Beschluss vom Verwaltungsgericht Trier (5. Kammer) - 5 L 2659/19.TR

Tenor

1. Der Antrag wird abgelehnt.

2. Die Kosten des Verfahrens tragen die Antragsteller.

3. Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 3.750,00 € festgesetzt.

Gründe

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Der Antrag der Antragssteller, die aufschiebende Wirkung ihrer Widersprüche vom 18. Februar 2019 gegen die der Beigeladenen seitens der Antragsgegnerin am 15. Januar 2019 erteilte Baugenehmigung zur Nutzungsänderung eines Wohnhauses zu einer stationären Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung mit zehn Plätzen auf dem Grundstück ...Trier, Gemarkung Irsch, ..., anzuordnen, ist zulässig, hat in der Sache jedoch keinen Erfolg.

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Der Antrag ist gem. § 80a Abs. 3 Satz 1 VwGO statthaft und auch ansonsten zulässig. Die als unmittelbare Grundstücksnachbarn ersichtlich widerspruchs- und damit auch antragsbefugten Antragsteller haben insbesondere fristgerecht Widerspruch eingelegt. Dem Widerspruch eines Dritten gegen eine erteilte Baugenehmigung kommt gem. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 212a BauGB keine aufschiebende Wirkung zu. Die Antragsgegnerin hat die ihr gegenüber seitens der Antragsteller zugleich mit der Widerspruchserhebung gestellten Anträge auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Widersprüche mit Bescheid vom 21. März 2019 abgelehnt. Der Stadtrechtsausschuss der Antragsgegnerin hat über die Widersprüche bislang noch nicht entschieden.

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Der zulässige Antrag ist jedoch nicht begründet.

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§ 80 Abs. 5 VwGO gebietet im Falle von §§ 80a Abs. 3, 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 212a Abs. 1 BauGB eine Abwägung zwischen dem Interesse des Bauherrn an der alsbaldigen Verwirklichung des genehmigten Vorhabens und dem privaten Aussetzungsinteresse des belasteten Nachbarn. Bei der Frage, welchem Interesse im Rahmen dieser einzelfallbezogenen Abwägungsentscheidung der Vorrang gebührt, ist zunächst maßgeblich auf die Erfolgsaussichten der Rechtsverfolgung in der Hauptsache abzustellen. Zu diesem Zweck ist die materielle Rechtslage summarisch zu klären, soweit dies im Rahmen des Eilverfahrens notwendig und möglich ist, wobei allein entscheidend ist, ob die angegriffene Baugenehmigung gegen nachbarschützende Vorschriften verstößt. Die objektive Rechtmäßigkeit der Baugenehmigung ist für die Erfolgsaussichten des Nachbarwiderspruches hingegen nicht von Belang.

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Verletzt die Baugenehmigung bei summarischer Prüfung offensichtlich nachbarschützende Rechtspositionen des widerspruchsführenden Dritten, ist die aufschiebende Wirkung anzuordnen, da kein rechtlich schützenswertes Interesse am sofortigen Vollzug einer gegenüber dem insoweit schutzberechtigten Dritten offensichtlich rechtswidrigen Baugenehmigung bestehen kann. Sind die Erfolgsaussichten nach summarischer Prüfung hingegen als noch offenstehend zu bewerten, kommt es entscheidend auf eine Abwägung zwischen den widerstreitenden Interessen an. Dabei fällt maßgeblich ins Gewicht, dass der Gesetzgeber in § 212a Abs. 1 BauGB dem Interesse an der zeitnahen Verwirklichung des genehmigten Bauvorhabens grundsätzlich den Vorrang eingeräumt hat, sodass es weiterer erheblicher Umstände bedarf, um dem Suspensivinteresse des Widerspruchsführers den Vorrang einzuräumen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10. Oktober 2003 - 1 BvR 2025/03 -; OVG Lüneburg, Beschluss vom 25. Januar 2007 - 1 ME 177/06 -; OVG Saarlouis, Beschluss vom 31. März 2006 - 2 W 38/05 -). Bei offenem Prozessausgang kommt dem Vollzugsinteresse des Bauherrn im Rahmen der Interessenabwägung demnach erhebliches Gewicht zu (vgl. BVerwG, Beschluss vom 14. April 2005 - 4 VR 1005.04 -). Insgesamt hat das Gericht allerdings auch im Anwendungsbereich des § 212a Abs. 1 BauGB eine eigene Ermessensentscheidung unter Abwägung der gegenläufigen Interessen und Beachtung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache zu treffen, auch wenn der Gesetzgeber der sofortigen Vollziehung im Verfahren zunächst den Vorrang einräumt (vgl. OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 02. Juli 2013 - 1 B 10480/13.OVG -).

