Beschluss vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg - 11 S 990/19

Tenor

Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 1. März 2019 - 5 K 94/19 - geändert.

Der Antrag des Antragstellers, die aufschiebende Wirkung seiner beim Verwaltungsgericht Karlsruhe anhängigen Klage (5 K 93/19) gegen die Verfügung des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 11. Dezember 2018 wiederherzustellen beziehungsweise anzuordnen, wird abgelehnt.

Dem Antragsgegner wird vorläufig untersagt, die Abschiebung des Antragstellers zu vollziehen, bis gewährleistet ist, dass der Antragsteller unmittelbar nach Durchführung der Abschiebung im Zielstaat unbefristet Aufnahme in einer sozialtherapeutischen Fürsorgeeinrichtung findet.

Der Antragsteller trägt zwei Drittel und der Antragsgegner ein Drittel der Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.

Der Streitwert wird für beide Rechtszüge auf 7.500,- EUR festgesetzt.

Gründe

 
Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den im Tenor bezeichneten Beschluss des Verwaltungsgerichts Karlsruhe ist zulässig (nachfolgend 1.). Sie ist auch begründet, soweit sie sich gegen die Entscheidung des Verwaltungsgerichts richtet, dem auf die Verfügung des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 11. Dezember 2018 bezogenen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO stattzugeben (nachfolgend 2.). Dagegen hat der Antragsteller mit seinem hilfsweise gestellten Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO Erfolg (nachfolgend 3.).
1. Die nach § 146 Abs. 1 und 4 VwGO statthafte Beschwerde ist zulässig. Der Antragsgegner hat die Beschwerde fristgerecht (§ 147 Abs. 1 VwGO) erhoben und gemäß den gesetzlichen Anforderungen (§ 146 Abs. 4 Satz 1 bis 3 VwGO) begründet.
2. Die Beschwerde des Antragsgegners ist auch begründet, soweit sie sich gegen die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Karlsruhe richtet, die aufschiebende Wirkung der beim Verwaltungsgericht anhängigen Klage des Antragstellers gegen die Verfügung des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 11. Dezember 2018 (5 K 93/19) gemäß § 80 Abs. 5 VwGO in Bezug auf die Ziffer 1 der angefochtenen Verfügung (Ausweisung) wiederherzustellen und in Bezug auf deren Ziffern 2 (Abschiebungsandrohung), 4 (Ausreiseaufforderung) und 6 (Einreise- und Aufenthaltsverbot) anzuordnen. Die im Eilrechtsschutzverfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO unter Beachtung der verfassungsrechtlichen Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG; vgl. hierzu im vorliegenden Zusammenhang BVerfG, Beschlüsse vom 29.01.2020 - 2 BvR 690/19 -, juris Rn. 16, und vom 08.05.2019 - 2 BvR 657/19 -, juris Rn. 33) vorzunehmende Abwägung des Vollzugsinteresses der Allgemeinheit mit dem Aussetzungsinteresse des Rechtsschutz Suchenden führt im vorliegenden Verfahren bei der gebotenen Orientierung an den Erfolgsaussichten des Rechtsschutzanliegens im Hauptsacheverfahren zu einem Überwiegen des Vollzugsinteresses der Allgemeinheit.
Die mit dem angefochtenen Bescheid verfügte Ausweisung des Antragstellers (nachfolgend a)), die an ihn gerichtete Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung sowie die verfügten Einreise- und Aufenthaltsverbote (nachfolgend b)) sind nach der im Eilrechtsschutzverfahren gebotenen summarischen Prüfung nach Aktenlage zum - hier maßgeblichen - Zeitpunkt der Entscheidung des erkennenden Senats voraussichtlich rechtmäßig. Dabei hat sich der Senat mit den einschlägigen Behördenakten des Regierungspräsidiums Karlsruhe, den auf den Antragsteller bezogenen Gefangenenpersonalakten der Justizvollzugsanstalt ... (Buchnummer ...), der auf den Antragsteller bezogenen Gerichtsakte des Amtsgerichts ... - Betreuungsgericht - (Az. ...), den Akten des Verwaltungsgerichts Karlsruhe zum Klage- und Eilrechtsschutzverfahren des Antragstellers (5 K 93/19 und 5 K 94/19), dem Vorbringen der Beteiligten im vorliegenden Beschwerdeverfahren sowie mit den im Schreiben des Vorsitzenden vom 4. Juni 2020 an die Beteiligten bezeichneten Erkenntnismitteln zur Lage im Kosovo auseinandergesetzt.
Da mit Blick auf § 80 Abs. 3 VwGO auch keine Zweifel an der formalen Ordnungsmäßigkeit der Sofortvollzugsanordnung des Regierungspräsidiums Karlsruhe (Ziffer 3 des angefochtenen Bescheids des Regierungspräsidiums) bestehen, wird der Eilrechtsschutzantrag des Antragstellers nach § 80 Abs. 5 VwGO nun abgelehnt.
a) Die mit dem angefochtenen Bescheid verfügte Ausweisung des Antragstellers ist voraussichtlich rechtmäßig. Sie verletzt den Antragsteller voraussichtlich nicht in eigenen Rechten.
aa) Die Ausweisung des Antragstellers findet ihre Rechtsgrundlage in § 53 Abs. 1 AufenthG. Danach wird ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls vorzunehmende, am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geleitete Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt. Die Maßstäbe, die der rechtlichen Beurteilung einer Ausweisungsverfügung zugrunde zu legen sind, hat das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 22. Februar 2017 geklärt (BVerwG, Urteil vom 22.02.2017 - 1 C 3.16 -, juris Rn. 19 ff.) und in nachfolgenden Entscheidungen bestätigt (vgl. BVerwG, Urteile vom 25.07.2017 - 1 C 12.16 -, juris Rn. 15 ff., und vom 09.05.2019 - 1 C 21.18 -, juris Rn. 13 ff.). Danach können sowohl spezial- als auch generalpräventive Gründe eine Ausweisung rechtfertigen (zur Berücksichtigungsfähigkeit der Generalprävention im aktuell geltenden Ausweisungsrecht vgl. BVerwG, Urteil vom 09.05.2019 - 1 C 21.18 -, juris Rn. 17; einschränkend für den Fall der Ausweisung eines faktischen Inländers allerdings Dörig, in: ders., Handbuch Migrations- und Integrationsrecht, 2018, § 5 Rn. 540). Auch der erkennende Senat legt diese Maßstäbe seiner Rechtsprechung zugrunde (vgl. aus jüngerer Zeit VGH Bad.-Württ., Beschlüsse vom 21.01.2020 - 11 S 3477/19 -, juris Rn. 36 ff., vom 07.10.2019 - 11 S 1835/19 -, juris Rn. 9, und vom 19.07.2019 - 11 S 1631/19 -, juris Rn. 14).
bb) Der erkennende Senat hat keinen Zweifel, dass der Aufenthalt des Antragstellers im Bundesgebiet die öffentliche Sicherheit und Ordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland im Sinne des § 53 Abs. 1 AufenthG aktuell gefährdet.
(1) Der Umstand, dass nach § 53 Abs. 1 AufenthG relevante öffentliche Interessen durch den Aufenthalt des Antragstellers im Bundesgebiet berührt werden, ergibt sich bereits daraus, dass in der Person des Antragstellers Tatbestände des § 54 AufenthG erfüllt sind und damit ein besonders schwer wiegendes Interesse an der Ausweisung des Antragstellers besteht. Der erkennende Senat teilt die Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass den Tatbeständen des § 54 AufenthG eine Doppelfunktion zukommt. Zum einen handelt es sich bei ihnen um gesetzliche Umschreibungen spezieller öffentlicher Interessen, die zugleich den nach § 53 Abs. 1 AufenthG relevanten öffentlichen Interessen zuzuordnen sind. Zum anderen sind die Tatbestände des § 54 AufenthG für die nach § 53 Abs. 1 und 2 AufenthG vorzunehmende Interessenabwägung von Bedeutung; denn sie weisen dem mit ihrer Verwirklichung anzunehmenden öffentlichen Interesse an einer Ausweisung besonderes Gewicht im Verhältnis zu anderen berücksichtigungsbedürftigen Interessen zu.
