Beschluss vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg - 9 S 803/22

Tenor

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 15. März 2022 - 10 K 554/22 - wird zurückgewiesen.

Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Streitwert des Beschwerdeverfahrens wird auf 5.000,-- EUR festgesetzt.

Gründe

 
1. Der Senat entscheidet über die am 31.03.2022 beim Verwaltungsgericht eingegangene Beschwerde des Antragstellers zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG) vor Ablauf der Beschwerdebegründungsfrist des § 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO, da der Antragsteller die Bestellung der Treuhänderin für die Praxis der am 16.04.2018 verstorbenen Steuerberaterin I.S. über den 15.04.2022 hinaus begehrt und er dieses Rechtsschutzziel nur bei einer vorherigen Entscheidung des Senats vollständig erreichen könnte (vgl. zum Erlöschen der Bestellung ipso iure Koslowski, StBerG, 7. Aufl. 2015, § 71 Rn. 9). Der Antragsteller hat seine Beschwerde am 11.04.2022 begründet; die Antragsgegnerin hat hierauf am selben Tage erwidert.
2. Die Beschwerde ist zulässig (vgl. § 147 Abs. 1, § 146 Abs. 1 und 4 VwGO), aber nicht begründet. Die mit ihr dargelegten Gründe, aus denen die Entscheidung des Verwaltungsgerichts abzuändern sein soll und auf deren Prüfung sich der Senat nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO zu beschränken hat, ergeben nicht, dass das Verwaltungsgericht den Antrag des Antragstellers zu Unrecht abgelehnt hat.
Gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen, wenn diese Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Dazu ist nach § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO glaubhaft zu machen, dass ein Anordnungsgrund besteht, d. h. eine vorläufige gerichtliche Entscheidung erforderlich ist, und ein Anordnungsanspruch gegeben ist, also die tatsächlichen Voraussetzungen für den geltend gemachten Anspruch erfüllt sind. Grundsätzlich ausgeschlossen - da mit dem Wesen einer einstweiligen Anordnung nicht vereinbar - ist es, eine Regelung zu treffen, die rechtlich oder zumindest faktisch auf eine Vorwegnahme der Hauptsache hinausläuft (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 08.11.2017 - 2 BvR 809/17 -, NVwZ 2018, 254, und vom 31.03.2003 - 2 BvR 1779/02 -, NVwZ 2003, 1112). Ausnahmen von diesem Verbot kommen nur in Betracht, wenn dies zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes geboten ist, d.h. wenn andernfalls schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre, und zugleich ein hoher Grad an Wahrscheinlichkeit dafür spricht, dass der mit der Hauptsache verfolgte Anspruch begründet ist (st.Rspr., vgl. nur BVerfG, Beschluss vom 25.10.1988 - 2 BvR 745/88 -, BVerfGE 79, 69; BVerwG, Urteil vom 18.04.2013 - 10 C 9.12 -, BVerwGE 146, 189, und Beschluss vom 13.08.1999 - 2 VR 1.99 -, BVerwGE 109, 258; Senatsbeschlüsse vom 20.09.1994 - 9 S 687/94 -, DVBl. 1995, 160, und vom 22.11.2021 - 9 S 1181/21 -).
Ausgehend von diesen Maßstäben hat das Verwaltungsgericht die begehrte einstweilige Anordnung zu Recht nicht erlassen. Der Antragsteller hat einen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht. Dahingestellt bleiben kann somit, ob - was angesichts der längeren Praxisvakanz seit dem Tod der früheren Praxisinhaberin durchaus zweifelhaft erscheint - ein Anordnungsgrund glaubhaft gemacht worden ist.
