Urteil vom Verwaltungsgericht Hamburg (17. Kammer) - 17 A 2777/18
Tenor
Soweit die Klage zurückgenommen worden ist, wird das Verfahren eingestellt.
Der Bescheid der Beklagten vom 16. Mai 2018 zum Az. ... wird in den Nummern 1 sowie 3 bis 6 aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
Gerichtskosten werden nicht erhoben. Die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der festzusetzenden Kosten abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des zu vollstreckenden Betrags leisten.
Tatbestand
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Die Klägerin begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
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Die am [...] geborene Klägerin ist russische Staatsangehörige ukrainischer Volkszugehörigkeit. Sie gehört der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas an.
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Eigenen Angaben nach reiste die Klägerin am 17. Oktober 2017 auf dem Luftweg in die Bundesrepublik ein. Am 24. Oktober 2017 stellte sie einen Asylantrag.
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In ihrer persönlichen Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am 26. Oktober 2017 gab die Klägerin im Wesentlichen an: Sie gehöre seit über zwölf Jahren den Zeugen Jehovas an. Diese Glaubensgemeinschaft sei im Sommer 2017 durch ein Moskauer Gericht verboten worden. Die Häuser, in denen sich die Zeugen Jehovas getroffen hätten, seien konfisziert worden. Auch einige Häuser ihrer Glaubensschwestern und -brüder seien zerstört worden. Sie habe Angst um ihr Leben, da sie als nächste von solchen Maßnahmen betroffen sein könnte. Man habe sie zudem bereits zweimal festgenommen; da sie jedoch schon älter sei, habe man Gnade gezeigt und sie wieder freigelassen. Sie dürfe sich mit keinem ihrer Glaubensschwestern und -brüder mehr unterhalten. Die Polizei könne sie jederzeit (wieder) festnehmen und inhaftieren. Angehörige ihrer Glaubensgemeinschaft würden bedroht; sie würden geschlagen und erniedrigt. Da sie ihren Glauben offizielle nicht mehr frei ausüben dürfe und sie auch mit niemandem über ihren Glauben reden könne, sei sie ausgereist. Sie befürchte, im Falle einer Festnahme aufgrund ihres Alters in einem Gefängnis nicht zu überleben. Auch habe sie Angst davor, dass ihre Nachbarn der Polizei mitteilen könnten, dass sie eine Zeugin Jehovas sei, so dass sie dann inhaftiert werde. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf das Protokoll der persönlichen Anhörung verwiesen.
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Mit Bescheid vom 16. Mai 2018 lehnte das Bundesamt den Antrag auf Asylanerkennung ab, erkannte die Flüchtlingseigenschaft und den subsidiären Schutzstatus nicht zu und stellte zugleich fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen. Die Klägerin wurde aufgefordert, das Bundesgebiet zu verlassen; für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise wurde ihr die Abschiebung in die Russische Föderation angedroht. Das für den Fall der Abschiebung bestehende gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf 10 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet. Zur Begründung führte das Bundesamt aus: Zwar habe das Oberste Gericht der Russischen Föderation am 20. April 2017 die Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas landesweit verboten und damit praktisch auch ihre Religionsausübung. Allein diese Tatsache begründe jedoch nicht das Vorliegen einer Gruppenverfolgung der Zeugen Jehovas. Für die Annahme einer Gruppenverfolgung der Zeugen Jehovas in der Russischen Föderation fehle es an der erforderlichen Verfolgungsdichte bei Vergleich der Anzahl der Verfolgungsmaßnahmen von staatlicher Seite und der Anzahl der Anhänger der Religionsgemeinschaft, die sich nacheigenen Angaben der Zeugen Jehovas auf rund 175.000 belaufen soll. Aus dem Vorbringen der Klägerin ergebe sich auch keine individuelle Verfolgung. Die Klägerin habe zu keiner Zeit von individuell gegen sie gerichtete staatliche Repressionsmaßnahmen berichtet. Ihre Behauptung, sie könne aufgrund ihres Glaubens jederzeit inhaftiert werden bzw. Nachbarn könnten sie der Polizei melden, sei nicht nachvollziehbar. Es sei nicht begreiflich, warum Nachbarn sie der Polizei melden sollten, zumal unklar sei, woher diese wissen sollten, dass sie eine Zeugin Jehovas sei. Es sei auch nicht ersichtlich, dass die Klägerin bei einer Rückkehr in die Russische Föderation ihren Glauben in einer exponierten Weise ausleben würde, so dass sie aus diesem Grund in das Visier staatlicher Behörden geraten könnte. Sie sei weder in der Vergangenheit exponiert, z.B. aufgrund missionarischer Tätigkeit, tätig gewesen, noch habe sie vorgetragen, dies in Zukunft sein zu wollen. Wegen der weiteren Einzelheiten der Begründung wird auf den angefochtenen Bescheid verwiesen.