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Der Antragsteller erfüllt aufgrund seiner jugendgerichtlichen Verurteilung wegen versuchten schweren Raubes und seiner strafgerichtlichen Verurteilung wegen Vergewaltigung ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG sowie nach § 54 Abs. 1 Nr. 1a Buchstaben c und d AufenthG. Die Eintragungen dieser Verurteilungen im Zentralregister sind nicht tilgungsreif (vgl. §§ 45 bis 47 BZRG). Ein Verwertungsverbot ist noch nicht eingetreten (§ 51 BZRG). Die Verurteilungen sind daher im vorliegenden Zusammenhang zu berücksichtigen.
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(2) Die mit der Verwirklichung der Tatbestände des § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG sowie § 54 Abs. 1 Nr. 1a Buchstaben c und d AufenthG im Grundsatz indizierte Gefährdung öffentlicher Interessen im Sinne des § 53 Abs. 1 AufenthG besteht mit hoher Wahrscheinlichkeit auch noch im Zeitpunkt der Entscheidung des erkennenden Senats.
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Dabei kann offen bleiben, ob sich die Ausweisung des Antragstellers auf - vom Verwaltungsgericht nicht berücksichtigte - generalpräventive Gründe stützen lässt. Denn der erkennende Senat gelangt unter den aktuell gegebenen Umständen zu der Prognose, dass vom Antragsteller mit hoher Wahrscheinlichkeit individuell die Gefahr der Begehung neuer Verfehlungen (Wiederholungsgefahr) ausgeht, so dass ein relevantes spezialpräventives Interesse an der Ausweisung des Antragstellers besteht.
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(a) Für die Beurteilung, ob nach dem Verhalten des Ausländers damit zu rechnen ist, dass er erneut öffentliche Interessen im Sinne des § 53 Abs. 1 AufenthG gefährdet, bedarf es einer Prognose, bei der der Grad der Wahrscheinlichkeit neuer Verfehlungen sowie Art und Ausmaß möglicher Schäden zu ermitteln und zueinander in Bezug zu setzen sind. Für die im Rahmen der Prognose festzustellende Wiederholungsgefahr gilt ein mit zunehmendem Ausmaß des möglichen Schadens abgesenkter Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts; an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (BVerwG, Urteil vom 04.10.2012 - 1 C 13.11 -, juris Rn. 18; VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 21.01.2020 - 11 S 3477/19 -, juris Rn. 39, und Urteil vom 15.11.2017 - 11 S 1555/16 -, juris Rn. 48).
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Bei der gerichtlichen Überprüfung einer Ausweisungsverfügung darf sich das Verwaltungsgericht nicht darauf beschränken, die von der Ausländerbehörde angestellte Prognose auf ihre Tragfähigkeit zu untersuchen. Das Gericht hat vielmehr eine eigenständige, auf die Umstände im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung bezogene Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen (BVerwG, Urteile vom 13.12.2012 - 1 C 20.11 -, juris Rn. 23, vom 16.11.2000 - 9 C 6.00 -, juris Rn. 17, und vom 28.01.1997 - 1 C 17.94 -, juris Rn. 23; VGH Bad.-Württ., Beschlüsse vom 21.01.2020 - 11 S 3477/19 -, juris Rn. 40, und vom 12.04.2018 - 11 S 428/18 -, juris Rn. 18). Zu den relevanten Umständen, die bei der Prognose zu berücksichtigen sind, können die Höhe der verhängten Strafe gehören, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt, eine Sozialprognose, die einer etwaigen Entscheidung über die Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung zugrunde liegt, die in der Tat zum Ausdruck kommende kriminelle Energie, ob der Kläger in dasselbe soziale Umfeld, aus dem heraus er die Tat begangen hat, zurückgekehrt ist oder zurückkehren wird und welche Auswirkungen dies gegebenenfalls auf die Wahrscheinlichkeit einer Wiederholungsgefahr hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 16.11.2000 - 9 C 6.00 -, juris Rn. 19; VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 21.01.2020 - 11 S 3477/19 -, juris Rn. 40, und Urteil vom 15.11.2017 - 11 S 1555/16 -, juris Rn. 48).
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(b) In Anwendung dieses Maßstabs prognostiziert der erkennende Senat, dass vom Antragsteller auch gegenwärtig eine relevante Gefahr der Begehung weiterer erheblicher Straftaten ausgeht. Dabei berücksichtigt der Senat, dass die zwei vom Antragsteller zuletzt verübten Straftaten jeweils mit körperlicher Gewalt gegen Personen verbunden waren und dass der Antragsteller die sexuelle Selbstbestimmung einer Frau missachtet hat.
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Die verfassungsrechtlich bedingte (Art. 2 Abs. 1 und 2 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG) und vom Gesetzgeber durch die Gestaltung des Katalogs des § 54 AufenthG nachdrücklich unterstrichene herausgehobene Bedeutung der verletzten Schutzgüter körperliche Integrität und sexuelle Selbstbestimmung rechtfertigt es, keine hohen Anforderungen an die Prognose einer relevanten Wiederholungsgefahr zu stellen. Dies gilt im vorliegenden Fall umso mehr, als beiden Verurteilungen des Antragstellers Taten zugrunde lagen, in denen zwischen dem Antragsteller und seinem Opfer keine spezifische, den Tathergang prägende Nähebeziehung bestanden hat, die eine Wiederholung ähnlicher Geschehensabläufe wenig wahrscheinlich macht. Vielmehr war der Antragsteller seinen Opfern nicht oder nur wenig bekannt. Seine Übergriffe beruhten auf eher spontanen Entschlüssen und trafen die Opfer jeweils völlig überraschend.
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(aa) Der erkennende Senat verweist insofern zur weiteren Begründung zunächst auf die zutreffenden Ausführungen in den Gründen des angegriffenen Beschlusses des Verwaltungsgerichts (vgl. dort Seiten 12 bis 16). Das Verwaltungsgericht ist in überzeugender Weise zu der Prognose gelangt, dass vom Antragsteller eine relevante Wiederholungsgefahr ausgeht. Diese Erkenntnis hat es nach Auseinandersetzung mit den vom Antragsteller begangenen Straftaten, den Führungsberichten der Justizvollzugsanstalt ..., dem Prognosegutachten des Herrn Dr. ... vom 17. Juli 2018 und dem Bericht des Landeskriminalamts vom 13. Dezember 2018 gewonnen, mit dem der Antragsteller in die Risikokategorie 1 für Sexualstraftäter eingestuft wurde. Außerdem hat sich das Verwaltungsgericht vom Antragsteller und Menschen aus seinem näheren Umfeld in der mündlichen Verhandlung am 1. März 2019 einen unmittelbaren Eindruck verschafft. In dieser Verhandlung hat es darüber hinaus Herrn Dipl.-Psych. ... von der Justizvollzugsanstalt ... als sachverständigen Zeugen angehört. Die Ausführungen des Verwaltungsgerichts zur Herleitung seiner Prognose sind ohne Weiteres nachvollziehbar und plausibel. Der Antragsteller hat im vorliegenden Beschwerdeverfahren auch keine Umstände vorgetragen, die geeignet wären, die vom Verwaltungsgericht im Zeitpunkt der Entscheidung der Kammer getroffene Prognose in Zweifel zu ziehen. Der erkennende Senat macht sich daher die Überlegungen des Verwaltungsgerichts zu eigen.
