Urteil vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg - A 13 S 733/21

Tenor

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Sigmaringen vom 31. Juli 2019 - A 7 K 5426/17 - geändert. Die Ziffern 2 und 4 bis 7 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 22.06.2017 werden aufgehoben und die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens in beiden Rechtszügen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

 
Der Kläger begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise die Zuerkennung des subsidiären Schutzes und weiter hilfsweise die Feststellung eines Abschiebungsverbots.
Der am … 1996 in Banjul geborene Kläger ist Staatsangehöriger Gambias und dem Volk der Mandingo zugehörig. Am 16.06.2015 stellte er einen Asylantrag beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt). Das Asylverfahren wurde zunächst wegen Nichtbetreibens mit Bescheid des Bundesamts vom 14.03.2017 eingestellt, aber auf Antrag des Klägers vom 30.03.2017 wiederaufgenommen.
Bei der Anhörung zu seinen Asylgründen am 31.05.2017 gab der Kläger an, Gambia am 02.01.2014 verlassen zu haben. Über Mali, Burkina Faso, Niger und Libyen sei er im April 2014 nach Malta gelangt und dort sechs Monate geblieben. Von Italien sei er einen Tag später mit dem Zug weitergereist und im April 2015 in die Bundesrepublik Deutschland eingereist. Gambia habe er verlassen müssen, nachdem ihn seine Familie im Jahr 2013 wegen seiner homosexuellen Beziehung zu einem reichen weißen Mann namens ..., der ein Butler und vier Jahre lang sein Freund gewesen sei, angezeigt habe. Die Polizei suche nun nach ihm. Ein Cousin habe ihn mit seinem Freund zusammen erwischt, als sie im Begriff gewesen seien, sexuell miteinander zu verkehren. Er habe den Cousin gebeten, es nicht weiter zu erzählen, aber der habe es weitererzählen wollen. Daraufhin seien er und sein Freund durch das Fenster geflohen. Er selbst habe in der folgenden Nacht im Busch übernachten müssen, sei am nächsten Tag in das Hotel ... in Banjul, wo er gearbeitet habe, zurückgekehrt und habe seinen Chef um Rat gefragt. Der Chef habe seinen weißen Partner kontaktiert, der ihm etwas zu Essen gekauft und Geld gegeben habe, damit er das Land verlassen könne. Er habe die Fähre in den Senegal und von dort einen Bus nach Mali genommen. Dass er homosexuell sei, sei ihm schon aufgefallen, als er klein gewesen sei. Sein Körper habe auf Männer anders reagiert als auf Frauen. Als er zehn gewesen sei, habe er das Gefühl gehabt, mehr für Männer zu empfinden als für Mädchen. Seine Mutter habe seine Neigung bemerkt und ihm gesagt, er müsse aufpassen; wenn die Familie etwas merke, habe er ein Problem. Er habe seither aufgepasst, weil seine Familie Homosexualität hasse. Im Jahr 2012 habe er den weißen Mann kennengelernt, sie hätten viel gemeinsam unternommen, er sei zu ihm nach Hause gekommen. Auf Nachfrage, wie er vier Jahre lang mit dem weißen Mann zusammen gewesen sein wolle, wenn er ihn 2012 kennengelernt habe und 2013 ausgereist sei, erklärte der Kläger, schon seit 2010 sei er mit einem anderen, schwarzen Mann zusammen gewesen, von dem alle gedacht hätten, dass er nur ein guter Freund sei. Als der Cousin sie erwischt habe, sei es der schwarze Partner gewesen. Auf Vorhalt, dass der Kläger berichtet habe, dass der weiße Freund mit ihm durch das Fenster geflohen sei, gab der Kläger an, dass er ihn mit dem weißen Freund erwischt habe. Zu dem weißen Freund habe er im Moment keinen Kontakt. Sein Vater habe geäußert, er hasse ihn dafür, dass er homosexuell sei; er, der Kläger, sei nicht mehr sein Sohn. In Deutschland habe er keinen Partner. Er besuche hin und wieder eine „Gay Group“ in ..., in der allerdings alle schon einen Partner hätten.
Mit Bescheid vom 22.06.2017 hob das Bundesamt seinen Bescheid vom 14.03.2017, mit dem das Asylverfahren zunächst eingestellt worden war, auf (Ziffer 1), lehnte die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Ziffer 2), die Anerkennung als Asylberechtigter (Ziffer 3) sowie die Zuerkennung des subsidiären Schutzes (Ziffer 4) ab und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 5). Der Kläger wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen bzw. im Fall einer Klageerhebung innerhalb von 30 Tagen nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens zu verlassen, anderenfalls wurde die Abschiebung nach Gambia oder in einen anderen Staat, in den der Kläger einreisen darf oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet ist, angedroht (Ziffer 6). Zudem wurde das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziffer 7). Zur Begründung führte das Bundesamt aus: Nach § 33 Abs. 5 AsylG werde der Bescheid vom 14.03.2017 aufgehoben und das Verfahren wiederaufgenommen. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und die Anerkennung als Asylberechtigter lägen nicht vor. Der Kläger habe nicht glaubhaft machen können, dass er begründete Furcht vor Verfolgung habe oder ihm ein ernsthafter Schaden wegen seiner Homosexualität drohe. Seine Angaben zu dem vermeintlich fluchtauslösenden Vorfall seien vage und detailarm geblieben und in hohem Maß widersprüchlich. Zu einer tatsächlichen Vorverfolgung lägen auch unabhängig von dem Vorfall keine belastbaren Hinweise vor. Der Mutter sei die Homosexualität bereits bekannt gewesen und der Cousin habe lediglich angekündigt, Anzeige zu erstatten. Die Reaktion des Vaters sei dem Kläger lediglich vom „Hörensagen“ bekannt. Aus den Angaben des Klägers zu seinem homosexuellen Verhalten in Deutschland lasse sich nicht ableiten, dass er im Fall einer Rückkehr in Gambia die Homosexualität in einer Weise auslebe, die in mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer Verfolgungsgefahr durch staatliche Stellen oder nichtstaatliche Dritte aussetzen würde.