- 6
Am 25. Mai 2018 hat die Klägerin Klage erhoben. Sie habe die Zeugen Jehovas im Jahr 2004 in Deutschland kennengelernt, als sie ihre Tochter besucht habe. Sie habe anschließend sechs Monate an Schulungen und Veranstaltungen der Gemeinde in Deutschland teilgenommen und die Bibel kennengelernt. In Russland habe sie sofort Kontakt zu den Zeugen Jehovas in ihrer Stadt (Salsk) aufgenommen. Sie habe dort an weiteren Veranstaltungen und Schulungen teilgenommen. Sie sei am 5. Mai 2005 in Rostov (Don) getauft worden. Sie sei im Anschluss Vollzeitmissionarin gewesen. Ihre Glaubensbrüder und -schwestern würden in Russland massiv verfolgt. Sie selbst sei wiederholt durch die Polizei allein aufgrund ihrer Tätigkeit als Missionarin verhaftet und stundenlang festgehalten worden. Es seien ihre Fingerabdrücke abgenommen und Fotos von ihr gemacht worden. Sie habe daher keine andere Möglichkeit gesehen als zu fliehen. Hier in Deutschland betätige sie sich ebenfalls als Zeugin Jehovas in ihrer örtlichen Gemeinde. Wegen der weiteren Einzelheiten der Klagebegründung wird auf den klägerischen Schriftsatz vom 13. Juni 2018 verwiesen.
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In der mündlichen Verhandlung vom 3. Juli 2018 hat die Klägerin zu 1), nachdem sie den ursprünglich ebenfalls erhobenen Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigte zurückgenommen hat, nur noch beantragt,
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die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 16. Mai 2018 zu verpflichten, ihr die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Zur Begründung bezieht sie sich auf die angefochtene Entscheidung.
- 12
Das Gericht hat die in der Ladung zur mündlichen Verhandlung bezeichneten Erkenntnisquellen beigezogen und diese zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht. In dieser hat das Gericht die Klägerin persönlich angehört. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung verwiesen.
Entscheidungsgründe
I.
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Die Entscheidung ergeht im Einverständnis der Beteiligten durch den Berichterstatter anstelle der Kammer (§ 87a Abs. 2 und 3 VwGO).
II.
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Soweit die Klägerin ihre Klage zurückgenommen hat, war das Verfahren gemäß § 92 Abs. 3 S. 1 VwGO einzustellen.
- 15
Soweit die Klage nicht zurückgenommen worden ist, ist sie zulässig und begründet. Der streitgegenständliche Bescheid ist in den Ziffern 1 sowie 3 bis 6 rechtswidrig und verletzt die Klägerin insoweit in ihren Rechten. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (hierzu 1.). Der angefochtene Bescheid erweist sich daher insoweit als rechtswidrig und war in dem ausgesprochenen Umfang aufzuheben (hierzu 2.).
1.
- 16
Die Klägerin hat einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
- 17
Gemäß § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, wenn er Flüchtling im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG ist. Danach ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juni 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlingskonvention - GK), wenn er sich wegen begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischer Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.
- 18
Als Verfolgung im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG gelten Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Artikel 15 Absatz 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) keine Abweichung zulässig ist, oder Handlungen, die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher Weise betroffen ist (§ 3a Abs. 1 AsylG).
