Urteil vom Verwaltungsgericht Schwerin (15. Kammer) - 15 A 1428/18 SN

Tenor

Die Beklagte wird verpflichtet, unter Aufhebung des Bescheides vom 16. Juli 2018 des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen und ihn als Asylberechtigten anzuerkennen.

Die Kosten des Rechtsstreits hat die Beklagte zu tragen.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 Prozent des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger zuvor Sicherheit in Höhe von 110 Prozent des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Tatbestand

1

Der Kläger erstrebt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und seine Anerkennung als Asylberechtigter.

2

Der 1989 geborene Kläger ist russischer Staatsangehöriger und Zugehöriger der Religionsgemeinschaft Jehovas Zeugen. Der Kläger reiste 2018 mit einem deutschen Schengen-Visum in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte sodann einen Asylantrag.

3

Bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am 4. Juni 2018 gab der Kläger im Wesentlichen an, er sei seit dem Jahr 2005 Angehöriger der Religionsgemeinschaft Jehovas Zeugen (im weiteren Text wird die in Deutschland gebräuchliche Bezeichnung Zeugen Jehovas genutzt). In der Russischen Föderation habe er seine Religion intensiv ausgeübt und für diese auch beworben. Nach dem Verbot habe man sich heimlich treffen müssen. Man habe sehr darauf geachtet, dass man mit den Treffen nicht mehr auffalle. Trotzdem habe er weiterhin missioniert und versucht, Menschen von der Religion zu überzeugen.

4

Mit Bescheid des Bundesamtes vom 16. Juli 2018 wurde die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, der Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter abgelehnt und ein subsidiärer Schutzstatus ebenfalls nicht zuerkannt. Es wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes nicht vorliegen. Der Kläger wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bestandskraft der Entscheidung zu verlassen, anderenfalls wurde ihm die Abschiebung in die Russische Föderation oder einen anderen Staat, in den er einreisen darf oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet ist, angedroht. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass der Kläger unverfolgt und vorsorglich ausgereist sei. Die Befürchtungen seien zwar subjektiv nachvollziehbar, aber objektiv nicht begründet, denn mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit habe er nicht mit einer Verfolgung zu rechnen.

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Gegen diesen Bescheid hat der Kläger am 24. Juli 2018 Klage erhoben.

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Der Kläger beantragt,

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die Beklagte unter Aufhebung des Ablehnungsbescheides vom 16.07.2018 zu verpflichten,

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1. den Kläger als Asylberechtigten anzuerkennen,

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2. die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger die Eigenschaft als Flüchtling zuzuerkennen,

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3. festzustellen, dass ein sogenannter subsidiärer Schutz besteht,

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4. festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 AufenthG vorliegen.

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Die Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen.

14

Sie bezieht sich zur Begründung auf den angefochtenen Bescheid.

15

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird Bezug genommen auf die vorgelegten Verwaltungsvorgänge und die mit der Ladung übersandte Erkenntnisquellenliste des Gerichts.

Entscheidungsgründe

16

Das Gericht konnte verhandeln und entscheiden, obwohl die Beklagte nicht in der mündlichen Verhandlung erschienen ist, denn sie war in der Ladung auf die Folgen hingewiesen worden (§ 102 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).

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Die zulässige Klage ist begründet. Der angefochtene Bescheid ist zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung durch das Gericht (§ 77 Abs. 1 S. 1 Hs. 1 AsylG) rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 5 S. 1 VwGO. Der Kläger hat einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und auf Anerkennung als Asylberechtigter.

18

Der Kläger hat einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG.

19

Nach dieser Vorschrift wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG. Ein Ausländer ist Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG, wenn er Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Konvention - GK) ist. Flüchtling in diesem Sinne ist er, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will und er nicht die Tatbestände nach § 3 Abs. 2 und 3 AsylG erfüllt, wonach ein Ausländer nicht als Flüchtling gelten kann. Für die Feststellung, ob eine solche Verfolgung i.S. des § 3 Abs. 1 AsylG vorliegt, sind die §§ 3a bis 3e AsylG zu beachten. Diese Vorschriften enthalten die gesetzlichen Maßgaben dafür, was rechtlich unter einer asylerheblichen Verfolgungshandlung zu verstehen ist, welche Umstände bei der Prüfung von Verfolgungsgründen zu berücksichtigen sind, von wem die Verfolgung ausgehen kann, welche Akteure Schutz vor Verfolgung bieten können und wann dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt werden kann, weil er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung hat (Interner Schutz).