Der Kläger hat am 30.06.2017 Klage beim Verwaltungsgericht Sigmaringen erhoben und ausweislich des Protokolls über die mündliche Verhandlung beantragt, den Bescheid des Bundesamts vom 22.06.2017 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihn als Asylberechtigten anzuerkennen und ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, hilfsweise subsidiären Schutz zuzuerkennen und weiter hilfsweise, die Beklagte zu verpflichten, festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG vorliegen. Zur Klagebegründung hat er geltend gemacht, sein Sachvortrag sei mit fadenscheinigen Argumenten als unglaubhaft abgetan worden. Es könne nicht überzeugen, wenn die Beklagte annehme, er werde bei einer Rückkehr nach Gambia seine Homosexualität nicht ausleben, weil er sich in Deutschland zurückhalte. Er werde durch andere Gambier in der Flüchtlingsunterkunft eingeschüchtert. Er habe eine derart feminine Aura, dass es ihm schwerfalle, nicht aufzufallen. Einmal sei die Situation in der Gemeinschaftsunterkunft sogar so eskaliert, dass er die Unterkunft habe wechseln müssen. Auch in der neuen Unterkunft sei er von Landsleuten erkannt worden und schließlich in seiner Verzweiflung nach Berlin zu seinem Freund geflüchtet. Eine Woche habe er danach in ... in psychiatrisch-stationärer Behandlung verbracht. Die gegenwärtige Auskunftslage bezüglich der Situation homosexueller Menschen in Gambia sei im Bescheid der Beklagten nicht gewürdigt worden. Vermeintliche Widersprüche im Anhörungsprotokoll seien darauf zurückzuführen, dass er unter Druck nicht „performen“ könne und der Dolmetscher nur sehr gebrochen Deutsch gesprochen habe. Zum Vorfluchtgeschehen sei zu ergänzen, dass der Freund namens ... nicht Butler, sondern Arzt und 43 Jahre alt gewesen sei. ... habe Gambia häufig aufgesucht, jeweils im Hotel ... übernachtet und hin und wieder mit ihm geschlafen. Er, der Kläger, sei in einer festen Beziehung mit einem „schwarzen“ Mann namens ... gewesen, der als Fotomodel gearbeitet und den er ebenfalls im Hotel kennengelernt habe, wo sie Telefonnummern ausgetauscht hätten. Diesen Mann habe er etwa zwei Jahre, nachdem sie sich kennengelernt hätten, nach Hause mitgebracht. ... habe seine Beziehung mit ... akzeptiert, weil er, der Kläger, davon stark profitiert habe. Der Freund habe ihm Klamotten gekauft und ihn auch sonst finanziell unterstützt. So habe er ihm auch das Ticket für die Fähre nach Barra bezahlt, von wo aus er über den Senegal ausgereist sei. Aus dem Ausland habe er dann von einem Onkel erfahren, dass sein Vater bei der Polizei Anzeige erstattet habe. Sein Vater sei ein religiöser Geschäftsmann, der Großvater sei Imam gewesen. Den Freund in ... habe er in Schwulennetzwerken im Internet kennengelernt. Mittlerweile sei er, der Kläger, in einer Beziehung mit einem in Großbritannien lebenden Mann.
Der Kläger hat eine eidesstattliche Versicherung des ... vom 18.02.2019 vorgelegt, in der dieser erklärte, den Kläger 2015 kennengelernt zu haben, seither in einer festen Beziehung mit ihm zu leben und ihn regelmäßig in Deutschland zu besuchen. Sie wünschten sich eine gemeinsame Zukunft.
In der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht am 31.07.2019 gab der Kläger im Wesentlichen an, sein Cousin habe herausgefunden, dass er mit seinem jahrelangen Freund in einer homosexuellen Beziehung sei, und es der Familie erzählt. Seine Eltern hätten schon von frühester Kindheit den Verdacht gehabt, dass er schwul sei, weil er nur mit Mädchen gespielt habe. Der Vater habe schon in der Kindheit gesagt, dass er ihn umbringen würde, wenn er ihn mit Männern erwische. Als er mit ... entdeckt worden sei, habe der Cousin gesagt, dass es also stimme, dass er schwul sei. Er fürchte, man werde ihn bei einer Rückkehr umbringen. Deswegen habe er, als der Cousin hereingekommen sei, sofort einen Stuhl genommen, das Fenster zerstört und sei mit dem Freund, bei dem es sich um ... gehandelt habe, geflohen. Acht Monate sei er mit ... zusammen gewesen. Es sei der erste Tag gewesen, an dem sie gemeinsam zu Hause gewesen seien. Davor habe ihn ... immer nur abgeholt. Drei Tage hätten sie nach der Flucht aus dem Zimmer im Wald verbracht, dann sei der Freund zu ihm nach Hause gegangen und habe heimlich Kleidung für ihn geholt. Er habe sich umgezogen, damit man ihn auf der Straße nicht erkenne. Er sei dann in das Hotel ... gegangen und habe mit dem Chef geredet, der Marokkaner gewesen sei und nichts gegen seine sexuelle Orientierung gehabt habe. Dieser habe ihn ein paar Tage im Hotel bleiben lassen und angekündigt, sich überlegen zu wollen, wie er ihm helfen könne. Schließlich habe er seinem Chef gesagt, dass ... ihm helfen könne. ... habe ihm Geld geschickt, mit dem er Gambia verlassen habe. Auf Unstimmigkeiten zu den vorher getätigten Aussagen angesprochen, gab der Kläger an, dass es Verständigungsschwierigkeiten gegeben habe. Der Dolmetscher habe einiges durcheinandergebracht und ihn gehasst, weil er schwul sei. Hier in Deutschland knüpfe er Kontakte über eine Internetplattform namens Gay Romeo.
Mit Urteil vom 31.07.2019 hat das Verwaltungsgericht die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt: Zwar sei es von der Homosexualität des Klägers überzeugt. Jedoch sei weder das behauptete Vorverfolgungsgeschehen glaubhaft gemacht noch lasse sich die Furcht des Klägers vor Verfolgung mit seiner Homosexualität begründen. Die Einlassungen des Klägers zur Verfolgung durch seine Familie begegneten in Bezug auf ihre Glaubhaftigkeit durchgreifenden Zweifeln, sodass davon ausgegangen werden müsse, dass der Geschichte über die Entdeckung des Klägers und seines Freundes durch den Cousin sowie die anschließende Flucht keine wahre Begebenheit zugrunde liege. Selbst wenn man das Geschehen als wahr unterstelle, folge - entgegen den Behauptungen des Klägers - daraus nicht, dass er bei einer Rückkehr nach Gambia sicher den Tod erleiden werde. Schließlich habe ihm sein Chef Schutz gewährt, sodass sich die soziale Ächtung und Verfolgung nicht auf seinen Arbeitsplatz erstreckt habe. Auch habe die Familie seit seiner Kindheit vermutet, dass er homosexuell sei, aber nichts unternommen. Nicht plausibel sei auch, wie der Kläger von einer konkreten Drohung, die nach dessen Entdeckung mit seinem Freund ausgesprochen worden sein solle, erfahren haben sollte, wenn er seitdem keinen Kontakt mehr zur Familie gehabt haben solle und diese keine Kenntnis davon gehabt habe, wo er sich aufhalte. Die Homosexualität des Klägers reiche allein nicht aus, um die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgung in Gambia zu begründen. Die diesbezüglichen Erkenntnisse, die die Situation unter der Vorgängerregierung des Präsidenten Yahya Jammeh beschrieben und auch vom Verwaltungsgerichtshof in seinem Urteil vom 26.10.2016 (A 9 S 908/13 - juris) zugrunde gelegt worden seien, besäßen auch unter der gegenwärtigen Regierung von Präsident Adama Barrow weiterhin Gültigkeit. Die Rechtslage in Gambia habe sich nicht verändert, die tatsächliche Situation für Homosexuelle habe sich aber sogar noch verbessert, da unter der Regierung Barrow zumindest diskutiert werde, die Anti-Homosexuellen-Gesetze zu revidieren. Strafverfahren gegen drei ursprünglich wegen „gesteigerter Homosexualität“ („aggravated homosexuality“) angeklagte Männer seien eingestellt worden. Weitere Gerichtsverfahren gegen Homosexuelle seien nicht bekannt.