- 19
Eine Verfolgung im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG kann ausgehen von dem Staat, von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen, oder nichtstaatlichen Akteuren, sofern die vorgenannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (vgl. § 3c AsylG).
- 20
Gemäß § 3e AsylG wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslands keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (sog. „interner Schutz“, vgl. § 3e Abs.1 AsylG).
- 21
Nach diesen Maßgaben hat die Klägerin Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Ihr droht im Falle einer Rückkehr in die Russische Föderation mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung im Sinne von §§ 3 Abs. 1, 3a AsylG.
- 22
Eine Verfolgung im Sinne dieser Vorschriften kann in einer schwerwiegenden Verletzung des in Art. 10 Abs. 1 der Europäischen Grundrechtecharta verankerten Rechtes auf Religionsfreiheit liegen, die den Betroffenen erheblich beeinträchtigt. Die „erhebliche Beeinträchtigung“ muss nicht schon eingetreten sein, es genügt bereits, dass ein derartiger Eingriff unmittelbar droht (BVerwG, Urt. v. 20. Februar 2013, 10 C 23/12, juris, Rn. 21 ff.). Zu den Handlungen, die eine schwerwiegende Verletzung der Religionsfreiheit darstellen können, gehören nicht nur gravierende Eingriffe in die Freiheit, seinen Glauben im privaten Rahmen zu praktizieren, sondern auch solche in die Freiheit, diesen Glauben öffentlich zu leben (BVerwG, ebenda).Ob eine Verletzung des durch Art. 10 Abs. 1 der GR-Charta garantierten Rechts eine Verfolgungshandlung darstellt, richtet sich danach, wie gravierend die Maßnahmen und Sanktionen sind, die gegenüber dem Betroffenen ergriffen werden oder ergriffen werden können. Demnach kann es sich bei einer Verletzung des Rechts auf Religionsfreiheit um eine Verfolgung handeln, wenn der Asylbewerber aufgrund der Ausübung dieser Freiheit in seinem Herkunftsland u.a. tatsächlich Gefahr läuft, strafrechtlich verfolgt oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden (BVerwG, ebenda).Ein hinreichend schwerer Eingriff in die Religionsfreiheit setzt nicht voraus, dass der Ausländer seinen Glauben nach Rückkehr in sein Herkunftsland tatsächlich in einer Weise ausübt, die ihn der Gefahr der Verfolgung aussetzt. Vielmehr kann bereits der unter dem Druck der Verfolgungsgefahr erzwungene Verzicht auf die Glaubensbetätigung die Qualität einer Verfolgung erreichen (BVerwG, ebenda).Als relevanten subjektiven Gesichtspunkt für die Schwere der drohenden Verletzung der Religionsfreiheit ist der Umstand anzusehen, dass für den Betroffenen die Befolgung einer bestimmten gefahrträchtigen religiösen Praxis in der Öffentlichkeit zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig ist (BVerwG, ebenda).Dem Umstand, dass die konkrete Form der Glaubensbetätigung (z.B. Missionierung) nach dem Selbstverständnis der Glaubensgemeinschaft, der der Schutzsuchende angehört, zu einem tragenden Glaubensprinzip gehört, kann dabei eine indizielle Wirkung zukommen. Maßgeblich ist aber, wie der einzelne Gläubige seinen Glauben lebt und ob die verfolgungsträchtige Glaubensbetätigung für ihn persönlich nach seinem Glaubensverständnis unverzichtbar ist (BVerwG, ebenda).Der Maßstab, dass die Befolgung einer bestimmten religiösen Praxis zur Wahrung der religiösen Identität besonders wichtig ist, setzt nicht voraus, dass der Betroffene innerlich zerbrechen oder jedenfalls schweren seelischen Schaden nehmen würde, wenn er auf eine entsprechende Praktizierung seines Glauben verzichten müsste. Jedoch muss die konkrete Glaubenspraxis für den Einzelnen ein zentrales Element seiner religiösen Identität und in diesem Sinne für ihn unverzichtbar sein. Es reicht nicht aus, dass der Asylbewerber eine enge Verbundenheit mit seinem Glauben hat, wenn er diesen - jedenfalls im Aufnahmemitgliedstaat - nicht in einer Weise lebt, die ihn im Herkunftsstaat der Gefahr der Verfolgung aussetzen würde. Maßgeblich für die Schwere der Verletzung der religiösen Identität ist die Intensität des Drucks auf die Willensentscheidung des Betroffenen, seinen Glauben in einer für ihn als verpflichtend empfundenen Weise auszuüben oder hierauf wegen der drohenden Sanktionen zu verzichten. Die Tatsache, dass er die unterdrückte religiöse Betätigung seines Glaubens für sich selbst als verpflichtend empfindet, um seine religiöse Identität zu wahren, muss der Asylbewerber zur vollen Überzeugung des Gerichts nachweisen (BVerwG, ebenda).