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(bb) Die seit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts eingetretenen neueren Entwicklungen geben aus Sicht des erkennenden Senats keinen Anlass für die Annahme, dass die vom Antragsteller ausgehende Wiederholungsgefahr im Laufe des Beschwerdeverfahrens entfallen ist.
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Der Antragsteller macht insofern geltend, dass er im Sommer vergangenen Jahres Aufnahme in der Familie seines in ... lebenden Onkels ... ... gefunden habe. Er wohne nun in einer von ihm allein genutzten Mietwohnung in ..., die für ihn durch Mitglieder der Familie ... finanziert werde. Enger Kontakt bestehe insbesondere zu seinem Cousin ... ..., der ihn zeitweilig sogar in der eigenen Wohnung aufgenommen habe und einen Kiosk in der Nähe der neuen Mietwohnung betreibe. Mit diesem treffe er sich täglich. Man esse zusammen und Herr ... kümmere sich um ihn. Außerdem bestehe Kontakt zu seinem Bruder ... sowie - organisiert durch seinen Bruder - zu seiner Mutter (...) und seiner Schwester (...). Darüber hinaus bestehe nach wie vor eine durch persönliche Kontakte gepflegte Beziehung zum Ehepaar ..., das früher als Pflegeeltern des Antragstellers und bis Mitte Januar 2020 als dessen rechtliche Betreuer fungiert hat. Umfangreiche Bemühungen der Eheleute ... und der zuständigen Sozialbehörde, den Antragsteller nach seiner Entlassung aus der Strafhaft in eine für ihn geeignete sozialtherapeutische Fürsorgeeinrichtung unterzubringen, seien zwar gescheitert. Mit dem Umzug des Antragstellers nach ..., seiner Aufnahme in die Familie ... und seinem fortbestehenden Kontakt zur Familie ... sei aber gewährleistet, dass er regelmäßig Ansprache und Unterstützung bei der Bewältigung der an ihn gestellten Herausforderungen finde. Dies spiegle sich auch darin wider, dass er sich seit seiner Entlassung aus der Strafhaft im März 2019 insgesamt gut führe.
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Aus Sicht des erkennenden Senats ist damit aber die im Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts bestehende Wiederholungsgefahr in der Person des Antragstellers weder gebannt noch in relevanter Weise entschärft.
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Insofern berücksichtigt der Senat, dass das Bestehen eines familiären Unterstützungsrahmens den Antragsteller auch in der Vergangenheit nicht davon abgehalten hat, schwere Straftaten zu begehen. Im jeweiligen Zeitpunkt der Begehung des Delikts war der Antragsteller in den Haushalt von Pflegeeltern integriert und erhielt von ihnen Versorgung, Struktur und Anleitung. Weder aus den Darlegungen des Antragstellers noch aus dem sonstigen Inhalt der Akten ist ersichtlich, weshalb die Einbindung des Antragstellers in die Familie ... besser als frühere Unterbringungen in Pflegefamilien geeignet sein sollte, den Antragsteller davon abzuhalten, erneut straffällig zu werden. Dies gilt umso mehr, als der Antragsteller nicht in familiärer Gemeinschaft mit Mitgliedern der Familie ... lebt, sondern nun einen eigenen Haushalt führt. Weder dem Vorbringen des Antragstellers noch aus sonstigen Erkenntnissen lässt sich ableiten, dass sich der Antragsteller nach seiner Haftentlassung mit der Aufarbeitung der von ihm verübten Straftaten befasst hätte oder dass diesbezüglich therapeutische Schritte unternommen worden wären. Angesichts der vorliegenden fachärztlichen Einschätzung zu den Veranlagungen, Möglichkeiten und Einschränkungen des Antragstellers (vgl. insofern das psychiatrische Prognosegutachten von Herrn Dr. ... vom 17. Juli 2018) und den im Betreuungsverfahren ... vor dem Amtsgericht ... - Betreuungsgericht - zu den Geschehnissen im Frühjahr und Sommer 2019 hinzugewonnenen Erkenntnissen kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass der Antragsteller nach seiner Haftentlassung ohne weiteres Zutun einen Reifungsprozess durchlaufen hat, der eine künftige Straffälligkeit unwahrscheinlich macht.
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Hinzu kommt folgender Aspekt: Es mag zwar zutreffen, dass der Antragsteller mit der im Herbst 2019 erfolgten faktischen Aufnahme in die Familie seines Onkels einen Rahmen gefunden hat, der ihm derzeit einen gewissen Halt gibt. Der Antragsteller erhält aus der Familie finanzielle Unterstützung, persönliche Zuwendung und auch praktische Hilfe in organisatorischen Angelegenheit. Die Tragfähigkeit dieses Rahmens wird man allerdings derzeit nicht sehr hoch veranschlagen können. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Antragsteller keineswegs im Haushalt seines Onkels oder seines Cousins lebt. Vielmehr bewohnt er - abweichend von der gegen ihn aufenthaltsrechtlich verfügten Auflage zur Wohnsitznahme in der Gemeinde ... - allein eine Wohnung in .... Über regelmäßige Kontakte zu Mitgliedern der Familie ... und über seine Einbindung in das Familienleben ist dem Vortrag des Antragstellers und der von ihm vorgelegten eidesstattlichen Versicherung seines Cousins ...-... ... vom 22. Mai 2020 nur so viel zu entnehmen, dass man den Antragsteller „wie einen Bruder oder Sohn“ behandle. Tägliche Kontakte bestünden zum Cousin ... .... Man treffe sich im nahe gelegenen Kiosk seines Cousins und esse auch zusammen. Im Übrigen kümmere man sich um den Antragsteller und finanziere ihm die Wohnung.
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Wie lange die Familie seines Onkels noch bereit ist, den Antragsteller nachhaltig finanziell und persönlich zu unterstützen, ist allerdings ungewiss. Nach den bislang über den Antragsteller gewonnenen Erkenntnissen ist zudem unwahrscheinlich, dass die Kontakte des Antragstellers zur Familie ... in ihrer Intensität und konkreten Art ihrer Ausgestaltung ausreichen, dem Antragsteller den erforderlichen stabilen, verlässlichen und von ihm akzeptierten Ordnungsrahmen zu schaffen, der erforderlich wäre, den Antragsteller in - jederzeit möglichen - Konflikt- oder Verleitungssituationen davon abzuhalten, weitere Straftaten zu begehen.
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In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass bis in den Sommer 2019 keine Anhaltspunkte auf die Möglichkeit des Antragstellers hingedeutet haben, in der Familie seines Onkels nachhaltig Aufnahme und praktische Unterstützung zu finden. So lässt sich weder dem Vortrag des Antragstellers noch den beigezogenen Akten entnehmen, dass er vor oder während der Dauer seiner Strafhaft mit seinem Onkel oder seinem Cousin regelmäßigen intensiven Kontakt gepflegt hat. Für die Zeit der Inhaftierung des Antragstellers weist Herr ... ... in seiner eidesstattlichen Versicherung vom 22. Mai 2020 darauf hin, dass der Antragsteller entsprechende Kontakte aus Scham wegen seiner Inhaftierung sogar abgelehnt habe. Auch bei seiner Entlassung im März 2019 bestand für den Antragsteller offenbar noch keine Perspektive, in der Familie seines Onkels Aufnahme zu finden. So geht aus der vom Antragsteller vorgelegten eidesstattlichen Versicherung des Herrn ... ... vom 22. Mai 2020 deutlich hervor, dass sich die Eheleute ... nur widerstrebend bereit erklärt haben, ihn nach der Haft wieder in ihren Haushalt aufzunehmen. Dies sei letztlich nur geschehen, um abzuwenden, dass der Antragsteller „auf die Straße“ entlassen werde. Die Aufnahme in die Familie ... ist vielmehr - als vorläufige Notmaßnahme (vgl. hierzu das Schreiben des Herrn ... vom 15. September 2019 an das Amtsgericht ... - Betreuungsgericht - in der Akte des Betreuungsgerichts ...) - erst in einer Phase organisiert worden, als sich klar abzeichnete, dass ein weiterer Verbleib des Antragstellers im Haushalt der Eheleute ... für diese nicht mehr zumutbar ist. In der eidesstattlichen Versicherung des Herrn ... vom 22. Mai 2020 wird hierzu unter anderem folgendes ausgeführt:
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In der ersten Besprechung direkt nach der Haftentlassung mit der KURS-Kriminalpolizei und dem Bewährungshelfer habe ich explizit auf diese anormale und extreme Situation hingewiesen, dass dieser Weg absolut nicht geplant war und ein enormes Risiko beinhaltet: Die zukünftigen Situationen sind nicht vorhersehbar und können jederzeit extrem eskalieren, wie wir aus der Vergangenheit wussten. Genau diese Situation ist später eingetreten.