Mit Beschluss vom 25.02.2021 (A 9 S 2924/19) hat der Verwaltungsgerichtshof die Berufung zugelassen. Innerhalb der Berufungsbegründungsfrist hat der Kläger die Berufung begründet und im Wesentlichen ausgeführt: Ungeachtet einer Vorverfolgung habe er begründete Furcht vor Verfolgung in Gambia wegen seiner Homosexualität. Es sei durchaus entscheidungserheblich, wie er sie in Deutschland auslebe. Denn der Verwaltungsgerichtshof habe in dem Urteil vom 26.10.2016 die Klage nur deshalb abgewiesen, weil er davon überzeugt gewesen sei, dass der dortige Kläger seine Homosexualität aus anderen Gründen als dem einer möglichen Verfolgung nicht offen auslebe und ihm deshalb nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung oder ein ernsthafter Schaden drohe. Er selbst hingegen wolle seine Homosexualität offen ausleben. Es liege in der Natur der Sache, dass homosexuelle Menschen in Staaten, in denen dies religiös oder kulturell bedingt verpönt sei, ihre sexuelle Orientierung unterdrückten und durch diesen erzwungenen Verzicht Verfolgung vermieden. Bei der anzustellenden Gefahrenprognose dürfe deshalb nicht außer Acht gelassen werden, dass viele Gambier ihre homosexuellen Neigungen unterdrückten, um sich nicht in Gefahr zu bringen. Dementsprechend sei auch die Zahl der in Gambia dokumentierten Übergriffe gering. Schlösse man aus dieser geringen Zahl an Übergriffen aber darauf, dass die Verfolgungsdichte geringfügig sei, stünde dies nicht im Einklang mit der jüngeren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und des Bundesverwaltungsgerichts. Danach sei für die Bestimmung der Verfolgungsdichte die Zahl der Personen maßgeblich, die sich offen zu ihrer Homosexualität bekennen würden. Die drohende Diskriminierung seitens staatlicher oder privater Akteure erreiche die Intensität einer Verfolgungshandlung. Eine Verfolgung durch private Akteure habe das Verwaltungsgericht gar nicht erst in Betracht gezogen. Staatlicher Schutz sei dagegen nicht zu erlangen.
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Der Kläger beantragt,
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das Urteil des Verwaltungsgerichts Sigmaringen vom 31. Juli 2019 - A 7 K 5426/17 - zu ändern und die Ziffern 2 und 4 bis 7 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 22.06.2017 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, hilfsweise, die Beklagte zu verpflichten, ihm den subsidiären Schutz zuzuerkennen, weiter hilfsweise die Beklagte zu verpflichten, festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG vorliegt.
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Die Beklagte hat keinen Antrag gestellt, verteidigt aber das angefochtene Urteil und trägt vor: Es sei für die Prüfung einer staatlichen Verfolgung zunächst unerheblich, ob homosexuelle Handlungen in Gambia unter Strafe stünden. Erheblich sei vielmehr, ob es auch tatsächlich mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu Verfolgungshandlungen in Form von Verurteilungen zu einer Freiheitsstrafe komme. Zu Verhaftungen wegen homosexueller Handlungen sei es zuletzt 2015 gekommen, Verurteilungen seien nicht verzeichnet. Seit der Machtübernahme durch Präsident Barrow sei es auch nicht mehr zu Verhaftungen gekommen. Gesellschaftlich werde Homosexualität in Gambia nach wie vor praktisch nicht akzeptiert und öffentliche Zurschaustellung stoße auf Ablehnung. Übergriffe in Form von Angriffen, Erniedrigungen oder sogar Morden, die der Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen 2015 befürchtet habe, seien jedoch nicht dokumentiert. Es bleibe unklar, wie sich der Kläger, der sich vor dem Verwaltungsgericht widersprüchlich eingelassen habe, bei einer Rückkehr verhalten werde und wie potentielle Verfolger darauf reagieren würden.
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In der Berufungsverhandlung hat der Senat den Kläger informatorisch angehört. Hinsichtlich der Angaben des Klägers wird auf die Anlage zum Sitzungsprotokoll verwiesen.
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Dem Senat liegen die Akten der Beklagten und des Verwaltungsgerichts vor. Hierauf sowie auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen wird wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

 
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I. Das Gericht konnte über die Berufung verhandeln und entscheiden, obwohl die Beklagte in der Berufungsverhandlung nicht vertreten war. Die Beklagte ist auf diese Möglichkeit in der ihr rechtzeitig zugestellten Ladung hingewiesen worden (§ 125 Abs. 1 Satz 1, § 102 Abs. 2 VwGO).
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II. Die Berufung ist nach Zulassung durch den Senat statthaft und auch im Übrigen zulässig.
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III. Die Berufung ist auch begründet. Das Verwaltungsgericht hat die Klage des Klägers im Hauptantrag zu Unrecht abgewiesen. Die Ablehnung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in Ziffer 2 sowie die zu Ziffern 4 bis 7 des Bescheids des Bundesamts vom 22.06.2017 getroffenen Entscheidungen sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aus § 3 Abs. 4 AsylG (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 VwGO).
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1. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28.07.1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.
19 
Der Kläger ist danach Flüchtling im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG, denn er hat die begründete Furcht, bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland Gambia wegen seiner Homosexualität verfolgt zu werden (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 und 2 Buchst. a, § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG, § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG). Eine anderweitige Schutzmöglichkeit durch Inanspruchnahme eines Schutzes durch Akteure gemäß § 3d AsylG oder durch Niederlassung in einem anderen Landesteil gemäß § 3e AsylG steht dem Kläger in Gambia nicht zur Verfügung.
20 
a) Für den Kläger ist der Verfolgungsgrund nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG erfüllt, da homosexuelle Männer in Gambia einer bestimmten sozialen Gruppe angehören (aa) und der Kläger homosexuell ist (bb).
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aa) Homosexuelle Männer erfüllen in Gambia das Verfolgungsmerkmal der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (§ 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG).
22 
Eine Gruppe gilt gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten (§ 3b Abs. 1 Nr. 4 Buchst. a AsylG), und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (§ 3b Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b AsylG). Als eine bestimmte soziale Gruppe kann auch eine Gruppe gelten, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Orientierung gründet; Handlungen, die nach deutschem Recht als strafbar gelten, fallen nicht darunter; eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe kann auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft (§ 3b Abs. 1 Nr. 4 a. E. AsylG). Diese Voraussetzungen liegen hier vor.
23 
(1) Die sexuelle Ausrichtung einer Person ist ein unveränderbares Merkmal, das so bedeutsam für die Identität ist, dass die Person nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten oder sie geheim zu halten (vgl. EuGH, Urteil vom 07.11.2013 - Rs. C-199/12 bis C-201/12 - X, Y und Z - juris Rn. 46, 70, 71; BVerfG, Beschluss vom 22.01.2020 - 2 BvR 1807/19 - juris Rn. 19).
24 
(2) Das Bestehen strafrechtlicher Bestimmungen, die spezifisch Homosexuelle betreffen, erlaubt die Feststellung, dass diese Personen eine abgegrenzte Gruppe bilden, die von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (EuGH, Urteil vom 07.11.2013 a. a. O. Rn. 48).