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Vor dem Hintergrund dieser Grundsätze muss dem Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung vorliegend der Erfolg versagt bleiben, da sich die erteilte Baugenehmigung nach summarischer Prüfung der im Rahmen eines Nachbarwiderspruches maßgeblichen Gesichtspunkte als voraussichtlich rechtmäßig darstellt und die Antragsteller nicht in eigenen Rechten verletzt.

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Soweit die Antragsteller zur Begründung ihres Rechtsschutzbegehrens vorbringen, die Nutzung des Gebäudes zur Unterbringung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen sei in einem faktischen reinen Wohngebiet - auch ausnahmsweise - nicht zulässig, rügen sie die Verletzung nachbarschützender Vorschriften über die Art der baulichen Nutzung, denn der Gebietsbewahrungsanspruch gibt den Eigentümern von Grundstücken auch im unbeplanten Innenbereich, wenn die Eigenart der näheren Umgebung einem der Baugebiete der Baunutzungsverordnung - BauNVO - entspricht, denselben Gebietsbewahrungsanspruch wie den Eigentümern von Grundstücken in einem durch Bebauungsplan festgesetzten Bebauungsgebiet (vgl. Sächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 28. Dezember 2016 - 1 B 250/16 -, juris, dort Rn. 9). Eine Verletzung von Rechten der Antragsteller läge daher nur dann vor, wenn das Vorhaben der Beigeladenen aufgrund seiner Art nach der Baunutzungsverordnung in dem Gebiet weder allgemein, noch ausnahmsweise zulässig wäre bzw. es gegen sonstige nachbarschützende Vorschriften verstieße. Dies ist indes nicht der Fall.

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Das streitgegenständliche Grundstück liegt im Geltungsbereich des Teilbebauungsplans Irsch „Irscher Mühle - Hang" welcher von der vormals eigenständigen Gemeinde Irsch im Juli 1962 als Satzung beschlossen wurde und der aufgrund Beschlusses der Antragsgegnerin vom 21. Mai 1992 rückwirkend zum 6. Januar 1963 in Kraft getreten ist. Dabei handelt es sich nach § 30 Abs. 3 BauGB um einen einfachen Bebauungsplan, da im Plan selbst keine der gemäß § 30 Abs. 1 BauGB für das Vorliegen eines qualifizierten Bebauungsplanes u.a. zumindest erforderlichen Festsetzungen über die Art und das Maß der baulichen Nutzung getroffen wurden. Darauf, ob solche Festsetzungen gegebenenfalls in der Begründung des Bebauungsplanes getroffen wurden, kommt es nicht an, da sich aus §§ 9 Abs. 8 Satz 1, 10 Abs. 3 Satz 2 und 4 BauGB ergibt, dass die Begründung des Bebauungsplans an dessen Charakter nicht teilnimmt und vor allem nicht rechtsverbindlich wird (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. März 2004 - 4 CN 4/03 - sowie Urteil vom 18. September 2003 - 4 CN 3/02 -, beide juris, sowie EZBK/Söfker, BauGB, § 9 Rn 288 ff).