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Wesentlich für die Eskalation war, dass ... von Anfang an nicht mehr im Haushalt seiner Eltern/Pflegeeltern wohnen wollte. Hinzu kam, dass er seine finanzielle Situation trotz Erklärungsbemühungen nicht verstand und seine Möglichkeiten überschätzte. Beides führte immer wieder zu Fragen nach dem Weiter, nach einer neuen Unterkunft und zu mehr Taschengeld, und damit zu heftigen Diskussionen. ... provozierte uns mit extremem Verhalten und Äußerungen.
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In dieser Phase scheint sich in aller Deutlichkeit gezeigt zu haben, dass die vom Verwaltungsgericht in Bezug auf den Antragsteller prognostizierte Wiederholungsgefahr real gegeben ist, solange der Antragsteller über keinen stabilen, verlässlichen und von ihm akzeptierten Ordnungsrahmen verfügt, wie er ihn beispielsweise während der Dauer seiner Strafhaft im Justizvollzug vorgefunden hat. Aus den oben dargelegten Gründen geht der erkennende Senat nicht davon aus, dass die seit Sommer 2019 bestehenden engeren Kontakte des Antragstellers zur Familie ... geeignet sind, ihm einen solchen Ordnungsrahmen zu geben. Dies gilt umso mehr, als der Antragsteller keiner Erwerbstätigkeit nachgeht und auch bei Zugrundelegung der Einlassungen des Herrn ...-... ... derzeit im Wesentlichen unstrukturiert in den Tag hineinlebt. Nichts Anderes gilt für die Kontakte, die der Antragsteller zu den Eheleuten ... sowie zu seinem Bruder und weiteren Familienmitgliedern (Mutter, Schwester) pflegt. Denn nach den vorliegenden Erkenntnissen beschränken sich diese Kontakte derzeit auf gelegentliche Besuche und Telefonate.
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cc) Die nach § 53 Abs. 1 und 2 AufenthG erforderliche Abwägung des öffentlichen Interesses an der Ausweisung des Antragstellers mit dessen privatem Bleibeinteresse ergibt, dass die Belange des Antragstellers hinter dem öffentlichen Interesse zurückstehen. Der erkennende Senat gelangt insofern unter Berücksichtigung der aktuellen Lebensumstände des Antragstellers zu einer Einschätzung, die von derjenigen des Verwaltungsgerichts abweicht.
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(1) In die erforderliche Abwägung nach § 53 Abs. 1 und 2 AufenthG sind sämtliche Umstände des Einzelfalls einzustellen, insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Antragstellers, seine persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat oder in einem anderen zur Aufnahme bereiten Staat, die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner sowie die Tatsache, ob sich der Ausländer rechtstreu verhalten hat. Auch die Gefahrenprognose kann im Rahmen der Gesamtabwägung unter dem Aspekt der Verhältnismäßigkeit von Bedeutung sein. Ferner sind stets die grund- und konventionsrechtliche Stellung des Ausländers und seiner Familie sowie die sich daraus ergebenden Gewichtungen in den Blick zu nehmen (BVerfG, Beschluss vom 19.10.2016 - 2 BvR 1943/16 -, juris Rn. 18 f.; VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 21.01.2020 - 11 S 3477/19 -, juris Rn. 51). Im Rahmen der Abwägung ist mithin nicht nur von Belang, wie der Gesetzgeber das Ausweisungsinteresse abstrakt einstuft. Vielmehr ist das dem Ausländer vorgeworfene Verhalten, das den Ausweisungsgrund bildet, im Einzelnen zu würdigen und weiter zu gewichten (BVerwG, Urteil vom 27.07.2017 - 1 C 28.16 -, juris Rn. 39; VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 21.01.2020 - 11 S 3477/19 -, juris Rn. 51).
30 
Betrifft die Ausweisung einen in Deutschland geborenen und aufgewachsenen, volljährigen Ausländer, der nicht in familiärer Lebensgemeinschaft mit eigenen Kindern, einem Ehegatten oder Lebenspartner lebt, kein Grundeigentum erworben hat und auch keiner Erwerbstätigkeit nachgeht, ist bei der Abwägung nach § 53 Abs. 1 und 2 AufenthG hinsichtlich des Grundgesetzes vor allem die verfassungsrechtliche Gewährleistung der allgemeinen Handlungsfreiheit in den Blick zu nehmen (Art. 2 Abs. 1 GG; vgl. BVerfG, Beschluss vom 19.10.2016 - 2 BvR 1943/16 -, juris Rn. 18 f.). Unter besonderen Umständen kann in Fällen dieser Art zudem auch Art. 6 Abs. 1 GG Bedeutung erlangen; hiervon ist im vorliegenden Verfahren aber nicht auszugehen (vgl. hierzu unten 3.).
31 
Weiter sind in Fällen der vorgenannten Art die Vorgaben aus Art. 8 Abs. 1 und 2 EMRK zu berücksichtigen. Das Recht auf Achtung des Privatlebens nach Art. 8 Abs. 1 EMRK umfasst die Summe der persönlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind (EGMR, Urteil vom 09.10.2003, Nr. 48321/99 , S. 96) und denen angesichts der zentralen Bedeutung dieser Bindungen für die Entfaltung der Persönlichkeit eines Menschen bei fortschreitender Dauer des Aufenthalts wachsende Bedeutung zukommt (BVerfG, Beschluss vom 29.01.2020 - 2 BvR 690/19 -, juris Rn. 19 mit weiteren Nachweisen aus der einschlägigen Literatur; EGMR, Urteil vom 25.04.2017, Nr. 41697/12 , Rn. 46). Ein Eingriff in die Rechte aus Art. 8 Abs. 1 EMRK muss gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK eine in einer demokratischen Gesellschaft notwendige Maßnahme darstellen, die durch ein dringendes soziales Bedürfnis gerechtfertigt und mit Blick auf das verfolgte legitime Ziel auch im engeren Sinne verhältnismäßig ist (BVerfG, Beschluss vom 29.01.2020 - 2 BvR 690/19 -, juris Rn. 19; EGMR, Urteil vom 18.02.1991, Nr. 12313/86 ). Danach besteht zwar auch für sogenannte faktische Inländer kein generelles Ausweisungsverbot. Bei der Ausweisung hier geborener beziehungsweise als Kleinkinder nach Deutschland gekommener Ausländer ist aber im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung der besonderen Härte, die eine Ausweisung für diese Personengruppe darstellt, in angemessenem Umfang Rechnung tragen. Dies schließt es aus, selbst bei Begehung schwer wiegender Straftaten schematisch auf ein Überwiegen des öffentlichen Ausweisungsinteresses zu schließen. Vielmehr sind der der Verurteilung zugrundeliegende konkrete Sachverhalt, die Zeitdauer seit Begehung der Tat, das Nachtatverhalten des Ausländers sowie der Verlauf der Strafhaft einschließlich etwaiger Therapien zu berücksichtigen (BVerfG, Beschluss vom 19.10.2016 - 2 BvR 1943/16 -, juris Rn. 19; EGMR, Urteil vom 25.04.2017, Nr. 41697/12 , Rn. 46).