25 
Das gambische Strafgesetzbuch enthält in Art. 144, 144A und 147 solche Vorschriften, die sich spezifisch gegen Homosexuelle richten. Homosexualität wird als „Geschlechtsverkehr wider die natürliche Ordnung“ (engl.: „carnal knowledge against the order of nature“) angesehen. Art. 144 Abs. 2 Buchst. c, Art. 144A und 147 des gambischen Strafgesetzbuchs geben als Beispiel für die Tathandlung „widernatürlichen Geschlechtsverkehrs“ ausdrücklich „homosexuelle Akte“ und Homosexualität als solche an. Art. 144 des gambischen Strafgesetzbuchs sieht für „widernatürlichen Geschlechtsverkehr“ eine Freiheitsstrafe von 14 Jahren vor, als „schwere Homosexualität“ wird nach Art. 144A des gambischen Strafgesetzbuchs die wiederholte Tatbegehung sogar mit lebenslanger Freiheitsstrafe sanktioniert. Der Versuch ist gemäß Art. 145 des gambischen Strafgesetzbuchs strafbar und wird mit Freiheitsstrafe von 7 Jahren bestraft. Art. 147 des gambischen Strafgesetzbuchs bedroht „Akte grober Unanständigkeit“, zu denen auch homosexuelle Akte im privaten Bereich gehören, mit Freiheitsstrafe von 5 Jahren (engl. Wortlaut der Straftatbestände in EUAA (vormals EASO), EASO Country of Origin Information Report - The Gambia Country Focus vom 01.12.2017, S. 67 ff.).
26 
bb) Der Kläger gehört der Gruppe der Männer mit homosexueller Identität an.
27 
Schon das Verwaltungsgericht ist zu der Überzeugung gelangt, dass der Kläger homosexuell ist. Auch für den hier erkennenden Senat steht dies nach eigener und umfassender Anhörung des Klägers zu seiner sexuellen Identität in der Berufungsverhandlung außer Zweifel. Für seine Verhältnisse detailreich und emotional schilderte der 25 Jahre alte Kläger seine Situation als homosexueller Mann im Herkunftsland. Zwar konnte er mit seiner knappen Darstellung, er habe schon seit seiner Kindheit immer nur „was für Männer gefühlt“, nicht so sehr veranschaulichen, wie er seine Homosexualität entdeckt hat und unmittelbar mit dieser Entdeckung umgegangen ist, außer, dass er sie nicht verstanden haben will. Dies ist nach der Überzeugung des Senats jedoch zum einen auf die Haltung des Klägers, seine sexuelle Identität heute nicht mehr zu hinterfragen, sondern als gegeben zu akzeptieren und zum anderen auf eine kulturelle Prägung durch eine Tabuisierung von Fragen sexueller Identität im Herkunftsland zurückzuführen. Überaus anschaulich schilderte der Kläger demgegenüber, wie sein familiäres Umfeld seine von der dort empfundenen Normalität abweichende sexuelle Identität erahnte, dass seine Mutter die Homosexualität früh erkannte und ihn vor dem feindseligen Umfeld zu schützen bemüht war. Für den Senat ist es plausibel, dass eine Mutter mit ihrem Sohn unter den in Gambia vorherrschenden Bedingungen nicht vertieft über Fragen sexueller Identität sprechen, sondern ihn in Anbetracht der eigenen Ohnmacht und der Gefahren für ihn nur dazu anhalten wird, dieses Merkmal seiner Identität vor anderen Menschen und selbst vor den engsten Familienangehörigen zu verbergen. In einem derartigen gesellschaftlichen Klima ist es für den Senat auch verständlich, dass der Vater und der Cousin bereits Argwohn gegen den Kläger hegten, sich aber wegen der selbstempfundenen Schande eines homosexuellen Familienmitglieds und der gravierenden sozialen Bedeutung eines offenen „Outings“ einer eindeutigen Erkenntnis solange verweigerten, bis eine Auseinandersetzung mit der Homosexualität des Klägers unvermeidlich wurde. Überzeugend erläuterte der Kläger, wie sein weiteres Umfeld (Mitschüler, weiterer Familien- und Bekanntenkreis) ihn ebenfalls bereits der Homosexualität verdächtigte. Dies konnte auch der Familie nicht entgangen sein, sodass der gesellschaftliche Druck auf sie und den Kläger stetig zugenommen haben muss. Dass er sich der Gefahren selbst einer heimlich ausgelebten Homosexualität bewusst war, konnte der Kläger ebenfalls glaubhaft machen, indem er bei der Anhörung vor dem Senat immer wieder darauf zurückkam, wie vorsichtig er sein musste. Schließlich vermochte der Kläger dem Senat vor Augen zu führen, wie er sich in Deutschland eine Existenz aufgebaut hat, in der er seine Homosexualität offen ausleben kann und wie sein Leben trotz eines Gefühls der Freiheit gelegentlich Konfliktsituationen mit sich bringt. Das Herausbilden seiner sexuellen Orientierung, die individuelle (Konflikt-)Situation als homosexueller Mann in Gambia und das freie Ausleben seiner sexuellen Identität in Deutschland schilderte der Kläger detailreich und emotional. Auf den Senat machten der Kläger und sein Vorbringen insoweit einen vollauf authentischen Eindruck. An der Bedeutsamkeit der Homosexualität für die persönliche Identität des Klägers besteht demnach kein Zweifel.
28 
b) Die Furcht des Klägers, bei einer Rückkehr nach Gambia wegen seiner Homosexualität zum Opfer von Verfolgungshandlungen gemäß § 3a AsylG zu werden, ist begründet.
29 
Als Verfolgungshandlung im Sinne von § 3a Abs. 1 AsylG gelten Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG), oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG beschriebenen Weise betroffen ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Als Verfolgung können unter anderem die Anwendung physischer oder psychischer, einschließlich sexueller Gewalt (§ 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG) oder eine unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung (§ 3a Abs. 2 Nr. 3 AsylG) gelten.
30 
Bei Prüfung eines Antrags auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sind alle Akte zu berücksichtigen, denen der Antragsteller ausgesetzt war oder ausgesetzt zu werden droht, um festzustellen, ob unter Berücksichtigung seiner persönlichen Umstände diese Handlungen als Verfolgung im Sinne von § 3a Abs. 1 AsylG gelten können (vgl. EuGH, Urteil vom 05.09.2012 - Rs. C-71/11 und C-99/11 - Y und Z - juris Rn. 68 zu Art. 9 Abs. 1 Richtlinie 2011/95/EU). Liegt keine Verfolgungshandlung nach § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG vor, ist weiter zu prüfen, ob sich eine solche aus einer Gesamtbetrachtung nach § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG ergibt. Die Maßnahmen im Sinne von § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG können Menschenrechtsverletzungen, aber auch Diskriminierungen sein, die für sich allein nicht die Qualität einer Menschenrechtsverletzung aufweisen (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 - juris Rn. 34).