- 23
Nach diesen Maßstäben ist der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
- 24
Das Oberste Gericht der Russischen Föderation billigte am 20. April 2017 einen Antrag des Justizministeriums, in dem die russische Zentrale der Zeugen Jehovas als extremistische Gruppe eingestuft wurde, die die Bürgerrechte sowie die öffentliche Ordnung und Sicherheit bedrohe. Von dem Verbot sind alle 395 Regionalverbände des Landes betroffen. Ihr Besitz wurde beschlagnahmt (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Russischen Föderation, 21. Mai 2018, S. 8). Die Organisation von oder die Teilnahme an Aktivitäten der Zeugen Jehovas ist demgemäß nach Art. 282.2 des russischen Strafgesetzbuches strafbar („organization“ of or „participation in“ „the activity of a social or religious association or other organization in relation to which a court has adopted a decision legally in force on liquidation or ban on the activity in connection with the carrying out of extremist activity“). Es besteht daher zumindest ein Verbot des organisatorischen Zusammenhalts der Zeugen Jehovas in der Russischen Föderation und ihrer gemeinschaftlichen Religionsausübung. Dieser Eingriff in die Freiheit der Religionsausübung stellt seiner Intensität nach eine Verfolgung im Sinne von § 3, 3a AsylG dar, denn den Zeugen Jehovas wird verboten, ihren Glauben im privaten Bereich und unter sich zu bekennen und Gottesdienst abseits der Öffentlichkeit in privater Gemeinschaft mit ihren Glaubensgenossen zu halten (vgl. BVerwG, Urt. v. 25. Oktober 1988, 9 C 37/88, juris, Rn. 14 f.). Nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnisquellen, die das Gericht zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht hat, wird das Verbot der gemeinschaftlichen Religionsausübung tatsächlich durchgesetzt. Es gibt zahlreiche Berichte, wonach Zeugen Jehovas, die ihren Glauben aktiv ausüben, u.a. durch gemeinschaftliche Glaubensausübung im privaten Bereich, strafrechtlich verfolgt werden. Unabhängig von der rechtlichen Relevanz dieser Frage ist das Gericht auch davon überzeugt, dass es den Zeugen Jehovas nicht zugemutet werden kann, darauf zu vertrauen, dass im privaten Bereich abgehaltene Gottesdienste den russischen Behörden nicht bekannt werden würden. Denn es ist damit zu rechnen, dass die russischen Behörden auch von solchen Gottesdiensten Kenntnis erlangen werden. Zum einen ist davon auszugehen, dass die russischen Behörden aufgrund der bereits eingeleiteten, sich aus den dem Gericht vorliegenden Erkenntnisquellen ergebenden, Verfolgungsmaßnahmen bereits umfangreiche Kenntnisse über die Anhänger der Zeugen Jehovas in der Russischen Föderation haben. Zum anderen ist auch damit zu rechnen, dass Zeugen Jehovas, wenn sie privat Gottesdienste abhalten, von ihren Nachbarn denunziert werden. Denn nach einer Umfrage des Levada Center befürwortet ca. 80% der russischen Bevölkerung das Verbot der Zeugen Jehovas, wobei 51% der Bevölkerung das Verbot sogar entscheidend („decisively“) befürwortet (Radio Free Europe / Radio Liberty, Poll Shows Majority Of Russians Support Ban On Jehovah's Witnesses, 13. Juli 2017, https://www.rferl.org/a/russia-jehovahs-witnesses-poll-majority-favor-ban/28615047.html). Zudem kam es infolge des Verbots der Zeugen Jehovas bereits zu einer Vielzahl von Gewalttaten gegenüber Anhängern der Zeugen Jehovas (Brandstiftung, Gewaltandrohungen, Vandalismus) (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Russischen Föderation, 21. Mai 2018, S. 8).