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Vorliegend richtet sich die Zulässigkeit der genehmigten Nutzungsänderung daher gem. § 30 Abs. 3 BauGB - da das Vorhaben innerhalb des im Zusammenhang bebauten Ortsteiles liegt - nach § 34 BauGB. Nach dessen Abs. 2 beurteilt sich die Zulässigkeit eines Vorhabens - wenn die Eigenart der näheren Umgebung einem der Baugebiete entspricht, die in der BauNVO bezeichnet sind - allein danach, ob es nach der BauNVO in dem entsprechenden Baugebiet allgemein zulässig wäre; auf die nach der BauNVO in dem Gebiet ausnahmsweise zulässigen Vorhaben ist in diesem Fall § 31 Abs. 1 BauGB entsprechend anzuwenden.

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Nach Aktenlage und der übereinstimmenden Einschätzung der Beteiligten handelt es sich nach der Gebietsstruktur vorliegend um ein faktisches reines Wohngebiet im Sinne des § 3 BauNVO. Die Vorschrift ist auch in ihrer aktuell gültigen Fassung anzuwenden, da sich die Zulässigkeit eins Vorhabens nur dann anhand früherer Fassungen der BauNVO orientiert, wenn die entsprechenden Vorschriften durch die diesbezüglichen Festsetzungen Bestandteil des Bebauungsplans geworden sind (vgl. Rieger in Schrödter, BauGB, 9. Aufl., § 30 Rn 10; BeckOK BauNVO/Hornmann, 17. Ed., § 3 Rn 200), was vorliegend - wie bereits oben dargelegt - aber gerade nicht der Fall ist, da im Bebauungsplan „Irscher Mühle - Hang" keine Festsetzungen zur Art der baulichen Nutzung getroffen wurden.

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Allgemein zulässig sind in einem reinen Wohngebiet nach § 3 Abs. 2 Nr. 1 BauNVO in erster Linie Wohngebäude, und nach der dortigen Nr. 2 zudem Anlagen zur Kinderbetreuung, die den Bedürfnissen der Bewohner des Gebiets dienen. Ein Wohngebäude ist ein Gebäude, das dem Wohnen dient (BeckOK BauNVO/Hornmann § 3 Rn. 63). Der städtebauliche Begriff des Wohnens ist gesetzlich nicht bestimmt. Nach allgemeiner Meinung bedeutet Wohnen im bauplanungsrechtlichen Sinne eine auf gewisse Dauer angelegte, eigenständige Gestaltung des häuslichen Lebens auf der Grundlage eines freiwilligen Aufenthalts (vgl. BeckOK a.a.O. Rn 66 f. mit weiteren Nachweisen). Anlagen zur Kinderbetreuung sind Kindertageseinrichtungen (Kindergärten, -tagesstätten, - krippen und Säuglingsheime für Kinder im Sinne der sozialrechtlichen Legaldefinition des § 7 Abs. 1 Nr. 1 SGB VIII, d.h. Betreuungseinrichtungen für Personen, die das vierzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet haben - vgl. BeckOK, a.a.O., Rn 124 bis 125).

