung unter Berücksichtigung der hohen Wahrscheinlichkeit, dass ein abgesandtes Schriftstück seinen Empfänger auch erreicht hat, im Wege einer freien Beweiswürdigung dahingehend gewürdigt werden, dass – entgegen der Behauptung des Adressaten – von einem Zugang des Bescheids auszugehen ist (siehe ausführlich OVG Schleswig, Urteil vom 9. Januar 2020 – 2 LB 2/19 – juris Rn. 25 ff. m.w.N.; vgl. auch OVG Hamburg, Beschluss vom 9. August 2021 – 5 Bs 177/21 – juris Rn. 10 ff.).

32

Nach diesen Grundsätzen fehlt es vorliegend bereits an der behördenintern dokumentierten Absendung des Schmutzwassergebührenbescheids vom 7. September 2016 als grundlegende Voraussetzung für die Annahme einer reinen Schutzbehauptung, sodass hier Zweifel am Zugang des Bescheids im Sinne von § 110 Abs. 2 Satz 3 LVwG verbleiben. Die Anwendung des § 110 Abs. 2 Satz 1 LVwG setzt voraus, dass der Zeitpunkt der Aufgabe zur Post feststeht. Der Nachweis des spätestmöglichen Aufgabezeitpunkts kann jedenfalls durch den Poststempel oder die Erfassung im Sortierzentrum geführt werden. Ebenso ist ein Postausgangsbuch für den Nachweis geeignet. Indizielle Bedeutung hat ferner ein in der Akte angebrachter Vermerk über die Aufgabe („Ab-Vermerk“) (vgl. Baer, in: Schoch/Schneider, VerwR, 1. EL August 2021, § 41 VwVfG Rn. 80). Einen solchen Nachweis hat die Antragsgegnerin hier nicht erbracht. Sie hält dem Bestreiten des Antragstellers entgegen, ihre Gebührenbescheide würden in Umsetzung des § 5 Nr. 4 ihrer früheren Gebührensatzung zusammen mit den Verbrauchsabrechnungen der ... übersandt und bekanntgegeben und verweist hierzu auf die mit Schriftsatz vom 1. Juni 2022 übersandte Dokumentation der ... . Dieser lässt sich – worauf der Antragsteller mit Schriftsatz vom 2. Juni 2022 zutreffend hingewiesen hat – jedoch nicht entnehmen, welche Abrechnungen oder Gebührenbescheide konkret Gegenstand der aufgeführten „Spool Aufträge“ bzw. „Jobs“ waren und an wen sich diese richteten. Insbesondere lassen die vorgelegten Datensätze keinen Rückschluss anhand der im Gebührenbescheid aufgeführten Kunden- oder Bescheidnummer zu. Lediglich das Datum „07.09.2016“ stimmt mit dem streitgegenständlichen Bescheid überein, ermöglicht für sich gesehen aber keine konkrete Zuordnung zu dem vorliegenden Verwaltungsverfahren.

33

2. Der Hilfsantrag ist zulässig und begründet.

34

Der Antrag ist zulässig, insbesondere als Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO statthaft. Nach dieser Vorschrift kann das Gericht auf Antrag, auch schon vor Klageerhebung, eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch die Veränderung eines bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Ein solcher Fall ist hier gegeben. Der Antragsteller wendet sich mit seinem Antrag gegen die drohende Veränderung des bestehenden Zustands durch die von der Antragsgegnerin mit ihrer Mahnung vom 28. Mai 2021 in Aussicht gestellten Zwangsvollstreckung.

35

Der Anwendung des § 123 Abs. 1 VwGO steht Abs. 5 dieser Vorschrift nicht entgegen, weil kein Fall des § 80 Abs. 5 VwGO gegeben ist. Bei der Mahnung im Vollstreckungsverfahren nach § 270 LVwG handelt es sich nicht um einen Verwaltungsakt im Sinne des § 106 Abs. 1 LVwG als Voraussetzung für die Statthaftigkeit eines Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO, weil es ihr an dem erforderlichen Regelungscharakter fehlt. Die Mahnung ist zwar Voraussetzung für den Vollstreckungsbeginn; sie stellt selbst aber keine hoheitliche Regelung dar. Auch wenn sie den Hinweis enthält, dass bei Nichteinhaltung der Zahlungsfrist die Vollstreckung droht, trifft sie damit keine eigenständig anfechtbare Regelung (VG Schleswig, Beschluss vom 20. September 2017 – 4 B 176/17 – juris Rn. 16).

36

Für den Antrag besteht zudem ein allgemeines Rechtsschutzinteresse, weil sich der Antragsteller vor Einreichung seines Antrags bei Gericht mit Schreiben vom 30. August 2021 mit seinem Begehren zunächst an die Antragsgegnerin gewandt, diese aber mit Schreiben vom 6. April 2022 erklärt hat, ihre Forderung in Höhe von insgesamt ... € bei Nichtzahlung im Vollstreckungsverfahren beizutreiben.

37

Der Hilfsantrag ist begründet.

38

Das Gericht kann nach § 123 Abs. 1 VwGO eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn der Antragsteller einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht hat (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO).

39

Ein Anordnungsanspruch besteht unter anderem dann, wenn die von der Behörde eingeleitete Vollstreckung wegen des Fehlens der gesetzlich normierten Voraussetzungen für die rechtmäßige Vollstreckung öffentlich-rechtlicher Geldforderungen unzulässig wäre (VG Schleswig, Beschluss vom 4. April 2019 – 4 B 10/19 – juris Rn. 10).

40

Die Voraussetzungen für den Beginn der Vollstreckung liegen hier nicht vor.

41

Nach § 269 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 LVwG darf die Vollstreckung erst beginnen, nachdem ein Verwaltungsakt vorliegt, durch den der Schuldner zur Leistung aufgefordert worden ist. Ein solcher Leistungsbescheid fehlt hier, denn der von der Antragsgegnerin angeführte Gebührenbescheid vom 7. September 2016 ist nach dem oben Gesagten mangels Bekanntgabe bislang nicht gemäß § 112 Abs. 1 Satz 1 LVwG wirksam geworden.

42

Der Anordnungsgrund ergibt sich aus der von der Antragsgegnerin konkret angekündigten Vollstreckung bei Nichtzahlung des geforderten Betrages mit Schreiben vom 6. April 2022.

43

Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO.

44

Die Festsetzung des Streitwertes beruht auf § 63 Abs. 2, § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 1 GKG. Die Entscheidung über den Hilfsantrag führt hier gemäß § 45 Abs. 1 Satz 3 GKG nicht zu einer Erhöhung des Streitwerts, weil Haupt- und Hilfsantrag bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise denselben Gegenstand betreffen. Sowohl in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes in Abgabensachen sowie in Vollstreckungsverfahren beträgt der Streitwert regelmäßig ¼ des Betrages der jeweiligen Hauptsache (Nr. 1.5 und Nr. 1.7.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit), sodass hier von ¼ der in der Vollstreckungsankündigung genannten Forderung in Höhe von  ... € auszugehen war.


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