20

Im Hinblick auf die Ausübung der Religionsfreiheit hat das Bundesverwaltungsgericht in seiner Entscheidung vom 20. Februar 2013 - 10 C 23/12 -, (BVerwG E146, 67) unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes ausgeführt:

21

Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) hat auf Vorlage des Senats durch Urteil vom 5. September 2012 (Rs. C-71/11 und C-99/11 - NVwZ 2012, 1612) entschieden, unter welchen Voraussetzungen Eingriffe in die Religionsfreiheit als Verfolgungshandlungen im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie angesehen werden können.

22

Der Gerichtshof sieht in dem in Art. 10 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GR-Charta) verankerten Recht auf Religionsfreiheit ein grundlegendes Menschenrecht, das eines der Fundamente einer demokratischen Gesellschaft darstellt und Art. 9 EMRK entspricht. Ein Eingriff in das Recht auf Religionsfreiheit kann so gravierend sein, dass er einem der in Art. 15 Abs. 2 EMRK genannten Fälle gleichgesetzt werden kann, auf die Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie als Anhaltspunkt für die Feststellung verweist, welche Handlungen insbesondere als Verfolgung gelten (EuGH a.a.O. Rn. 57). Allerdings stellt nicht jeder Eingriff in das durch Art. 10 Abs. 1 GR-Charta garantierte Recht auf Religionsfreiheit eine Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie dar (Rn. 58). Zunächst muss es sich um eine Verletzung dieser Freiheit handeln, die nicht durch gesetzlich vorgesehene Einschränkungen der Grundrechtsausübung im Sinne von Art. 52 Abs. 1 GR-Charta gedeckt ist. Weiterhin muss eine schwerwiegende Rechtsverletzung vorliegen, die den Betroffenen erheblich beeinträchtigt (Rn. 59). Das setzt nach Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie voraus, dass die Eingriffshandlungen einer Verletzung der grundlegenden Menschenrechte gleichkommen, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK in keinem Fall abgewichen werden darf (Rn. 61).

23

Zu den Handlungen, die nach der Rechtsprechung des EuGH eine schwerwiegende Verletzung der Religionsfreiheit im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie darstellen können, gehören nicht nur gravierende Eingriffe in die Freiheit des Antragstellers, seinen Glauben im privaten Rahmen zu praktizieren, sondern auch solche in seine Freiheit, diesen Glauben öffentlich zu leben. Der Gerichtshof hält es mit der weiten Definition des Religionsbegriffs in Art. 10 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie nicht für vereinbar, die Beachtlichkeit einer Verletzungshandlung danach zu beurteilen, ob diese in einen Kernbereich der privaten Glaubensbetätigung (forum internum) oder in einen weiteren Bereich der öffentlichen Glaubensausübung (forum externum) eingreift (Rn. 62 f.). Der Senat folgt dieser Auslegung und hält daher an der vor Inkrafttreten der Richtlinie 2004/83/EG vertretenen, hiervon abweichenden Rechtsauffassung für den Flüchtlingsschutz (vgl. Urteil vom 20. Januar 2004 - BVerwG 1 C 9.03 - BVerwGE 120, 16 <19 ff.>) nicht mehr fest. Folglich ist bei der Bestimmung der Handlungen, die aufgrund ihrer Schwere verbunden mit der ihrer Folgen für den Betroffenen als Verfolgung gelten können, nicht darauf abzustellen, in welche Komponente der Religionsfreiheit eingegriffen wird, sondern auf die Art der ausgeübten Repressionen und ihre Folgen für den Betroffenen (Rn. 65 mit Verweis auf Rn. 52 der Schlussanträge des Generalanwalts).