- 25
Das Verbot der (gemeinschaftlichen) Glaubensausübung würde sich für die Klägerin als Verzicht auf eine Form der Ausübung ihres Glaubens darstellen, die sie als für sich verpflichtend empfindet und die sie auch bisher praktiziert hat. Denn das Gericht ist davon überzeugt, dass die Klägerin überzeugte und aktive Zeugin Jehovas ist, für die die gemeinschaftliche Ausübung ihres Glaubens mit ihren Glaubensbrüdern und -schwestern zentraler Bestandteil ihres Glaubens ist.
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Das Gericht ist davon überzeugt, dass die Klägerin die Zeugen Jehovas im Jahr 2004 bei einem Besuch ihrer Tochter in Deutschland kennengelernt hat, sich im Jahr 2005 in Russland als Zeugin Jehovas hat taufen lassen, bis zu ihrer Ausreise aus der Russischen Föderation im Oktober 2017 aktives Mitglied der Zeugen Jehovas gewesen ist und ihren Glauben auch im Bundesgebiet weiterhin praktiziert. Der diesbezügliche Vortrag der Klägerin ist für das Gericht glaubhaft gewesen. Die Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung die Hintergründe und Motive ihrer Hinwendung zu den Zeugen Jehovas zur vollen Überzeugung des Gerichts glaubhaft machen können. Die Klägerin machte auf den erkennenden Einzelrichter in der mündlichen Verhandlung einen glaubwürdigen, ernsthaften und authentischen Eindruck. Ihre Antworten auf die Fragen des Gerichts waren stets spontan und ohne Zögern. An keiner Stelle drängte sich dem Gericht der Eindruck auf, dass die Klägerin in ihren Aussagen inhaltlich übertrieben hätte. Sie hat zur Überzeugung des Gerichts stets in jeder Hinsicht wahrheitsgemäß von tatsächlichen eigenen Überzeugungen und Erlebnissen berichtet. Die Klägerin erschien dem Gericht daher auch persönlich glaubwürdig. Bestärkt wurde dieser Eindruck zusätzlich durch den in der mündlichen Verhandlung unter Eid vernommenen Ältesten ihrer hamburgischen Glaubensgemeinde, den Zeugen [...]. Dieser hat für das Gericht glaubhaft bekundet, dass die Klägerin aktives Mitglied der hiesigen Gemeinde der Zeugen Jehovas ist und regelmäßig an den Gottesdiensten teilnimmt. Die Tatsache, dass der Zeuge [...] bereits vor seiner Vernehmung an der Verhandlung als Zuschauer teilgenommen hat, beeinträchtigt seine Glaubwürdigkeit bzw. die Glaubhaftigkeit seiner Aussage zur Überzeugung des Gerichts nicht. Der Zeuge [...] hat sich insbesondere nicht darauf beschränkt, die Aussagen der Klägerin (wörtlich oder in eigenen Worten) zu wiederholen, sondern hat die Aussagen der Klägerin ergänzt, insbesondere in Bezug auf die Glaubensausübung der Klägerin im Bundesgebiet und die von der Klägerin im Jahr 2004 im Bundesgebiet angetroffenen Zeugen Jehovas. Der Zeuge [...] machte dabei einen authentischen und glaubhaften Eindruck.
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Im Übrigen spricht auch die Anwesenheit zahlreicher Anhänger der Zeugen Jehovas in der mündlichen Verhandlung dafür, dass die Klägerin tatsächlich praktizierende Zeugin Jehovas ist. Die von der Beklagtenvertreterin pauschal und nach Ansicht des Gerichts allein prozesstaktisch geäußerten Zweifel an der Zugehörigkeit der Zuschauer zu den Zeugen Jehovas vermag das Gericht nicht zu teilen. Die Zuschauer haben auf Frage des Gerichts zu erkennen gegeben, dass sie Anhänger der Zeugen Jehovas sind. Anlass, an deren Angaben zu zweifeln, besteht für das Gericht nicht.