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Weiter ist zu berücksichtigen, dass eine Ausweisungsentscheidung einen ungerechtfertigten Eingriff in das von Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützte Recht auf Achtung des Privatlebens darstellen kann, wenn der Ausländer ein Privatleben, das durch persönliche, soziale und wirtschaftliche Beziehungen charakterisiert ist, faktisch nur noch in Deutschland führen kann. In diesem Zusammenhang sind sowohl die Integration des Ausländers in Deutschland (Aspekt der „Verwurzelung“) als auch die Möglichkeit seiner (Re-)Integration in seinem Herkunftsstaat (Aspekt der „Entwurzelung“) in den Blick zu nehmen (BVerfG, Beschluss vom 29.01.2020 - 2 BvR 690/19 -, juris Rn. 20; BVerwG, Urteil vom 15.08.2019 - 1 C 23.18 -, juris Rn. 31). Hierauf hat das Verwaltungsgericht im angegriffenen Beschluss zu Recht hingewiesen.
33 
(2) Im vorliegenden Fall ist das Verwaltungsgericht auch zu Recht davon ausgegangen, dass dem besonders schwer wiegenden öffentlichen Interesse an der Ausweisung des Antragstellers nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 sowie § 54 Abs. 1a Buchstaben c und d AufenthG ein ebenfalls besonders schwer wiegendes privates Bleibeinteresse des Antragstellers nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG gegenübersteht.
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Das Bleibeinteresse des Antragstellers wiegt ferner insofern besonders schwer, als er in Deutschland geboren und aufgewachsen ist (Aspekt der „Verwurzelung“). Im Kosovo oder einem anderen Staat, dessen Staatsangehörigkeit er möglicherweise besitzt, hat sich der Antragsteller soweit ersichtlich nie aufgehalten. Es ist nach Aktenlage wohl auch nicht davon auszugehen, dass er außer der deutschen Sprache noch eine andere Sprache beherrscht. Über verwandtschaftliche Beziehungen des Antragstellers zu Personen im Kosovo oder in anderen Staaten, die als Herkunftsstaat in Betracht kommen, ist dem erkennenden Senat nichts bekannt. Jedenfalls ist nicht davon auszugehen, dass der Antragsteller im Falle einer Wohnsitzverlagerung in den Kosovo oder in einen anderen Staat dort ein familiäres oder bekanntschaftliches Netzwerk vorfinden würde, an das sich anknüpfen ließe. Denn sämtliche dem Antragsteller nahestehende Familienangehörige und sonstige Bekannte leben im Bundesgebiet. Hinzu kommt, dass es dem Antragsteller aufgrund seiner erheblichen kognitiven Einschränkungen absehbar kaum möglich sein dürfte, die jeweilige Landessprache in überschaubarer Zeit zu erlernen und sich aus eigener Kraft eine neue Existenz aufzubauen. Vielmehr bedürfte er hierzu längerfristig professioneller Unterstützung. Nach den vom erkennenden Senat gesichteten Erkenntnismitteln besteht allerdings auch im Kosovo ein - grobmaschiges - Netz von Fürsorgeeinrichtungen für Menschen mit geistiger Behinderung (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 21. März 2019, S. 25 f.; Länderanalyse der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 17. September 2019, Kosovo: Situation von Menschen mit geistiger Behinderung, S. 8 ff.). Dieses könnte auch dem Antragsteller im Falle eines Wohnsitzwechsels in den Kosovo den für ihn dort notwendigen psycho-sozialen Empfangsraum bilden.
35 
Das private Bleibeinteresse des Antragstellers wird dadurch gemindert, dass es ihm bislang auch in Deutschland nicht gelungen ist, nachhaltig tragfähige persönliche, soziale und wirtschaftliche Beziehungen aufzubauen, deren Fortbestand von seinem weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet abhängt. Der Antragsteller leidet an erheblichen mentalen Einschränkungen. Er lebte in seiner Kindheit und Jugend überwiegend bei verschiedenen Pflegeeltern. Seit Erreichen der Volljährigkeit werden ihm rechtliche Betreuer bestellt. Der Antragsteller hat weder einen Schul- noch einen Ausbildungsabschluss erreicht. Eine Berufstätigkeit übt er nicht aus. Seinen Lebensunterhalt finanziert der Antragsteller durch Sozialleistungen und aus auch materieller Unterstützung durch Mitglieder der Familie .... Wie bereits ausgeführt, hat sich der Antragsteller wiederholt in besonders schwer wiegender Weise strafbar gemacht, dabei körperliche Gewalt gegen Menschen angewendet und sich über die sexuelle Selbstbestimmung eines weiblichen Opfers hinweggesetzt. Im Verlauf der Strafhaft angestellte Bemühungen um eine professionelle Aufarbeitung der Taten sowie um eine therapeutische Unterstützung des Antragstellers sind teils fehlgeschlagen und teils wegen absehbarer Aussichtslosigkeit bereits nicht in Angriff genommen worden (zu Einzelheiten wird auf die Ausführungen im angegriffenen Beschluss des Verwaltungsgerichts auf den Seiten 3 ff. und 13 ff. Bezug genommen). Ausweislich der Feststellungen im psychiatrischen Prognosegutachten von Herrn Dr. ... vom 17. Juli 2018 besteht beim Antragsteller eine gestörte Wahrnehmung der Realität und ein Unvermögen, sich auf wechselnde soziale Begebenheiten anzupassen. Seine Fähigkeit zur Frustrationsbewältigung ist sehr gering. Der Antragsteller neigt in Konsequenz zu Kurzschlussreaktionen und impulsivem Verhalten. Diese Einschätzungen des Gutachters haben nach der Entlassung des Antragstellers aus der Haft sehr rasch Bestätigung in dessen Verhalten gefunden. So hat der Antragsteller eine Arbeitsstelle, die ihm im Verlauf seiner Strafhaft vermittelt worden war, nur wenige Wochen nach der Entlassung aus der Haft aufgrund eigener Unzuverlässigkeit verloren (vgl. hierzu das Schreiben seines früheren Betreuers vom 15. September 2019 an das Amtsgericht ... - Betreuungsgericht - in der Akte des Betreuungsgerichts ...). Seine berufliche Perspektive sieht der Antragsteller seitdem im Beruf des Käfigkämpfers. Als passionierter Ringer sei er auf dem besten Weg, hier eine Karriere zu machen (vgl. hierzu den Bericht des Landratsamts ... - Sozialamt/Betreuungsbehörde - vom 25. November 2019 an das Amtsgericht ... - Betreuungsgericht - in der Akte des Betreuungsgerichts ...). Für das - dem Antragsteller emotional verbundene - Ehepaar ... erwies sich der Aufenthalt des Antragstellers in ihrem Haushalt aufgrund seines aggressiv-fordernden und provozierenden Verhaltens schon wenige Monate nach der Haftentlassung als untragbar. Die rechtliche Betreuung des Antragstellers durch die Eheleute ... wurde auf deren Initiative hin durch Beschluss des Amtsgerichts ... - Betreuungsgericht - vom 15. Januar 2020 (...) beendet und einem Rechtsanwalt übertragen. Zur Abwendung der Obdachlosigkeit hat der Antragsteller ab Juli 2019 vorübergehend Unterkunft im Haushalt seines Cousins ... ... gefunden. Seit Oktober 2019 bewohnt er eine kleine Mietwohnung, die man für ihn auf private Initiative hin besorgt hat und für deren Kosten er nicht aufkommt. Darüber hinaus hat der Antragsteller im oben (bb)) beschriebenen Umfang Aufnahme in der Familie seines Onkels ... ... gefunden. Wie bereits dargelegt, ist aber nicht anzunehmen, dass der seit Sommer 2019 intensivierte Kontakt zwischen dem Antragsteller und Mitgliedern der Familie ... als Bestehen eines stabilen, verlässlichen und vom Antragsteller akzeptierten Ordnungsrahmens gedeutet werden kann, der ihm Struktur, Halt und Orientierung gibt und der Begehung weiterer Straftaten effektiv entgegenwirkt.