24

Ob eine Verletzung des durch Art. 10 Abs. 1 der GR-Charta garantierten Rechts eine Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie darstellt, richtet sich danach, wie gravierend die Maßnahmen und Sanktionen sind, die gegenüber dem Betroffenen ergriffen werden oder ergriffen werden können. Demnach kann es sich bei einer Verletzung des Rechts auf Religionsfreiheit um eine Verfolgung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie handeln, wenn der Asylbewerber aufgrund der Ausübung dieser Freiheit in seinem Herkunftsland u.a. tatsächlich Gefahr läuft, durch einen der in Art. 6 der Richtlinie genannten Akteure strafrechtlich verfolgt oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden (Rn. 67). Der Gerichtshof verwendet in der verbindlichen deutschen Sprachfassung des Urteils (vgl. Art. 41 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs vom 25. September 2012, ABl L 265/1 vom 29. September 2012) zwar nur den Begriff "verfolgt", ohne dies ausdrücklich auf eine strafrechtliche Verfolgung zu beziehen. Es wäre jedoch zirkulär, den Begriff der "asylerheblichen Verfolgung" durch "Verfolgung" zu definieren. Dafür spricht zudem ein Vergleich der deutschen mit der französischen, englischen und italienischen Fassung des Urteils. In allen drei zum Vergleich herangezogenen Sprachfassungen ist von strafrechtlicher Verfolgung die Rede. Darüber hinaus ist auch die im Fall der Religionsausübung drohende Gefahr einer Verletzung von Leib und Leben sowie der (physischen) Freiheit hinreichend schwerwiegend, um die Verletzung der Religionsfreiheit als Verfolgungshandlung zu bewerten.

25

Ein hinreichend schwerer Eingriff in die Religionsfreiheit gemäß Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie setzt nicht voraus, dass der Ausländer seinen Glauben nach Rückkehr in sein Herkunftsland tatsächlich in einer Weise ausübt, die ihn der Gefahr der Verfolgung aussetzt. Vielmehr kann bereits der unter dem Druck der Verfolgungsgefahr erzwungene Verzicht auf die Glaubensbetätigung die Qualität einer Verfolgung erreichen. Das ergibt sich insbesondere aus der Aussage des Gerichtshofs in Rn. 69, dass schon das Verbot der Teilnahme an religiösen Riten im öffentlichen Bereich eine hinreichend gravierende Handlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie und somit eine Verfolgung darstellen kann, wenn der Verstoß dagegen die tatsächliche Gefahr der dort genannten Sanktionen und Konsequenzen heraufbeschwört. Kann Verfolgung somit schon in dem Verbot als solchem liegen, kommt es auf das tatsächliche künftige Verhalten des Asylbewerbers und daran anknüpfende Eingriffe in andere Rechtsgüter des Betroffenen (z.B. in Leben oder Freiheit) letztlich nicht an.

26

Diesem Verständnis der Entscheidung, das den Flüchtlingsschutz gegenüber der früheren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts vorverlagert, steht nicht entgegen, dass der Gerichtshof in seinen Ausführungen auf die Gefahr abstellt, die dem Ausländer bei "Ausübung dieser Freiheit" (Rn. 67 und 72) bzw. der "religiösen Betätigung" (Rn. 73, 78 und 79 f.) droht. Denn damit nimmt dieser lediglich den Wortlaut der entsprechenden Vorlagefragen 2a und 3 des Senats auf, ohne dass darin eine notwendige Voraussetzung für die Flüchtlingsanerkennung liegt. Könnte nicht schon das Verbot bestimmter Formen der Religionsausübung eine Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie darstellen, blieben Betroffene gerade in solchen Ländern schutzlos, in denen die angedrohten Sanktionen besonders schwerwiegend und so umfassend sind, dass sich Gläubige genötigt sehen, auf die Glaubenspraktizierung zu verzichten (so auch Lübbe, ZAR 2012, 433 <437>). Diese Erstreckung auch auf einen erzwungenen Verzicht entspricht dem Verständnis des britischen Upper Tribunal (Immigration and Asylum Chamber) in seinem Grundsatzurteil vom 14. November 2012 - MN and others <2012> UKUT 00389(IAC) Rn. 79) betreffend die religiöse Verfolgung von Ahmadis in Pakistan und dem Urteil des Supreme Court of the United Kingdom betreffend die Verfolgung wegen Homosexualität vom 7. Juli 2010 (HJ v. Secretary of State for the Home Department <2010> UKSC 31 Rn. 82). Der Senat folgt dieser Auslegung und hält daher an seiner vor Inkrafttreten der Richtlinie 2004/83/EG vertretenen, hiervon abweichenden Rechtsauffassung (vgl. Urteil vom 20. Januar 2004 a.a.O. <23>) nicht mehr fest.