Rechtsgrundlage des Begehrens des Antragstellers ist § 71 Abs. 1 Satz 1 StBerG. Danach kann auf Antrag der Erben die zuständige Steuerberaterkammer für einen Zeitraum bis zu drei Jahren einen Steuerberater oder Steuerbevollmächtigten zum Treuhänder bestellen, wenn die Praxis eines verstorbenen Steuerberaters oder Steuerbevollmächtigten auf eine bestimmte Person übertragen werden soll, die im Zeitpunkt des Todes des verstorbenen Berufsangehörigen noch nicht zur Hilfeleistung in Steuersachen befugt ist. Gemäß § 71 Abs. 1 Satz 2 StBerG kann der Zeitraum in Ausnahmefällen um ein weiteres Jahr verlängert werden. Die Vorschrift begründet einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über den Antrag auf Bestellung eines Praxistreuhänders.
Ein Anspruch auf eine bestimmte Ermessensentscheidung - wie sie der Antragsteller begehrt - kann in Anbetracht des prinzipiellen Verbots der Vorwegnahme der Hauptsache im Verfahren nach § 123 VwGO einerseits und der grundrechtlich verbürgten Gewährung effektiven Rechtsschutzes gemäß Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG andererseits nur dann als für den Erlass einer einstweiligen Anordnung hinreichend glaubhaft gemacht angesehen werden, wenn die ablehnende Entscheidung als ermessensfehlerhaft erscheint und wenn ermessensfehlerfrei vermutlich nur dem abgelehnten Antrag entsprochen werden könnte oder zumindest die Neubescheidung mit überwiegender Wahrscheinlichkeit im Sinne des Antragstellers erfolgen würde (vgl. Senatsbeschlüsse vom 05.09.2018 - 9 S 1896/18 -, VBlBW 2019, 74, und vom 05.12.2017 - 9 S 2202/17 -, juris). Dies ist vorliegend nicht der Fall.
a) Das Verwaltungsgericht hat entschieden, die Dauer der Bestellung eines Praxistreuhänders sei gemäß der - restriktiv anzuwendenden - Vorschrift in § 71 Abs. 1 Satz 1 StBerG ab dem Todeszeitpunkt des verstorbenen Praxisinhabers zu berechnen. Andernfalls könnte eine Treuhänderbestellung nahezu unbeschränkt „nach hinten hinausgeschoben“ werden und der Steuerberaterkammer würden schwierige Fragen der Sachverhaltsfeststellung und Ermessensausübung auferlegt. Dies zugrunde gelegt, habe der Antragsteller - mit Blick auf den Zeitpunkt des Versterbens der ehemaligen Praxisinhaberin am 16.04.2018 - keinen Anspruch auf Bestellung der Treuhänderin über den 15.04.2022 hinaus. Er könne die erforderliche Berufsqualifikation bis zum Ende der Höchstbestelldauer gemäß § 71 Abs. 1 Satz 2 StBerG nicht mehr erreichen. Der schriftliche Teil des Steuerberaterexamens in Baden-Württemberg könne erst wieder im Oktober dieses Jahres absolviert werden. Dass für den Antragsteller eine andere Möglichkeit bestehe, bis zum Ablauf der - verlängerten - Bestelldauer die erforderliche Berufsqualifikation zu erwerben, sei weder vorgetragen noch ersichtlich.
b) Dem hält die Beschwerde im Wesentlichen entgegen, das Verwaltungsgericht habe den Beginn der Bestelldauer zu Unrecht an den Todeszeitpunkt des ehemaligen Praxisinhabers geknüpft. Dies widerspreche dem klaren Gesetzeswortlaut, der es nur zulasse, hinsichtlich des Fristbeginns an den Zeitpunkt der Antragstellung anzuknüpfen. Andernfalls könne die Bestelldauer dem Erben nie (vollumfänglich) zugutekommen. Ein Abstellen auf den Zeitpunkt des Todes sei auch mit Sinn und Zweck des Gesetzes nicht vereinbar. Der Gesetzgeber habe mit der Treuhand erkennbar eine Begünstigung der Erben beabsichtigt. Einem eventuellen Missbrauch hinsichtlich willkürlicher Fristverlängerungen könne durch Geltung der auch im öffentlichen Recht anwendbaren allgemeinen Gebotsklauseln des bürgerlichen Rechts begegnet werden; einer Beschränkung der gesetzlich geregelten Bestelldauer bedürfe es hierfür nicht. Im Übrigen sei vorliegend kein Fall des Rechtsmissbrauchs gegeben.