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Vorliegend handelt es sich daher bei der von der Beigeladenen geplanten Einrichtung weder um ein Wohngebäude, noch um eine Anlage zur Kinderbetreuung, denn nach der von der Beigeladenen vorgelegten Leistungsbeschreibung vom 11. Juni 2018 sollen in dem früheren Wohngebäude zehn Plätze für stationäre Hilfen zur Erziehung inklusive Anschlussmaßnahmen gem. §§ 27, 34, 35a, 36, 37, 42 und 42 a bis f SGB VIII für unbegleitete und begleitete minderjährige Flüchtlinge im Aufnahmealter vom 6. bis zum 14. Lebensjahr (männlich) und im Aufnahmealter von 6. bis zum 17. Lebensjahr (weiblich) zur Verfügung gestellt werden. Die Beigeladene stellt mit ihrem geplanten Vorhaben eine stationäre Heimerziehung inklusive Anschlussmaßnahmen für unbegleitete und begleitete minderjährige Flüchtlinge zur Verfügung. Es handelt sich bei der Einrichtung um eine Organisation ohne Erwerbszweck. Neben der vollstationären Betreuung der Flüchtlinge in Gruppen und der Betreuung im Schichtdienst soll die Einrichtung u.a. der Sicherstellung der Erstversorgung, des Clearings und der Begleitung im Aufenthaltsverfahren dienen. Dazu sollen auch Büroeinheiten in die Einrichtung integriert werden. Des Weiterem steht im Mittelpunkt die kulturelle Orientierung sowie die Entwicklung und Festigung sozialer und emotionaler Kompetenzen. Es sollen regelmäßige Schul-, Praktikums- oder Ausbildungsbesuche stattfinden. Weiterhin sollen die Betroffenen auf eine selbstständige Lebensführung vorbereitet werden und die deutsche Sprache im Alltag durch interne Sprachkurse erwerben, fördern oder festigen. Die Betreuung soll an 365 Tagen im Jahr erfolgen. Zwischen 22:00 Uhr abends und 6:00 Uhr morgens soll eine Nachtbereitschaft im Haus schlafen. Darüber hinaus soll außerhalb der üblichen Bürozeiten eine Hintergrundbereitschaft der Pädagogischen Leitung erreichbar sein. Zusätzlich zur Nachtbereitschaft soll dienstplanmäßig eine Rufbereitschaft des Teams organisiert werden. Weiterhin soll den jungen Menschen während der gesamten Hilfsmaßnahme ein persönlich verantwortlicher Erzieher zugeordnet werden. Zudem sollen massiv delinquente, selbst- oder fremdgefährdende Flüchtlinge oder solche mit einer akuten Suchtproblematik, einer schwerwiegenden geistigen Behinderung oder psychischen Erkrankung nicht in der Einrichtung untergebracht werden.

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Demgemäß handelt es sich bereits mangels Freiwilligkeit des Aufenthalts der dort unterzubringenden Flüchtlinge in der Einrichtung nicht um eine Nutzung des Gebäudes zu Wohnzwecken und bereits aufgrund der Altersstruktur nicht um eine Anlage zur Kinderbetreuung.

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Allerdings kann die Einrichtung in einem reinen Wohngebiet ausnahmsweise gem. § 3 Abs.2 Nr. 2 BauNVO als „sonstige Anlage für soziale Zwecke" zugelassen werden. Da auch die sonstigen für die ausnahmsweise Zulassung des Vorhabens in einem faktischen Wohngebiet gem. §§ 34 Abs. 2, 31 Abs. 1 BauGB erforderlichen Voraussetzungen vorliegend gegeben sind, bestehen gegen die Zulassung der Einrichtung durch die Antragsgegnerin seitens der Kammer keine Bedenken. Zwar steht die ausnahmsweise Zulassung des Vorhabens der Beigeladenen nach § 31 Abs. 1 BauGB im Ermessen der Behörde. Vorliegend handelt es sich jedoch aufgrund von § 246 Abs. 11 BauGB um ein intendiertes Ermessen, d. h. die in § 31 Abs. 1 BauGB enthaltene „Kann-Bestimmung" wird dergestalt eingeschränkt, dass für die Flüchtlingsunterbringung in der Regel eine Ausnahme erteilt werden soll (vgl. BT-Drs. 18/6185, S. 74; Battis/Krautzberger/Löhr/Mitschang/Reidt BauGB § 246 Rn. 31). Soweit in den Baugebieten nach §§ 2-7 BauNVO - auch i.V.m. § 34 Abs. 2 BauGB - Anlagen für soziale Zwecke als Ausnahme zugelassen werden können, gelten §§ 246 Abs. 11, 31 Abs. 1 BauGB mit der Maßgabe, dass dort bis zum 31. Dezember 2019 Aufnahmeeinrichtungen, Gemeinschaftsunterkünfte oder sonstige Unterkünfte für Flüchtlinge oder Asylbegehrende in der Regel zugelassen werden sollen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Genehmigung zu befristen wäre, denn § 246 Abs. 17 BauGB bestimmt, dass sich die Befristung bis zum 31. Dezember 2019 in den Abs. 8 bis 16 der Norm nicht auf die Geltungsdauer einer Genehmigung bezieht, sondern auf den Zeitraum, bis zu dessen Ende im bauaufsichtlichen Zulassungsverfahren von den Vorschriften Gebrauch gemacht werden kann (vgl. SächsOVG, a.a.O., Rn. 7).