27

Nach der Rechtsprechung des EuGH hängt die Beurteilung, wann eine Verletzung der Religionsfreiheit die erforderliche Schwere aufweist, um die Voraussetzungen einer Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie zu erfüllen, von objektiven wie auch subjektiven Gesichtspunkten ab (Rn. 70). Objektive Gesichtspunkte sind insbesondere die Schwere der dem Ausländer bei Ausübung seiner Religion drohenden Verletzung anderer Rechtsgüter wie z.B. Leib und Leben. Die erforderliche Schwere kann insbesondere dann erreicht sein, wenn dem Ausländer durch die Teilnahme an religiösen Riten in der Öffentlichkeit die Gefahr droht, an Leib, Leben oder Freiheit verletzt, strafrechtlich verfolgt oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden (siehe oben Ziff. 2.3.2). Bei strafrechtsbewehrten Verboten kommt es insoweit maßgeblich auf die tatsächliche Strafverfolgungspraxis im Herkunftsland des Ausländers an, denn ein Verbot, das erkennbar nicht durchgesetzt wird, begründet keine erhebliche Verfolgungsgefahr (so auch Generalanwalt Bot in seinen Schlussanträgen vom 19. April 2012 (Rs. C-71/11 und C-99/11, Rn. 82).

28

Als relevanten subjektiven Gesichtspunkt für die Schwere der drohenden Verletzung der Religionsfreiheit sieht der Gerichtshof den Umstand an, dass für den Betroffenen die Befolgung einer bestimmten gefahrträchtigen religiösen Praxis in der Öffentlichkeit zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig ist (Rn. 70). Denn der Schutzbereich der Religion erfasst sowohl die von der Glaubenslehre vorgeschriebenen Verhaltensweisen als auch diejenigen, die der einzelne Gläubige für sich selbst als unverzichtbar empfindet (Rn. 71). Dabei bestätigt der EuGH die Auffassung des Senats, dass es auf die Bedeutung der religiösen Praxis für die Wahrung der religiösen Identität des einzelnen Ausländers ankommt, auch wenn die Befolgung einer solchen religiösen Praxis nicht von zentraler Bedeutung für die betreffende Glaubensgemeinschaft ist (vgl. Beschluss vom 9. Dezember 2010 - BVerwG 10 C 19.09 - BVerwGE 138, 270 Rn. 43). Dem Umstand, dass die konkrete Form der Glaubensbetätigung (z.B. Missionierung) nach dem Selbstverständnis der Glaubensgemeinschaft, der der Schutzsuchende angehört, zu einem tragenden Glaubensprinzip gehört, kann dabei eine indizielle Wirkung zukommen. Maßgeblich ist aber, wie der einzelne Gläubige seinen Glauben lebt und ob die verfolgungsträchtige Glaubensbetätigung für ihn persönlich nach seinem Glaubensverständnis unverzichtbar ist.

29

Der vom EuGH entwickelte Maßstab, dass die Befolgung einer bestimmten religiösen Praxis zur Wahrung der religiösen Identität besonders wichtig ist, setzt nach dem Verständnis des Senats nicht voraus, dass der Betroffene innerlich zerbrechen oder jedenfalls schweren seelischen Schaden nehmen würde, wenn er auf eine entsprechende Praktizierung seines Glauben verzichten müsste (vgl. zu den strengeren Maßstäben der Rechtsprechung zur Gewissensnot von Kriegsdienstverweigerern: Urteil vom 1. Februar 1982 - BVerwG 6 C 126.80 - BVerwGE 64, 369 <371> m.w.N.). Jedoch muss die konkrete Glaubenspraxis für den Einzelnen ein zentrales Element seiner religiösen Identität und in diesem Sinne für ihn unverzichtbar sein. Es reicht nicht aus, dass der Asylbewerber eine enge Verbundenheit mit seinem Glauben hat, wenn er diesen - jedenfalls im Aufnahmemitgliedstaat - nicht in einer Weise lebt, die ihn im Herkunftsstaat der Gefahr der Verfolgung aussetzen würde. Maßgeblich für die Schwere der Verletzung der religiösen Identität ist die Intensität des Drucks auf die Willensentscheidung des Betroffenen, seinen Glauben in einer für ihn als verpflichtend empfundenen Weise auszuüben oder hierauf wegen der drohenden Sanktionen zu verzichten. Die Tatsache, dass er die unterdrückte religiöse Betätigung seines Glaubens für sich selbst als verpflichtend empfindet, um seine religiöse Identität zu wahren, muss der Asylbewerber zur vollen Überzeugung des Gerichts nachweisen (so schon Beschluss vom 9. Dezember 2010 a.a.O. Rn. 43).