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Ferner spricht auch die Bescheinigung der Zeugen Jehovas in Deutschland, wonach die Klägerin seit 2005 Zeugin Jehovas ist, für die Richtigkeit der Angaben der Klägerin. Das Gericht sieht keine Veranlassung zu der Annahme, dass die Zeugen Jehovas ein Interesse daran haben könnten, eine Mitgliedsbescheinigung für eine Person auszustellen, die nicht ihr Mitglied ist.
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Die von der Beklagtenvertreterin in der mündlichen Verhandlung getätigten Vorhalte in Bezug auf die persönliche Anhörung beim Bundesamt sind ebenfalls nicht geeignet, die Glaubhaftigkeit der Aussagen der Klägerin zu beeinträchtigen. Soweit die Klägerin gegenüber dem Bundesamt nicht angegeben hat, die Zeugen Jehovas bei einem Besuch in Deutschland kennengelernt zu haben, so ist darauf hinzuweisen, dass die Klägerin nicht danach gefragt worden ist, wo sie die Zeugen Jehovas kennengelernt hatte. Es lag nach Auffassung des Gerichts für die Klägerin auch nicht auf der Hand, dass sie sich hierzu hätte äußern sollen, da sie bereits seit etlichen Jahren Zeugin Jehovas ist und die Zeugen Jehovas erst vor kurzem in der Russischen Föderation verboten worden waren. Auch soweit die Klägerin gegenüber dem Bundesamt nicht von ihrer Missionstätigkeit erzählt hat, beeinträchtigt dies die Glaubhaftigkeit der Aussagen der Klägerin nicht. Nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnisquellen besteht die Gefahr einer Verfolgung der Zeugen Jehovas unabhängig davon, ob diese missionieren oder nicht, da bereits das Verbot der gemeinschaftlichen Glaubensausübung durchgesetzt und strafrechtlich verfolgt wird. Für die Klägerin war - dies ergibt sich für das Gericht aus dem Protokoll der persönlichen Anhörung deutlich- - bereits die Gefahr einer Verfolgung aufgrund der bloßen Zugehörigkeit zu den Zeugen Jehovas bzw. der gemeinsamen Glaubensausübung wesentlicher Grund für die Ausreise. Das Gericht ist daher davon überzeugt, dass die Klägerin in der belastenden Situation der persönlichen Anhörung ihre Missionstätigkeit nicht etwa deshalb nicht erwähnt hat, weil sie nicht stattgefunden hat. Dahinstehen kann, ob die Klägerin diesen Umstand in der Aufregung schlicht vergessen hat, etwa, weil sie aufgrund ihres Gesundheitszustands in den letzten Jahren weniger missioniert hat, oder ob sie dem Umstand der Missionstätigkeit neben ihrer Zugehörigkeit zu den Zeugen Jehovas bzw. ihrer gemeinschaftlichen Glaubensausübung mit ihren Glaubensbrüdern und -schwestern keine weitere Bedeutung beigemessen hat.
- 30
Eine inländische Fluchtalternative besteht für die Klägerin schließlich nicht, da die Zeugen Jehovas russlandweit verboten worden sind.
2.
- 31
Aufgrund der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist die Klage auch insoweit begründet, als die Aufhebung der Nummern 3 bis 6 der angefochtenen Entscheidung begehrt wird. Denn die Verpflichtung der Beklagten zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft lässt die Feststellungen in den Nummern 3 bis 6 gegenstandslos werden.
III.
- 32
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 83b AsylG, §§ 154 Abs. 1, 155 Abs. 1 S. 3 VwGO. Die Klagerücknahme in Bezug auf die Asylanerkennung bewertet das Gericht als geringfügiges Unterliegen im Sinne von § 155 Abs. 1 S. 3 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 und 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
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