31 
In § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG beruht die Schwere der Eingriffshandlungen auf ihrer Art oder Wiederholung (Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes - im Folgenden: Richtlinie 2011/95/EU -: „nature or repetition“). Während die „Art“ der Handlung ein qualitatives Kriterium beschreibt, enthält der Begriff der „Wiederholung“ eine quantitative Dimension (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 a. a. O. Rn. 35).
32 
Setzt die Erfüllung des Tatbestands von § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG mithin eine bestimmte gravierende Eingriffshandlung oder die Wiederholung gleichartiger Handlungen voraus, ermöglicht die Tatbestandsalternative des § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG in einer erweiterten Perspektive die Berücksichtigung einer Kumulation unterschiedlicher Eingriffshandlungen, wie sie beispielhaft in § 3a Abs. 2 AsylG aufgeführt sind. Die Kumulationsbetrachtung entspricht auch dem Verständnis des UNHCR vom Verfolgungsbegriff in Art. 1 A Genfer Flüchtlingskonvention. In die nach § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG erforderliche Gesamtbetrachtung können insbesondere verschiedenartige Diskriminierungen gegenüber den Angehörigen einer bestimmten sozialen Gruppe einbezogen werden, z. B. beim Zugang zu Bildungs- oder Gesundheitseinrichtungen, aber auch existenzielle berufliche oder wirtschaftliche Einschränkungen. Die einzelnen Eingriffshandlungen müssen nicht für sich allein die Qualität einer Menschenrechtsverletzung aufweisen, in ihrer Gesamtheit aber eine Betroffenheit des Einzelnen bewirken, die der Eingriffsintensität einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung im Sinne von § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG entspricht (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 a. a. O. Rn. 36 m. w. N.).
33 
Daher sind bei der Prüfung einer Verfolgungshandlung im Sinne von § 3a Abs. 1 AsylG zunächst alle in Betracht kommenden Eingriffshandlungen in den Blick zu nehmen, zu denen Menschenrechtsverletzungen wie sonstige schwerwiegende Repressalien, Diskriminierungen, Nachteile und Beeinträchtigungen zählen. In dieser Prüfungsphase dürfen Handlungen, wie sie beispielhaft in § 3a Abs. 2 AsylG genannt werden, nicht vorschnell deshalb ausgeschlossen werden, weil sie nur eine Diskriminierung, aber keine Menschenrechtsverletzung darstellen. Zunächst ist aber zu prüfen, ob die Verletzung eines grundlegenden Menschenrechts im Sinne von § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG vorliegt. Ist das nicht der Fall, ist weiter zu prüfen, ob die Summe der nach § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG zu berücksichtigenden Eingriffe zu einer ähnlich schweren Rechtsverletzung beim Betroffenen führt wie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte im Sinne von § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG. Ohne eine fallbezogene Konkretisierung des Maßstabs für eine schwerwiegende Verletzung grundlegender Menschenrechte gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG kann die bewertende Beurteilung nach § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG, ob der einzelne Asylbewerber unterschiedlichen Maßnahmen in einer so gravierenden Kumulation ausgesetzt ist, dass seine Betroffenheit mit der in § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG vergleichbar ist, nicht gelingen. Stellt das Gericht hinsichtlich des Tatbestandsmerkmals der „Betroffenheit in ähnlicher Weise“ keine Vergleichsbetrachtung mit den von § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG erfassten Verfolgungshandlungen an, liegt darin ein Verstoß gegen Bundesrecht (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 a. a. O. Rn. 37 m. w. N.).
34 
Maßgeblich für das Vorliegen einer Verfolgungshandlung ist der Eintritt einer Rechtsgutsverletzung. Für Verfolgungshandlungen in Form von Eingriffen in die Religionsfreiheit hat der Europäische Gerichtshof entschieden, dass ein hinreichend schwerer Eingriff gemäß Art. 9 Abs. 1 Richtlinie 2011/95/EU (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG) nicht voraussetzt, dass der Ausländer seinen Glauben nach Rückkehr in sein Herkunftsland tatsächlich in einer Weise ausübt, die ihn der Gefahr der Verfolgung aussetzt. Vielmehr kann bereits der unter dem Druck der Verfolgungsgefahr erzwungene Verzicht auf die Glaubensbetätigung die Qualität einer Verfolgung erreichen (vgl. EuGH, Urteil vom 05.09.2012 a. a. O. Rn. 69). Zwar ist das hier in Rede stehende Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens aus Art. 8 EMRK, das auch das Sexualleben und die sexuelle Orientierung schützt (vgl. EGMR, Urteil vom 22.10.1981 - Nr. 7525/76 - Dudgeon v. United Kingdom - NJW 1984, 541, 542), kein Recht, von dem nicht gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK abgewichen werden kann (vgl. § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG), sodass eine Verletzung dieses Rechts nicht von vornherein als schwerwiegende Menschenrechtsverletzung angesehen werden kann (vgl. EuGH, Urteil vom 11.07.2013 a. a. O. Rn. 54 f.). Allerdings kann die Freiheitsstrafe, mit der eine Rechtsvorschrift bewehrt ist, die homosexuelle Handlungen unter Strafe stellt, für sich alleine eine Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie sein, sofern sie im Herkunftsland, das eine solche Regelung erlassen hat, tatsächlich verhängt wird. Eine solche Strafe stellt nämlich eine unverhältnismäßige oder diskriminierende Bestrafung nach Art. 9 Abs. 2 Buchst. c Richtlinie 2011/95/EU (§ 3a Abs. 2 Nr. 3 AsylG) dar (vgl. EuGH, Urteil vom 11.07.2013 a. a. O. Rn. 57). Folglich ist auch der unter dieser Strafandrohung erzwungene Verzicht auf das Ausleben einer homosexuellen Identität eine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung (vgl. auch United Kingdom Supreme Court, Urteil vom 07.07.2010, HJ (Iran) (FC) v. Secretary of State for the Home Department (2010) UKSC 31, abrufbar unter https://www.supremecourt.uk/cases/docs/uksc-2009-0054-judgment.pdf, Rn. 82, zuletzt abgerufen am 06.07.2022).
35 
Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer - bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr - eine Verfolgungshandlung gemäß § 3a AsylG wegen eines Verfolgungsgrundes nach § 3b AsylG aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr („real risk“) abstellt; das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (stRspr, vgl. BVerwG, Urteile vom 01.06.2011 - 10 C 25.10 - juris Rn. 22 m. w. N. und vom 20.02.2013 a. a. O. Rn. 32; Beschluss vom 15.08.2017 - 1 B 120.17 - juris Rn. 8).
36 
Hierfür ist erforderlich, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine individuelle Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Diese Würdigung ist auf der Grundlage einer „qualifizierenden“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung vorzunehmen. Hierbei sind gemäß Art. 4 Abs. 3 Richtlinie 2011/95/EU neben den Angaben des Schutzsuchenden und seiner individuellen Lage auch alle mit dem Herkunftsland verbundenen flüchtlingsrelevanten Tatsachen zu berücksichtigen. Entscheidend ist, ob in Anbetracht der Gesamtumstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, Urteile vom 20.02.2013 a. a. O. Rn. 32 m. w. N. und vom 04.07.2019 - 1 C 33.18 - juris Rn. 15).