30

(BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 – 10 C 23/12 –, BVerwGE 146, 67-89, Rn. 23 - 30)

31

Das Bundesverwaltungsgericht hat mit dieser Entscheidung klargestellt, unter welchen Umständen unter dem Eindruck der Verfolgungsdrohung auf eine „verfolgungsträchtige“ Religionsbetitelung verzichtet worden ist - oder - für den Fall der Rückkehr - verzichtet werden wird, und die Bedeutung, die eine Nichtbestätigung für die Feststellung der religiösen Identität hat. Das Bundesverwaltungsgericht hat weiter ausgeführt, dass eine begründete Furcht vor Verfolgung vorliegt, sobald vernünftigerweise anzunehmen ist, dass der Schutzsuchende nach Rückkehr in sein Heimatland religiöse Betätigungen vornehmen wird, die ihn der tatsächlichen Gefahr einer Verfolgung aussetzten und klargestellt, dass hiervon auch die Fälle des Verzichts aus Furcht vor Verfolgung erfasst sind, wenn die verfolgungsrelevante Glaubensbetätigung die religiöse Identität des Schutzsuchenden kennzeichnet. Denn für den Fall der Rückkehr wird für den Schutzsuchenden ein bekennendes und betätigtes Märtyrertum abverlangt (Berlit, jurisPR - BVerwG 11/2013).

32

Für die Religionsbetätigung der Zeugen Jehovas in der Russischen Föderation geht das Gericht von folgender Situation aus: Am 20. April 2017 billigte das Oberste Gericht Russlands einen Antrag des Justizministeriums, in dem die russische Zentrale der Zeugen Jehovas als extremistische Gruppe eingestuft wurde, die die Bürgerrechte sowie die öffentliche Ordnung und Sicherheit bedrohe. Von dem Verbot sind alle 395 Regionalverbände des Landes betroffen. Ihr Besitz wurde beschlagnahmt. Die Zeugen Jehovas können somit für die Ausübung ihres Glaubens strafrechtlich verfolgt werden. Die russischen Behörden gehen nun gezielt gegen Einzelpersonen und deren Religionsausübung vor. Seit April 2017 haben Behörden mindestens 85 strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet. Bei einer Verurteilung drohen ihnen Freiheitsstrafen von zwei bis zehn Jahren Haft. 27 Zeugen Jehovas sitzen in Untersuchungshaft, 17 befinden sich im Hausarrest und 31 weitere dürfen ihren Wohnort nicht verlassen. Die NRO Memorial erachtet 62 Angehörige der Zeugen Jehovas als aus religiösen Gründen inhaftiert (Stand 19.11.2018). Russische Behörden haben angeordnet, dass der Staat Zeugen Jehovas ihre Kinder zur Resozialisierung entziehen kann. Das Plenum des Obersten Gerichts hat im November 2017 bestimmt, dass ein Gericht Eltern das Sorgerecht entziehen kann, wenn sie ihre Kinder mit einer religiösen Organisation in Kontakt bringen, die als extremistisch eingestuft und verboten wurde. Im selben Monat hat das Ministerium für Bildung und Wissenschaft daraufhin die landesweite Empfehlung ausgesprochen, Kinder, die religiös-extremistischen Ideologien ausgesetzt waren, zu resozialisieren. Das Ministerium erwähnt nur zwei Gruppen – Kinder von ISIS-Angehörigen und Zeugen Jehovas. Bisher ist allerdings kein Fall bekannt geworden (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 13. Februar 2019).

33

Unter Zugrundelegung dieser Grundsätze kann dahingestellt bleiben, ob der Kläger bereits einen Übergriff nach § 3 a Abs. 1 Nr. 1 AsylG erlitten hat. Jedenfalls bei einer Rückkehr in die Russische Föderation wird der Kläger seine Religion nicht mehr ausüben können. Der Kläger hat bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt und bei seiner Anhörung durch das Gericht anschaulich geschildert, aus welchen Gründen er Angst hat, seine Religion auszuüben und er davon ausgeht, dass die gemeinschaftliche Religionsausübung nicht mehr möglich ist. Er hat dargelegt, unter welchen konspirativen Umständen sie ihre religiösen Zusammentreffen abgehalten haben, unter welchen Bedingungen er seine Missionstätigkeit ausgeführt hat und er hat dargelegt, dass er ebenso, wie es ihm persönlich bekannten Glaubensbrüdern widerfahren ist, Angst vor einem Strafverfahren hat.