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Es bedarf somit besonderer Gründe, wenn die Erteilung einer Ausnahme verweigert werden soll. Solche sind vorliegend jedoch nicht ersichtlich. Die Zulassung einer Ausnahme verlangt weder das Vorliegen eines Sonderfalls, noch, dass es sich bei der Einrichtung um eine Notunterkunft handelt. Bei der Zulassung von Ausnahmen sind der Baugenehmigungsbehörde jedoch auch Grenzen gesetzt. Nach der ständigen Rechtsprechung des BVerwG grenzt die in der BauNVO festgelegte typische Funktion der Baugebiete, die in dem jeweiligen Gebiet zulässigen Nutzungen dahingehend ein, dass diese mit der Zweckbestimmung des Baugebiets - hier dem reinen Wohngebiet - vereinbar sein muss. Dieses ungeschriebene Erfordernis der Gebietsverträglichkeit gilt nicht nur für die in dem Baugebiet allgemein zulässigen, sondern auch für die nur ausnahmsweise zulässigen Nutzungen (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 13. Mai 2002 - 4 B 86/01 -, NVwZ 2002, S. 1384; 28. Februar 2008 - 4 B 60/07 -, NVwZ 2008, S. 786 und Urteil vom 18. November 2010 - 4 C 10/09 -, NVwZ 2011, S. 748).

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Ob das Vorhaben der Beigeladenen mit der allgemeinen Zweckbestimmung des reinen Wohngebiets unverträglich ist, ist davon abhängig, ob dieses seiner Art nach generell dazu geeignet ist, ein bodenrechtlich beachtliches Störpotenzial zu entfalten, das sich mit der Zweckbestimmung des Baugebiets - hier dem Wohnen - nicht verträgt. Dabei ist maßgeblich, welche Auswirkungen typischerweise von dem streitgegenständlichen Vorhaben, insbesondere nach seinem räumlichen Umfang, der Zahl der unterzubringenden Personen, dem vorhabenbedingten An- und Abfahrtsverkehr sowie der zeitlichen Dauer dieser Auswirkungen und ihrer Verteilungen auf die Tages- und Nachtzeiten, ausgehen. Das individuelle und mehr oder weniger störende oder als störend empfundene Verhalten der Bewohner ist dabei nicht entscheidend (vgl. VGH Kassel, Beschluss vom 18. September 2015 - 3 B 1518/15, NVwZ 2016, S. 88f.; VGH Mannheim, Beschluss vom 6. Oktober 2015 - 3 S 1695/15 -, NVwZ 2015, S. 1781f.). Das vorliegende Vorhaben der Beigeladenen bildet nach der Leistungsbeschreibung der Beigeladenen kein bodenrechtliches beachtliches Störpotenzial, welches sich mit der Zweckbestimmung des reinen Wohngebiets nicht verträgt. Die Art der Nutzung ist dem Wohnen ähnlich. Das Vorhaben ist auch nach den weiteren genannten Kriterien nicht generell geeignet, den Charakter eines reinen Wohngebiets zu stören.