36 
Bei dieser Sachlage geht der Senat mit auch für das Eilrechtsschutzverfahren hinreichender Gewissheit davon aus, dass das öffentliche Interesse an der Ausweisung des Antragstellers das private Interesse des Antragstellers an der Abwendung einer Ausweisung und am weiteren Verbleib im Bundesgebiet überwiegt. Trotz seiner Geburt und seines anschließend fortwährenden Aufenthalts im Bundesgebiet ist es dem Antragsteller nur wenig gelungen, hier Fuß zu fassen und langfristig tragfähige Bindungen aufzubauen. Weder zu engen Verwandten (Mutter, Bruder, Schwester) noch zu früheren Pflegeeltern (insbesondere dem Ehepaar ...) bestehen aktuell persönliche Beziehungen, die in ähnlicher Weise nicht auch vom Ausland aus gepflegt werden könnten. Die Tragfähigkeit der intensivierten Beziehung des Antragstellers zu den Mitgliedern der Familie ... erscheint - wie gezeigt - sehr zweifelhaft.
37 
Angesichts dieser Situation und der vom Antragsteller auch derzeit ausgehenden Gefahr der Begehung weiterer schwerer Straftaten kommt es im Rahmen der Abwägung nach § 53 Abs. 1 und 2 AufenthG entscheidend darauf an, ob dem Antragsteller die Möglichkeit einer (Re-)Integration in seinem Herkunftsstaat eröffnet ist. Wie oben bereits dargelegt, wird man angesichts der sprachlichen und kognitiven Einschränkungen des Antragstellers kaum davon ausgehen können, dass ihm dies im Kosovo aus eigener Kraft gelingen würde. Dies hat das Verwaltungsgericht im angegriffenen Beschluss zutreffend herausgearbeitet. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts ist der erkennende Senat jedoch der Ansicht, dass dem Antragsteller im Kosovo im Grundsatz ein Netz von Fürsorgeeinrichtungen für Menschen mit geistiger Behinderung zugänglich ist. Dies verschafft ihm die Möglichkeit, sich in einer ihm zumutbaren Weise in die dortigen Verhältnisse einzufinden. Konkrete Umstände, aus denen sich schließen ließe, dass das im Kosovo bestehende Netz von Betreuungseinrichtungen für Menschen mit geistiger Behinderung dem Antragsteller generell nicht zugänglich wäre, sind nicht ersichtlich. Anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass die Betreuungskapazitäten im Kosovo sehr begrenzt und zeitweilig ganz ausgeschöpft sind. Die grundsätzliche Zugänglichkeit und Funktionsfähigkeit des Fürsorgesystems im Kosovo dürfte dadurch nicht in Frage gestellt werden. Auch der Umstand, dass der Antragsteller der Volksgruppe der Roma angehört, dürfte dem nicht entgegenstehen.
38 
Mit Blick auf Art. 2 Abs. 1 und 2 GG und den verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist allerdings im Rahmen der Abwägung nach § 53 Abs. 1 und 2 AufenthG auch zu berücksichtigen, ob das im Kosovo bestehende System der professionellen Betreuung von Menschen mit geistiger Behinderung dem Antragsteller nicht nur formal, sondern auch tatsächlich zugänglich ist. Bei einer nur formal, nicht jedoch tatsächlich bestehenden Möglichkeit, unmittelbar nach einem Wohnsitzwechsel in den Kosovo Aufnahme in das dortige Betreuungssystem zu finden, wäre die Verhältnismäßigkeit (im engeren Sinne) der Ausweisung des Antragstellers zumindest in Frage gestellt. Entsprechendes gilt für einen Wohnsitzwechsel in einen anderen Staat, wenn sich herausstellen sollte, dass der Antragsteller Angehöriger dieses Staates ist, er aber weder die dortigen Lebensverhältnisse kennt noch eine der Landessprachen beherrscht.
39 
Insofern berücksichtigt der Senat aber, dass eine Abschiebung des Antragstellers in diesem Fall auch nicht zulässig wäre (vgl. hierzu unten 3.). Im Rahmen der Abwägung nach § 53 Abs. 1 und 2 AufenthG sind zwar auch Duldungsgründe, die einer Abschiebung des Ausländers entgegenstehen, schon im Rahmen der Ausweisungsentscheidung zu berücksichtigen; hierzu zählen sämtliche Gründe, welche eine Abschiebung aus tatsächlichen, wie auch aus rechtlichen Gründen unmöglich machen (vgl. Bauer, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 53 AufenthG Rn. 76). Dies bedeutet jedoch nicht, dass aus dem Vorliegen von Abschiebungshindernissen auf das Bestehen eines Ausweisungsverbots geschlossen werden kann; vielmehr ist auf das Gewicht des jeweiligen Duldungsgrundes im Einzelfall abzustellen (vgl. auch hierzu Bauer, a.a.O.).
40 
Im vorliegenden Fall führt die Berücksichtigung des in Bezug auf den Antragsteller bestehenden Abschiebungshindernisses zu dem Ergebnis, dass das öffentliche Interesse an seiner Ausweisung sein privates Bleibeinteresse überwiegt. Denn für den Fall, dass keine Möglichkeit besteht, dem Antragsteller im Zielstaat einer etwaigen Abschiebung unbefristeten Zugang zu einer für ihn geeigneten sozialtherapeutischen Fürsorgeeinrichtung zu eröffnen, ist seine Abschiebung rechtlich unmöglich. Dies mindert das Gewicht der sich für ihn aus der Ausweisung ergebenden Belastung erheblich, da ihm in diesem Falle keine Beeinträchtigung eines schützenswerten Bleibeinteresses durch eine Abschiebung droht (vgl. hierzu BVerwG, Urteile vom 09.05.2019 - 1 C 21.18 -, juris Rn. 28, vom 25.07.2017 - 1 C 12.16 -, juris Rn. 31, und vom 22.02.2017 - 1 C 3.16 -, juris Rn. 58). Lässt sich hingegen bewerkstelligen, dass der Antragsteller im Kosovo oder in einem anderen Staat Aufnahme in einer für ihn geeigneten sozialtherapeutischen Fürsorgeeinrichtung findet, ist dem Gewicht seines Interesses, im Bundesgebiet verbleiben zu dürfen, mit Blick auf den Aspekt der Entwurzelung deutlich geringeres Gewicht zuzumessen, als das Verwaltungsgericht dies im angegriffenen Beschluss angenommen hat. In beiden Fällen überwiegt das öffentliche Interesse an der Ausweisung des Antragstellers dasjenige des Antragstellers an einem Verbleib im Bundesgebiet aus Sicht des erkennenden Senats deutlich. Der verfassungsrechtliche Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist ebenfalls in beiden genannten Fällen gewahrt.