34

Diese Befürchtungen des Klägers decken sich mit den Erkenntnissen aus den oben genannten Quellen. Vielfach wurden Zeugen Jehovas mit Strafverfahren überzogen und es kam zu einer Vielzahl von Gewalttaten gegenüber den Zeugen Jehovas, auch aufgrund einer negativen Stimmung innerhalb der Bevölkerung.

35

Für den Kläger, der unstreitig Zeuge Jehovas ist, diesen Glauben praktiziert hat und auch aktuell praktiziert, würde allein das Verbot der gemeinschaftlichen Glaubensausübung als Verzicht auf eine Form der Ausübung seines Glaubens darstellen, die er für sich als verpflichtend empfindet. Dies hat der Kläger in seiner Anhörung hinreichend deutlich vorgetragen. Allein aus diesen Gründen steht dem Kläger die begehrte Zuerkennung des Flüchtlingsschutzes zu. Ein inländisches Ausweichen besteht für den Kläger nicht, da das Verbot der Zeugen Jehovas landesweit gilt.

36

Dass die Ausübung der Religionsfreiheit nach Art. 9 Abs. 2 EMRK ausnahmsweise in zulässiger Weise eingeschränkt werden konnte, ist nicht ersichtlich. Zumal die gemeinschaftliche Religionsausübung, der Gottesdienst, einen besonderen Schutz genießt (vgl. hierzu v. Ungern-Sternberg, EMRK, Art. 9 Rn 40)

37

Mit dieser Einschätzung der Sach- und Rechtslage befindet sich das Gericht im Einklang mit einer Vielzahl weiterer Entscheidungen von Verwaltungsgerichten in Deutschland (Verwaltungsgericht B-Stadt, Urteil vom 27. Juni 2018 - 17 A 2777/18-, juris; Verwaltungsgericht Düsseldorf, Urteil vom 03. Juli 2019 - 10 K 5932/17.A -, juris; Verwaltungsgericht Dresden, Urteil vom 26. Juli 2019 - 1 K 810/19.A -, juris; Verwaltungsgericht Stuttgart, Urteil vom 15. März 2019 - A 14K16637/17 -, juris; Verwaltungsgericht Sigmaringen, Urteil vom 17. Januar 2019 - A 4K6178/16 -, juris; VG Münster, Gerichtsbescheid vom 22. Februar 2018 – 2 K 1079/17.A -, juris; VG Augsburg, Urteil vom 10. Mai 2019 – Au 2 K 19.30587-, juris, jedenfalls für Personen, die eine herausgehobene Stellung innerhalb der Gemeinschaft haben). Soweit die Beklagte darauf verweist, dass die absolute Zahl der Übergriffe im Verhältnis zu der Zahl der Anhänger der Religionsgemeinschaft gering ist, kommt es hierauf maßgeblich nicht an. Wie oben ausgeführt, ist allein maßgeblich, ob Kläger in Angesicht real drohender Strafverfolgung (bzw. im Rahmen einer erweiterten Kumulationsbetrachtung auch sonstige schwerwiegende Repressalien) auf seine für ihn als verpflichtend angesehene Religionsausübung verzichtet.

38

Der Kläger hat ebenso einen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter gem. Art 16a Abs. 1 GG. Der Anspruch steht neben dem Flüchtlingsschutz nach § 3 AsylG und hat einen identischen Schutzbereich. Auch die Einschränkung der Freiheit des religiösen Bekenntnisses führt zur Asylgewährung. Da der Kläger auf einem Direktflug in die Bundesrepublik Deutschland eingereist ist, ist der Anspruch auch nicht nach Art. 16a Abs. 2 GG ausgeschlossen.

39

Aufgrund der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und der Anerkennung als Asylberechtigtem ist die Klage auch begründet. Soweit die Aufhebung der Nr. 3 bis 6 der angefochtenen Entscheidung begehrt wird, ist dies in der Tenorierung enthalten, denn die Verpflichtung zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und die Anerkennung als Asylberechtigte lässt die Feststellung zu den Nummern 3 bis 6 gegenstandslos werden.

40

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.

41

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

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