Die Voraussetzungen für den Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung liegen auch in Ansehung dieses Beschwerdevorbringens nicht vor.
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aa) Soweit der Antragsteller für den Beginn der Bestelldauer den Zeitpunkt der Antragstellung am 27.09.2018 für maßgeblich erachtet, lässt er bereits außer Acht, dass er die erforderliche Berufsqualifikation auch bis zum Ende der mit diesem Bezugspunkt errechneten vierjährigen Höchstbestelldauer - mithin dem Ablauf des 26.09.2022 - nicht mehr erreichen könnte. Das Verwaltungsgericht hat angenommen, dass der schriftliche Teil des Steuerberaterexamens in Baden-Württemberg erst wieder im Oktober 2022 absolviert werden könne und eine andere Qualifikationsmöglichkeit nicht ersichtlich sei. Diesen Ausführungen ist die Beschwerde nicht entgegengetreten.
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bb) Unabhängig davon erweist sich die Ablehnung der beantragten Verlängerung der Treuhandbestellung bis zum 05.06.2024 durch Bescheid der Antragsgegnerin vom 28.07.2021 auch nicht als ermessensfehlerhaft. Dem Antrag des Antragstellers könnte mit Blick auf die (Höchst-)Bestelldauer des § 71 Abs. 1 Satz 2 StBerG aller Voraussicht nach auch nicht in ermessensfehlerfreier Weise entsprochen werden.
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Der Zeitraum von bis zu drei Jahren, für den ein Praxistreuhänder gemäß § 71 Abs. 1 Satz 1 StBerG von der zuständigen Steuerberaterkammer bestellt werden kann, ist ab dem Tag des Todes des früheren Praxisinhabers zu berechnen. Ungeachtet des insoweit nicht eindeutigen Gesetzeswortlauts („für einen Zeitraum bis zu drei Jahren“) und der gleichfalls unergiebigen Historie (vgl. BT-Drs. 7/2852, S. 36 f. zu der durch das Dritte Gesetz zur Änderung des Steuerberatergesetzes eingefügten Regelung in § 50 StBerG a.F.; ferner Kleemann, in: StBerG - Praxiskommentar mit Schwerpunkten zum Berufsrecht der Steuerberater, 3. Aufl. 2012, § 71 Rn. 1 zu Nr. 38 Abs. 2 der früheren Standesrichtlinien vom 30.03.1965) gebieten es Sinn und Zweck der Bestimmung sowie normimmanente systematische Erwägungen, bereits an den Zeitpunkt des Todes des früheren Praxisinhabers anzuknüpfen.
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Beim Tod eines Steuerberaters findet in der Regel entweder eine Abwicklung der Praxis nach § 70 StBerG statt oder diese wird von den Erben auf einen anderen Berufsangehörigen übertragen. Ist die Übertragung der Praxis auf eine bestimmte Person - häufig einen nahen Angehörigen des Verstorbenen - vorgesehen, ergeben sich Schwierigkeiten, wenn im Zeitpunkt des Todes des Praxisinhabers die Ausbildung des designierten Nachfolgers noch nicht abgeschlossen ist. § 71 StBerG sieht daher in derartigen Fällen die ausschließlich im Interesse der Erben bestehende Möglichkeit vor, einen Praxistreuhänder zu bestellen, um die Zeit zu überbrücken, bis der Nachfolger die erforderliche Berufsqualifikation erlangt hat (vgl. Koslowski, a.a.O., § 71 Rn. 1; Kleemann, a.a.O., § 71 Rn. 2; Gehre, StBerG, 4. Aufl. 1999, § 71 Rn. 1; Ueberfeldt, DStR 2009, 658).