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Ferner ergibt sich eine Unzulässigkeit des Vorhabens vorliegend auch nicht aus § 15 Abs. 1 BauNVO. Diese Vorschrift gilt nicht nur für Vorhaben, die den Festsetzungen des Bebauungsplans nicht widersprechen, sondern - erst recht - für Vorhaben, die nur im Wege einer Ausnahme zugelassen werden können. Nach § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO ist eine sonstige Anlage zu sozialen Zwecken somit unzulässig, wenn die nach Anzahl, Lage, Umfang oder Zweckbestimmung der Eigenart des reinen Wohngebiets widerspricht. Des Weiteren ist eine solche nach § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO auch dann unzulässig, wenn von ihr Belästigungen oder Störungen ausgehen können, die nach der Eigenart des reinen Wohngebiets im Baugebiet selbst oder in dessen Umgebung unzumutbar sind. Dabei handelt es sich um das dort verankerte Gebot der Rücksichtnahme. Welche Anforderungen dieses Gebot konkret begründet, hängt im Wesentlichen von den jeweiligen Umständen des Einzelfalls ab. Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung derer ist, denen die Rücksichtnahme im gegebenen Zusammenhang zugute kommt, desto mehr kann an Rücksichtnahme verlangt werden. Je verständlicher und unabweisbarer die mit dem Vorhaben verfolgten Interessen sind, umso weniger braucht derjenige, der das Vorhaben verwirklichen will, Rücksicht zu nehmen. Für eine sachgerechte Beurteilung kommt es danach im Wesentlichen auf eine Abwägung zwischen dem, was einerseits dem Rücksichtnahmebegünstigten und andererseits dem Rücksichtnahmeverpflichteten nach Lage der Dinge zuzumuten ist (vgl. VG Sigmaringen, Beschluss vom 18. September 2018 - 7 K 4174/18 -, BeckRS 2018, 22789).

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Gegen die Zulassung einer Ausnahme bestehen vorliegend jedoch auch in dieser Hinsicht keine Bedenken der Kammer. Es ist nicht davon auszugehen, dass von dem Vorhaben Belästigungen oder Störungen ausgehen können, die nach der Eigenart des reinen Wohngebiets im Baugebiet selbst oder in dessen Umgebung unzumutbar sind. Die Zahl der unterzubringenden Flüchtlinge ist überschaubar. Ein Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot ist demnach im vorliegenden Fall nicht zu erkennen.

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Auch mit dem weiteren Einwand der Antragssteller, die Baugenehmigung sei trotz fehlender Erschließung erteilt worden, können diese nicht durchdringen. Das Erfordernis einer gesicherten planungsrechtlichen Erschließung ist nicht nachbarschützend. Es dient allein dem öffentlichen Interesse an einer geordneten städtebaulichen Entwicklung (vgl. EZBK/Söfker, BauGB § 30 Rn. 56).

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Nach alledem ist die erteilte Baugenehmigung im Hinblick auf die hier allein maßgeblichen nachbarschützenden Vorschriften aller Voraussicht nach rechtmäßig ergangen. Infolge dessen ist der vorliegende Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs abzulehnen.

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Die Kosten des Verfahrens haben die Antragsteller gemäß § 154 Abs. 1 VwGO zu tragen. Dabei sieht die Kammer keine Veranlassung, den Antragstellern gemäß § 162 Abs. 3 VwGO auch die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen aufzuerlegen, denn die Beigeladene hat sich nicht durch Stellung eines eigenen Antrags dem Risiko ausgesetzt, im Falle des Unterliegens gemäß § 154 Abs. 3 VwGO mit Verfahrenskosten belastet zu werden (vgl. hierzu auch OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 16. März 1995 - 8 A 12977/94. OVG -).

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Die Streitwertfestsetzung ergeht auf Grundlage von §§ 53 Abs. 2, 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Ziff. 9.7.1. und 1.5 des von den Richtern der Verwaltungsgerichtsbarkeit erarbeiteten Streitwertkataloges 2013 (LKRZ 2014, 169).

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