37 
Eine in diesem Sinne wohlbegründete Furcht vor einem Verfolgungsereignis kann auch dann vorliegen, wenn bei einer „quantitativen“ oder mathematischen Betrachtungsweise ein Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 Prozent für dessen Eintritt besteht. In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus; ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die „reale Möglichkeit“ einer Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Bei der Abwägung aller Umstände ist die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in die Betrachtung einzubeziehen. Besteht bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine geringe mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung, macht es auch aus der Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen erheblichen Unterschied, ob er z. B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber die Todesstrafe riskiert. Maßgebend ist damit letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit, die das vorrangige qualitative Kriterium bildet, das bei der Beurteilung anzulegen ist, ob die Wahrscheinlichkeit einer Gefahr „beachtlich“ ist (stRspr, vgl. BVerwG, Urteil vom 04.07.2019 a. a. O. Rn. 15 m. w. N.).
38 
Der im Tatbestandsmerkmal „aus begründeter Furcht vor Verfolgung“ enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab gilt unabhängig von der Frage, ob der Asylbewerber vorverfolgt ausgereist ist oder nicht. Vorverfolgte werden nach den unionsrechtlichen Vorgaben nicht über einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab, sondern über die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU privilegiert. Danach besteht bei ihnen eine tatsächliche Vermutung, dass ihre Furcht vor Verfolgung begründet ist. Diese Vermutung kann widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe dagegensprechen, dass ihnen erneut eine derartige Verfolgung droht (vgl. BVerwG, Urteile vom 04.07.2019 a. a. O. Rn. 16 und vom 01.06.2011 a. a. O. Rn. 22 zur inhaltsgleichen Regelung in Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG).
39 
Zwar kann aus dem Vorbringen des Klägers nicht geschlossen werden, dass er vorverfolgt aus Gambia ausgereist wäre (aa), allerdings droht ihm bei einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung wegen seiner Homosexualität (bb).
40 
aa) Der Kläger ist nicht vorverfolgt ausgereist. Sein diesbezügliches Vorbringen ist nach der Überzeugung des Senats nicht glaubhaft. Er kann sich deshalb nicht auf die Vermutung gemäß Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU stützen, bei einer Rückkehr nach Gambia erneut Opfer einer Verfolgung zu werden.
41 
Die Gründe für seine Verfolgungsfurcht hat der Asylsuchende im Rahmen seiner Mitwirkungspflicht nach § 86 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 VwGO, §§ 15 und 25 Abs. 1 AsylG vorzutragen. Die Glaubhaftmachung der Asylgründe setzt eine schlüssige, nachprüfbare Darlegung voraus. Der Schutzsuchende muss unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt schildern, aus dem sich ergibt, dass ihm bei verständiger Würdigung politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. Jedenfalls in Bezug auf die in seine eigene Sphäre fallenden Ereignisse und persönlichen Erlebnisse hat er eine Schilderung abzugeben, die geeignet ist, seinen Anspruch lückenlos zu tragen (BVerwG, Beschluss vom 19.10.2001 - 1 B 24.01 - juris Rn. 5; Urteile vom 24.03.1987 - 9 C 321.85 - juris Rn. 9 und vom 22.03.1983 - 9 C 68.81 - juris Rn. 5). Bei erheblichen Widersprüchen oder Steigerungen im Sachvortrag kann dem Kläger nur bei einer überzeugenden Auflösung der Unstimmigkeiten geglaubt werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 12.11.1985 - 9 C 27.85 - juris Rn. 17 m. w. N.).
42 
Der Kläger konnte den Senat nicht davon überzeugen, dass er vorverfolgt aus Gambia ausgereist ist. Das diesbezügliche Vorbringen des Klägers ist unglaubhaft. Es weist erhebliche Unstimmigkeiten, Lücken und Widersprüche auf, ohne dass der Kläger diese überzeugend zu erklären vermochte. Seine Behauptung, der Dolmetscher habe seine Angaben während der Anhörung beim Bundesamt nicht korrekt wiedergegeben, überzeugt den Senat nicht, da es sich um Unstimmigkeiten in konkreten Einzelheiten des Sachverhalts handelt, die etwa die Frage betreffen, ob der Kläger vor der Flucht durch das Fenster mit seinem Cousin gesprochen habe. Hierzu hat der Kläger Angaben gemacht, die im Widerspruch zueinanderstehen, ohne dass eine bewusst wahrheitswidrige Übersetzung des Dolmetschers zu neutralen Sachverhaltsangaben des Klägers naheliegt. Außerdem hat der Kläger nach der Anhörung beim Bundesamt auf eine Rückübersetzung verzichtet, was gegen Verständigungsschwierigkeiten spricht. Denn ihm musste jedenfalls angesichts der zahlreichen Vorhalte des Bundesamts während der Anhörung bewusst gewesen sein, dass Unstimmigkeiten in seinem Vortrag protokolliert worden sind. Auch der von dem Kläger geäußerte Verdacht, der Dolmetscher sei voreingenommen gewesen und habe deswegen nicht korrekt übersetzt, kann nur auf einem Eindruck beruhen, den der Kläger während der Anhörung gewonnen hat. Dann ist aber nicht nachvollziehbar, dass der Kläger seinen Verzicht auf eine Rückübersetzung erklärt hat, die es ihm erlaubt hätte, etwaige falsche Übersetzungen richtigzustellen. Angesichts dieser Umstände hat das Verwaltungsgericht das Vorbringen des Klägers zu Recht als unglaubhaft bewertet. Hinzukommen weitere Ungereimtheiten zwischen den Angaben des Klägers beim Verwaltungsgericht und denen in der Berufungsverhandlung vor dem Senat. Wollte der Kläger den Freund ... ... laut seinen Angaben im Rahmen der Anhörung durch das Verwaltungsgericht noch bei der Arbeit im Hotel kennengelernt haben, sprach er in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat davon, ihn im Alter von zwölf Jahren auf einer Party kennengelernt zu haben. Auf einer Party sei es auch dazu gekommen, dass die Beziehung zu ... aufgedeckt worden sei; zuvor hatte der Kläger lediglich angegeben, den Freund mit nach Hause gebracht zu haben. Nicht plausibel ist in Anbetracht der in der eigenen Familie als Schande empfundenen Homosexualität, dass der Cousin des Klägers laut nach anderen Leuten geschrien haben soll, als er ihn und den Freund bei homosexuellen Handlungen angetroffen habe. Nach der Person ... befragt, dem der Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht eine erhebliche Bedeutung bei der Flucht beimaß und den er beim Bundesamt als Partner bezeichnete, antwortete der Kläger ausweichend oder oberflächlich. Allgemein blieb die Darstellung des fluchtauslösenden Ereignisses im Unterschied zu den Angaben des Klägers zu seiner Homosexualität vage und detailarm. Selbst wenn die Homosexualität des Klägers bei seiner Ausreise eine gewisse Bedeutung gehabt haben sollte - so war offenbar zuvor auch die ihn beschützende Mutter gestorben und konnte sein Freund ... nach Angaben des Klägers aufgrund einer Einladung zeitnah nach Schweden ausreisen -, kann der Senat keine hinreichende Gewissheit darüber gewinnen, dass die Ausreise einem von dem Kläger beschriebenen Vorverfolgungsgeschehen geschuldet war.