41 
dd) Damit erweist sich die in Ziffer 1 des Bescheids des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 11. Dezember 2018 verfügte Ausweisung des Antragstellers als voraussichtlich rechtmäßig. Der erkennende Senat sieht bei diesem Ergebnis in Ausübung des ihm gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO zukommenden Ermessens keinen Anlass, die aufschiebende Wirkung der vom Antragsteller gegen die Ausweisungsverfügung erhobenen Klage wiederherzustellen.
42 
b) Die Regelungen in den Ziffern 2 sowie 4 bis 6 des oben genannten Bescheids begegnen ebenfalls keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Zur weiteren Begründung nimmt der Senat insofern auf die Ausführungen in der Begründung des Bescheids Bezug (§ 122 Abs. 2 Satz 2 VwGO). Der Senat übt sein ihm gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO eröffnetes Ermessen dahingehend aus, dem auf diese Ziffern des Bescheids bezogenen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage des Antragstellers nicht zu entsprechen.
43 
3. Der vom Antragsteller hilfsweise gestellte Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung (§ 123 VwGO) hat dagegen Erfolg. Da das Verwaltungsgericht dem Hauptantrag des Antragstellers entsprochen hat und daher keinen Anlass hatte, über den zugleich gestellten Hilfsantrag zu entscheiden, war der erkennende Senat gehalten, diesbezüglich eine eigenständige Prüfung des Rechtsschutzbegehrens durchzuführen. Diese Prüfung führt zu dem Ergebnis, dass der auf eine vorläufige Untersagung der Abschiebung des Antragstellers gerichtete Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zulässig und begründet ist. Der Antragsteller hat ausreichend glaubhaft gemacht, dass für den Erlass einer solchen einstweiligen Anordnung ein Anordnungsgrund (nachfolgend a)) und ein Anordnungsanspruch (nachfolgend b)) bestehen.
44 
a) Unter Berücksichtigung seines Vorbringens im Beschwerdeverfahren hat der Antragsteller in einer den Anforderungen des § 123 Abs. 3, § 173 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 294 Abs. 1 und § 920 Abs. 2 ZPO genügenden Weise glaubhaft gemacht, dass der Erlass einer einstweiligen Anordnung im vorliegenden Verfahren besonders dringlich ist und dass ihm ohne den Erlass einer Sicherungsanordnung wesentliche Nachteile drohen (Anordnungsgrund).
45 
Als Konsequenz des Misserfolgs seines Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO gegen den Bescheid des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 11. Dezember 2018 hat der Antragsteller im Grundsatz jederzeit damit zu rechnen, dass der Antragsgegner nun konkrete Maßnahmen zur Durchsetzung der vollziehbaren Ausreisepflicht des Antragstellers ergreift.
46 
Der Annahme eines Anordnungsgrundes steht nicht entgegen, dass nach Mitteilung des Antragsgegners vom 10. Juni 2020 die zuständigen kosovarischen Behörden die kosovarische Staatsangehörigkeit des Antragstellers in Zweifel ziehen und derzeit noch mit der Bearbeitung des Rücknahmeverfahrens befasst sind. Ebenso wenig lässt sich dem Eilrechtsschutzbegehren des Antragstellers entgegenhalten, dass Rückführungen in den Kosovo aufgrund der Corona-Pandemie derzeit nicht möglich sind und sich auch nicht absehen lässt, wann der Flugverkehr zwischen Deutschland und dem Kosovo wiederaufgenommen wird. Dabei kann offenbleiben, ob die diesbezüglichen Ausführungen des Antragsgegners (Schriftsatz vom 10. Juni 2020) noch aktuell sind. Denn angesichts der Ungewissheit der Angaben des Antragsgegners zu beiden genannten Umständen ist es dem Antragsteller nicht zuzumuten, sein Eilrechtsschutzbegehren zurückzustellen. Dies gilt umso mehr, als er nicht davon ausgehen kann, vom Regierungspräsidium Karlsruhe über den Stand des auf ihn bezogenen Rücknahmeverfahrens und über die Entwicklung der pandemiebedingten Einschränkungen des Flugverkehrs zwischen Deutschland und dem Kosovo auf dem Laufenden gehalten zu werden.
47 
b) Weiter hat der Antragsteller im Sinne des § 123 Abs. 3, § 173 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 294 Abs. 1 und § 920 Abs. 2 ZPO glaubhaft gemacht, dass seiner Abschiebung ein zwingender Duldungsgrund im Sinne von § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG entgegensteht.
48 
aa) Ein Duldungsanspruch des Antragstellers aus § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG ergibt sich allerdings nicht aus Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 Abs. 1 und 2 EMRK. Allein aus der persönlichen Verbundenheit des Antragstellers mit seinem Bruder, seiner Mutter, seiner Schwester, Mitgliedern der Familie ... sowie den Eheleuten ... lässt sich ein solcher Duldungsanspruch nicht ableiten.
49 
Der Schutz der Familie als solcher kann zwar eine rechtliche Unmöglichkeit der Abschiebung begründen, also ein von der Ausländerbehörde zu beachtendes inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis darstellen. Bei volljährigen Familienmitgliedern gilt dies jedenfalls dann, wenn ein Familienmitglied auf Lebenshilfe des anderen Familienmitglieds angewiesen ist und diese Hilfe sich nur in der Bundesrepublik Deutschland erbringen lässt (vgl. hierzu VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 28.03.2019 - 11 S 623/19 -, juris Rn. 12 ff. mit weiteren Nachweisen).
50 
Bei Anlegung dieses Maßstabs steht im vorliegenden Fall der verfassungs- und konventionsrechtliche Schutz des Familienlebens einer Abschiebung des Antragstellers nicht entgegen.
51 
Umstände, die darauf hindeuten, dass der volljährige Antragsteller Lebenshilfeleistungen für Mitglieder seiner Familie erbringt, sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.
52 
Umgekehrt ist zwar nach den vorliegenden Erkenntnissen über die kognitiven Einschränkungen des Antragstellers davon auszugehen, dass er in der allgemeinen Lebensführung in nicht unerheblichem Ausmaß auf Unterstützungsleistungen Dritter angewiesen ist. In den vergangenen Jahren sind solche Unterstützungsleistungen in unterschiedlicher Form und in wechselndem Ausmaß durch Mitglieder der Familie des Antragstellers erbracht worden. Dabei nimmt der erkennende Senat nicht nur die Mutter und Geschwister des Antragstellers in den Blick, sondern auch seine früheren Pflegeeltern sowie Mitglieder der Familie .... Denn die Schutzbereiche des Art. 6 Abs. 1 GG und des Art. 8 Abs. 1 EMRK beschränken sich nicht auf die sogenannte Kernfamilie; von familiärer Verbundenheit geprägte enge Bindungen jenseits der Kernfamilie können ebenfalls durch nach Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 Abs. 1 und 2 EMRK schutzwürdige besondere Zuneigung und Nähe, familiäre Verantwortlichkeit füreinander, Rücksichtnahme- und Beistandsbereitschaft geprägt sein (BVerfG, Beschluss vom 24.06.2014 - 1 BvR 2926/13 -, juris Rn. 22 f.; EGMR, Urteil vom 13.06.1979, Nr. 6833/74 , Rn. 45; BVerwG, Urteil vom 04.07.2019 - 1 C 45/18 -, juris Rn. 18). Insofern werden allerdings an die Feststellung eines Abschiebungshindernisses wegen des Angewiesenseins auf familiäre Lebenshilfeleistungen regelmäßig umso höhere Anforderungen zu stellen sein, je entfernter die Personen im Grad der Verwandtschaft zueinanderstehen.
53 
Nach Einschätzung des Senats kann derzeit aber nicht davon ausgegangen werden, dass der Antragsteller im vorgenannten Sinne von Lebenshilfeleistungen seiner in Deutschland lebenden Angehörigen abhängig ist.