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§ 71 Abs. 1 Satz 1 StBerG wählt als Bezugspunkt für das Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen ausdrücklich den „Zeitpunkt des Todes“ des verstorbenen Berufsangehörigen. Der vorgesehene Nachfolger darf noch nicht zur Hilfeleistung in Steuersachen befugt sein, muss sich aber in der - bereits fortgeschrittenen - Ausbildung befinden (vgl. Koslowski, a.a.O., § 71 Rn. 4). Deshalb bestimmt sich von diesem Zeitpunkt an auch der Zeitraum, der dem Nachfolger zur Verfügung steht, um die erforderliche Berufsqualifikation zu erwerben.
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Mit Blick darauf sowie den Interimscharakter der Praxistreuhand liegt es nahe, in der Folge und im systematischen Gleichlauf hierzu auch hinsichtlich des Beginns des - ins Ermessen der zuständigen Steuerberaterkammer gestellten - Zeitraums der Möglichkeit der Treuhandbestellung auf den Zeitpunkt des Todes abzustellen. Im Zeitpunkt des Todes des verstorbenen Steuerberaters muss insoweit mithin nicht nur klar sein, wer als neuer Praxisinhaber in Betracht kommt, sondern auch dessen Ausbildung schon so weit fortgeschritten sein, dass innerhalb der nächsten drei, höchstens vier Jahre die Befugnis zur Hilfeleistung in Steuersachen - wahlweise eine Ausbildung zum Steuerberater, Rechtsanwalt oder Wirtschaftsprüfer - erworben werden kann (vgl. Koslowski, a.a.O., § 71 Rn. 4). Es ist nichts dafür ersichtlich, dass die Vorschrift unterschiedliche Bezugspunkte für das Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen einerseits und den Beginn der Bestelldauer andererseits enthält.
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Hinzu kommt, dass die Regelung in § 71 Abs. 1 StBerG mit Blick auf ihren Ausnahmecharakter restriktiv ausgelegt werden muss. Das Rechtsinstitut der Praxistreuhand ist bei anderen freien Berufen - insbesondere auch bei den bereichsspezifisch vergleichbaren Rechtsanwälten und Wirtschaftsprüfern - unbekannt und mit dem Wesen einer freiberuflichen Tätigkeit nur schwer zu vereinbaren (vgl. Koslowski, a.a.O., § 71 Rn. 1; Kleemann, a.a.O., § 71 Rn. 1; Gehre, a.a.O., § 71 Rn. 1). Die Sonderregelung für den steuerberatenden Beruf mag ihren Grund in der Besonderheit der Steuerberatungspraxis mit ihrer Prägung durch Dauermandate haben (Kleemann, a.a.O., § 71 Rn. 1). Auch dies spricht dafür, den Zeitraum von drei Jahren für die Bestellung eines Praxistreuhänders ab dem Tag des Todes des früheren Praxisinhabers zu berechnen und dadurch die - bereits großzügig bemessene - Frist nicht auf einen in diesem Zeitpunkt noch gar nicht absehbaren Zeitraum auszudehnen.
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Die Anknüpfung des Bestellzeitraums an den Zeitpunkt des Todes des früheren Praxisinhabers erscheint schließlich - als einziger nicht ins Belieben des potentiellen Nachfolgers gestellter Zeitpunkt - auch unter dem Aspekt der Rechtssicherheit sachgerecht.
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3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
19 
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 2 GKG. Von einer Halbierung des Streitwerts sieht der Senat mit Blick auf die erstrebte Vorwegnahme der Hauptsache in Anlehnung an die Empfehlung in Ziffer 1.5 Satz 2 des Streitwertkatalogs 2013 ab.
20 
Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO sowie § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG hinsichtlich der Streitwertfestsetzung).

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