43 
bb) Allerdings droht dem Kläger dessen ungeachtet bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr nach Gambia mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung wegen seiner für die persönliche Identität bedeutsamen Homosexualität.
44 
In dem vom Untersuchungsgrundsatz beherrschten Verwaltungsprozess ist es Aufgabe des Tatsachengerichts, den maßgeblichen Sachverhalt zu ermitteln, dazu von Amts wegen die erforderliche Sachverhaltsaufklärung zu betreiben und sich eine eigene Überzeugung zu bilden (§ 86 Abs. 1 Satz 1, § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Auch die in Asylverfahren gesteigerten Mitwirkungspflichten (§§ 15 und 25 AsylG) entbinden das Gericht nicht von seiner Aufklärungspflicht, um sich so die für seine Entscheidung gebotene Überzeugungsgewissheit zu verschaffen. Hierzu muss es die Prognosetatsachen ermitteln, diese im Rahmen einer Gesamtschau bewerten und sich auf dieser Grundlage eine Überzeugung bilden (vgl. BVerwG, Urteil vom 04.07.2019 a. a. O. Rn. 19).
45 
Die Überzeugungsgewissheit gilt nicht nur in Bezug auf das Vorbringen des Schutzsuchenden zu seiner persönlichen Sphäre zuzurechnenden Vorgängen, sondern auch hinsichtlich der in die Gefahrenprognose einzustellenden allgemeinen Erkenntnisse. Diese ergeben sich vor allem aus den zum Herkunftsland vorliegenden Erkenntnisquellen. Auch für diese Anknüpfungstatsachen gilt das Regelbeweismaß des § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Dabei darf das Tatsachengericht keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen und keine unumstößliche Gewissheit verlangen, sondern darf sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen, der Zweifeln Schweigen gebietet, auch wenn sie nicht völlig auszuschließen sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 04.07.2019 a. a. O. Rn. 20; Beschluss vom 08.02.2011 - 10 B 1.11 - juris Rn. 7 f. zur Gefahrenprognose bei § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG).
46 
Auf der Basis der so gewonnenen Prognosegrundlagen hat das Tatsachengericht bei der Erstellung der Gefahrenprognose über die Wahrscheinlichkeit künftiger Geschehensabläufe bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr des Schutzsuchenden zu befinden. Diese in die Zukunft gerichtete Projektion ist als Vorwegnahme zukünftiger Geschehnisse - im Unterschied zu Aussagen über Vergangenheit und Gegenwart - typischerweise mit Unsicherheiten belastet. Zu einem zukünftigen Geschehen ist nach der Natur der Sache immer nur eine Wahrscheinlichkeitsaussage, hier am Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit, möglich. Auch wenn die Prognose damit keines „vollen Beweises“ bedarf, ändert dies nichts daran, dass sich der Tatrichter gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO bei verständiger Würdigung der gesamten Umstände des Einzelfalls auch von der Richtigkeit seiner - verfahrensfehlerfrei - gewonnenen Prognose einer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohenden Verfolgung die volle Überzeugungsgewissheit zu verschaffen hat (stRspr, vgl. BVerwG, Urteile vom 04.07.2019 a. a. O. Rn. 21 und vom 16.04.1985 - 9 C 109.84 - juris Rn. 16; s. a. Beschluss vom 08.02.2011 a. a. O. Rn. 7 zur Gefahrenprognose bei § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG).
47 
In Fällen unsicherer Tatsachengrundlage bedarf es in besonderem Maß einer umfassenden Auswertung aller Erkenntnisquellen zur allgemeinen Lage im Herkunftsland. Hierauf aufbauend muss das Gericht bei unübersichtlicher Tatsachenlage und nur bruchstückhaften Informationen aus einem Herkunftsland aus einer Vielzahl von Einzelinformationen eine zusammenfassende Bewertung vornehmen (vgl. BVerwG, Urteil vom 21.04.2009 - 10 C 11.08 - juris Rn. 19). Dabei sind gewisse Prognoseunsicherheiten als unvermeidlich hinzunehmen und stehen einer Überzeugungsbildung nicht grundsätzlich entgegen, wenn eine weitere Sachaufklärung keinen Erfolg verspricht. Die Annahme einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit darf aber nicht unter Verzicht auf die Feststellung objektivierbarer Prognosetatsachen auf bloße Hypothesen und ungesicherte Annahmen gestützt werden. Kann das Gericht auf der Grundlage der zu seiner Überzeugung feststehenden Prognosebasis hinsichtlich der beachtlichen Wahrscheinlichkeit einer dem Kläger individuell drohenden Verfolgung weder in die eine noch in die andere Richtung eine Überzeugung gewinnen und sieht es keine Anhaltspunkte für eine weitere Sachverhaltsaufklärung, hat es die Nichterweislichkeit des behaupteten Verfolgungsschicksals festzustellen und eine Beweislastentscheidung zu treffen. Zuvor bedarf es aber stets einer eingehenden Analyse der Erkenntnisquellen und der sich hieraus ergebenden Erkenntnisse. Dabei hat das Gericht aufgrund des wertenden Charakters des Prognosemaßstabs der beachtlichen Wahrscheinlichkeit auch zu berücksichtigen, worauf etwaige Ungewissheiten und Unklarheiten zurückzuführen sind und ob sich nicht zumindest in der Gesamtschau der ihm vorliegenden Einzelinformationen hinreichende Indizien ergeben, die bei zusammenfassender Bewertung eine eigene Prognoseentscheidung zur Rückkehrgefährdung ermöglichen. Nur wenn dem Tatsachengericht auf der Grundlage der zu seiner Überzeugung feststehenden Prognosebasis eine eigene Prognoseentscheidung nicht möglich ist, darf es eine an der materiellen Beweislast auszurichtende Nichterweislichkeitsentscheidung treffen (BVerwG, Urteil vom 04.07.2019 a. a. O. Rn. 22).
48 
Zwar ist der Senat auf der Grundlage der vorliegenden Erkenntnisse über die gegenwärtige Situation homosexueller Männer im Gambia nicht davon überzeugt, dass dem Kläger Verfolgung wegen seiner sexuellen Identität seitens staatlicher Akteure droht (1), jedoch droht homosexuellen Männern wie dem Kläger in Gambia eine Verfolgungshandlung in Form einer Kumulierung verschiedener Maßnahmen einschließlich der Einschüchterung durch die trotz Nichtanwendung gleichwohl fortbestehende Strafandrohung, wenn sie der sie umgebenden Gesellschaft gegenüber ihre sexuelle Identität offenbarten (2).
49 
(1) Dem Kläger droht nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung (§ 3a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1 und 3 AsylG) allein durch staatliche Akteure (§ 3c Nr. 1 AsylG). Es ist zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat (§ 77 Abs. 1 AsylG) weder eine Strafverfolgung und Verurteilung des Klägers (a) noch eine sonstige Verfolgungshandlung seitens staatlicher Akteure (b) beachtlich wahrscheinlich.