54 
In Bezug auf die Mutter, den Bruder und die Schwester des Antragstellers sowie auf die Eheleute ... erklärt sich dies bereits aus dem Umstand, dass die genannten Personen weder in einer familiären Lebensgemeinschaft mit dem Antragsteller stehen noch regelmäßig intensiven Kontakt mit ihm pflegen. Vielmehr beschränken sich die Kontakte derzeit auf Telefonate und gelegentliche Besuche (in zumeist jedenfalls mehrwöchigem Abstand). Es deutet auch nichts darauf hin, dass Planungen bestehen, hieran mit Blick auf die Unterstützungsbedürftigkeit des Antragstellers zeitnah etwas zu ändern.
55 
Was die Unterstützungsleistungen durch Mitglieder der Familie ... betrifft, begründen auch sie kein Abschiebungshindernis zugunsten des Antragstellers. Denn ein aufgrund von Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 Abs. 1 und 2 EMRK aufenthaltsrechtlich relevantes Angewiesensein auf Lebenshilfeleistungen von Verwandten dritten und vierten Grades in der Seitenlinie wird nur ausnahmsweise und bei Vorliegen ganz besonderer Umstände anzunehmen sein. Dies kommt etwa bei Verwandten in Betracht, die bereits seit langer Zeit in familiärer Gemeinschaft miteinander leben und ihre Lebensführung aufgrund der Hilfsbedürftigkeit eines der Mitglieder der Gemeinschaft in besonders intensiver Weise aufeinander bezogen haben. Dies ist für die Beziehung des Antragstellers zu den Mitgliedern der Familie ... aber nicht anzunehmen. Weder lebt der Antragsteller in familiärer Gemeinschaft mit einem der Mitglieder der Familie ... noch deuten die bisherige Dauer und die konkrete Ausgestaltung der Unterstützungsleistungen darauf hin, dass die derzeit gelebte Beziehung des Antragstellers zu Mitgliedern der Familie ... aus Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 Abs. 1 und 2 EMRK bereits aufenthaltsrechtlich relevante Schutzwirkungen entfaltet. Zur weiteren Begründung wird auf die Ausführungen zu Abschnitt 2.a) verwiesen.
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bb) Der Antragsteller kann sich jedoch insofern gemäß Art. 2 Abs. 1 und 2 GG auf ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis (zur Abgrenzung von - im vorliegenden Zusammenhang nicht relevanten - zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernissen vgl. BVerwG, Urteil vom 21.09.1999 - 9 C 12.99 -, juris Rn. 14; Nds. OVG, Beschluss vom 13.02.2020 - 13 ME 387/19 -, juris Rn. 14; Bay. VGH, Beschluss vom 05.07.2017 - 19 CE 17.657 -, juris Rn. 20; Funke-Kaiser, in: GK-AufenthG, Stand März 2015, § 60a Rn. 131 ff.) und damit auf einen Duldungsanspruch nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG berufen, als er durch eine Abschiebung in einen Staat, dessen Lebensverhältnisse er nicht kennt und von dessen Landessprachen er keine beherrscht, unmittelbar, also durch den Vorgang der Abschiebung selbst, der konkreten Gefahr ausgesetzt wäre, in kürzester Zeit zu verelenden (mit absehbaren nachteiligen Folgen für seinen physischen und psychischen Gesundheitszustand); dies jedenfalls dann, wenn er bei seiner Ankunft im Zielstaat keinen psycho-sozialen Empfangsraum vorfindet, der ihm die notwendige Unterstützung bietet, sich in die Verhältnisse im Zielstaat einzufinden, seinen Lebensunterhalt zu sichern und seine Grundbedürfnisse zu decken. Denn aufgrund der festgestellten sprachlichen und mentalen Einschränkungen des Antragstellers liegt es fern, dass er hierzu aus eigener Kraft imstande wäre. Hinzu kommt, dass - soweit derzeit ersichtlich - dem Antragsteller außerhalb von Deutschland in keinem anderen Staat ein Netz verwandt- oder bekanntschaftlicher Beziehungen zur Verfügung steht, auf das er zum vorgenannten Zwecke zurückgreifen könnte. Daher wird sich die Gefahr einer kurzfristigen Verelendung des Antragstellers als unmittelbare Folge einer Abschiebung nur bannen lassen, wenn sichergestellt wird, dass er bereits bei seiner Ankunft am Zielort professionell in Obhut genommen und einer Einrichtung zugeführt wird, in der Menschen mit Einschränkungen wie denjenigen des Antragstellers Aufnahme, Versorgung und fachkundige Betreuung finden können. Der erkennende Senat macht daher von dem ihm für die inhaltliche Ausgestaltung einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO eröffneten Ermessen in der Weise Gebrauch, dass dem Antragsgegner vorläufig untersagt wird, die Abschiebung des Antragstellers zu vollziehen, bis gewährleistet ist, dass der Antragsteller unmittelbar nach Durchführung der Abschiebung im Zielstaat unbefristet Aufnahme in einer sozialtherapeutischen Fürsorgeeinrichtung findet.
57 
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Bei der vorgenommenen Kostenquotelung hat der Senat berücksichtigt, dass der Antragsteller mit seinem Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO unterlegen ist, mit seinem Antrag nach § 123 VwGO hingegen obsiegt hat. Hinsichtlich der Gewichtung des jeweiligen Obsiegens und Unterliegens wird auf die nachfolgenden Ausführungen zur Streitwertbemessung Bezug genommen.
58 
5. Das Verwaltungsgericht hat den Streitwert für das Eilrechtsschutzverfahren, soweit sich dieses auf den Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO bezieht, zutreffend nach § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG mit dem Auffangwert des § 52 Abs. 2 GKG bemessen (zur Streitwertbemessung bei Ausweisungen vgl. VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 19.07.2019 - 11 S 1631/19 -, juris Rn. 47). Der Umstand, dass das Eilrechtsschutzbegehren des Antragstellers zugleich auch die weiteren gegen ihn erlassenen Regelungen betrifft (Ausreiseaufforderung, Abschiebungsverbot, Einreise- und Aufenthaltsverbot), führt nicht zu einer Erhöhung des Streitwerts des Verfahrens. Die vom Verwaltungsgericht in Bezug auf den Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO vorgenommene Streitwertfestsetzung für das Verfahren im ersten Rechtszug ist daher nicht zu beanstanden.
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Bei Zugrundelegung der Rechtsauffassung des Senats wäre vom Verwaltungsgericht allerdings auch über den hilfsweise gestellten Antrag nach § 123 VwGO zu entscheiden gewesen. Dies führt gemäß § 39 Abs. 1 und § 45 Abs. 1 Satz 2 GKG zu einer Erhöhung des Streitwerts im ersten Rechtszug. Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats, den Streitwert für einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 53 Abs. 3 Nr. 1 und § 52 Abs. 1 GKG mit dem halben Auffangwert des § 52 Abs. 2 GKG zu bemessen, wenn sich der Antragsteller mit dem Antrag - wie im vorliegenden Verfahren - gegen eine ihm drohende Abschiebung zur Wehr setzt (vgl. etwa VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 26.07.2019 - 11 S 1773/19 -, juris Rn. 9). Die vom Verwaltungsgericht vorgenommene Streitwertfestsetzung wird gemäß § 63 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GKG von Amts wegen entsprechend geändert.
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Die Streitwertfestsetzung für das Beschwerdeverfahren beruht auf § 39 Abs. 1, § 45 Abs. 1 Satz 2, § 47 Abs. 1 und 2, § 52 Abs. 1 und 2, § 53 Abs. 2 Nr. 1 und 2 sowie § 63 Abs. 2 GKG. Insofern wird auf die vorstehenden Ausführungen zur Streitwertbemessung für das Verfahren im ersten Rechtszug verwiesen.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

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