50 
(a) Dem Kläger droht nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine strafrechtliche Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe wegen seiner Homosexualität und damit eine Verfolgungshandlung nach § 3a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 3 AsylG.
51 
Zwar steht Homosexualität in Gambia unter Strafe, allerdings kann bei qualifizierender Betrachtung gegenwärtig nicht davon ausgegangen werden, dass die Straftatbestände in Art. 144, 144A, 145 und 147 des gambischen Strafgesetzbuchs praktisch angewendet werden, es zu Festnahmen, Anklagen oder Verurteilungen und damit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu einer Verfolgungshandlung nach § 3a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 3 AsylG kommt.
52 
Seit dem Regierungswechsel von Präsident Yahya Jammeh zu Präsident Adama Barrow im Jahr 2017 ist es in Gambia nur zu einer relevanten Verurteilung wegen einer der genannten Straftatbestände gekommen.
53 
Nach dem aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amts hat das gambische Justizministerium zwar auf Anfrage des Auswärtigen Amts vom Oktober 2020 hin bestätigt, dass es seit 2017 keine Verhaftungen oder Strafverfolgung aufgrund von Homosexualität mehr gegeben habe. Die letzten bekannt gewordenen Verhaftungen erfolgten nach Kenntnis des Auswärtigen Amts im Jahr 2015; zu Verurteilungen kam es nach Kenntnis des Auswärtigen Amts nicht (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Gambia vom 12.01.2022, S. 9).
54 
Allerdings ist nach den in den Briefing Notes des Bundesamts vom 11.04.2022 (S. 4) genannten Quellen zumindest ein jüngerer Fall bekannt geworden, in dem es zu einer hier relevanten Verurteilung gekommen ist: Laut gambischem Nachrichtenportal „The Voice“ habe der Magistrate Court in Kanifing den senegalesischen Staatsangehörigen ... mit Urteil vom 26.04.2021 eines „versuchten unnatürlichen Vergehens“ (im englischen Originalgesetzestext: „attempts to commit an unnatural offence“) gem. Art. 145 des gambischen Strafgesetzbuches von 1965 in der Abänderung (Amendment) von 2005 für schuldig befunden und ihn zu der höchstmöglichen Freiheitsstrafe von sieben Jahren oder zu einer Geldstrafe in Höhe von 100.000,-- Dalasi (rd. 1.955,-- USD, Stand: 03.05.2021) verurteilt. Der Verurteilte sei zudem zur Schadensersatzleistung an das Opfer in Höhe von 50.000,-- Dalasi (ca. 977,-- USD, Stand: 03.05.2021) verpflichtet worden. Das gambische Nachrichtenportal „The Standard“ berichtete am 01.07.2020 erstmalig über die Festnahme unter dem Vorwurf der Homosexualität. „The Point“ berichtete am 02.07.2020 über die formelle Anklageerhebung gegen den Angeklagten wegen versuchter homosexueller Handlungen (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Briefing Notes vom 03.05.2021, S. 4). Laut Bundesamt handele es sich um einen „von Besonderheiten gekennzeichneten Einzelfall“, da der Verurteilte zuvor ein Geständnis abgelegt habe (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Briefing Notes vom 11.04.2022, S. 4).
55 
„The Standard“ berichtete zudem am 06.04.2022 über eine formelle Anklageerhebung gegen einen Mann wegen „schwerer Homosexualität“ (im englischen Originalgesetzestext: „aggravated homosexuality“) gemäß des Art. 144A Abs. 1 Buchst. a des gambischen Strafrechtsänderungsgesetzes von 2014. Die Staatsanwaltschaft wirft dem Angeklagten vor, 2021 Geschlechtsverkehr mit einem Zwölfjährigen vollzogen zu haben. Schwere Homosexualität ist mit lebenslänglicher Freiheitsstrafe bedroht (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Briefing Notes vom 11.04.2022, S. 4). Hierzu ist allerdings zu beachten, dass es sich - den dargestellten Sachverhalt mangels anderslautender Hinweise als wahr unterstellt - bei dem Geschlechtsverkehr mit einem Zwölfjährigen um einen auch nach deutschem Recht strafbaren sexuellen Missbrauch von Kindern (§ 176 Abs. 1 Nr. 1 StGB) handelt, dessen Verfolgung nicht schutzbegründend wirkt (vgl. § 3b Abs. 1 Nr. 4 a. E. AsylG).
56 
Im Übrigen teilt der Senat gegenwärtig die Einschätzung der Beklagten, dass es sich bei dem Fall des am 26.04.2021 verurteilten senegalesischen Staatsangehörigen um einen besonderen Einzelfall handelt. Diese Verurteilung lässt noch nicht darauf schließen, dass die gambischen Strafverfolgungsbehörden Verstöße gegen die einschlägigen Strafvorschriften wieder aktiv ermitteln und zur Anklage bringen, sodass mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit der Verurteilung homosexueller Männer zu einer Freiheitsstrafe zu rechnen ist. In Fällen von Strafverfolgung wegen Homosexualität wäre mit einer entsprechenden Berichterstattung zu rechnen, wie sie auch in den beiden genannten Fällen erfolgt ist. Die heftige gesellschaftliche Debatte um die Entkriminalisierung der Homosexualität (vgl. Bundesamt, Länderreport 39 - Republik Gambia vom 01.07.2021, S. 34) belegt ein großes Interesse der gambischen Bevölkerung an diesem Thema, was öffentlichen Strafverfahren - anders als privaten Verfolgungsakten - eine hohe Aufmerksamkeit verschaffen dürfte. Das öffentliche Interesse an einer Berichterstattung über Strafverfahren gegen homosexuelle Menschen dürfte damit unabhängig von der Haltung der Bevölkerung gegenüber Homosexualität gegeben sein. Von einer hohen Dunkelziffer geht der Senat danach insoweit nicht aus (a. A. VG Berlin, Urteil vom 21.04.2022 - VG 31 K 137.19 A - juris, auf das Fehlen einer engagierten Zivilgesellschaft abstellend, die Strafverfahren dokumentiert).
57 
Die Annahme, dass es trotz Fortbestehens der Strafvorschriften nicht zu deren Anwendung kommt, fügt sich zudem in eine erkennbare Haltung der gambischen Regierung zur Homosexualität ein.
58 
Erfolgsversprechende Bemühungen, die Kriminalisierung der Homosexualität durch eine Gesetzesänderung zu beenden, hat es seit dem Regierungswechsel 2017 allerdings nicht gegeben. Die National Human Rights Commission, eine 2017 eingerichtete permanente Institution zum Schutz und zur Förderung der Menschenrechte in Gambia, hatte in ihrem Jahresbericht 2019 einen besseren Schutz von unter anderem homosexuellen Menschen gefordert und so eine heftige Debatte in der Gesellschaft angestoßen. Nicht alle Mitglieder trugen diese Entscheidung der National Human Rights Commission mit (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Länderreport 39 - Republik Gambia vom 01.07.2021, S. 34). Imam Baba Leigh, ein Menschenrechtsaktivist und muslimisches Mitglied der Kommission, sah sich unter öffentlichem Druck zu einem Widerruf und einer Entschuldigung veranlasst (The Standard vom 17.06.2020, Lawyer slams Imam Leigh over gay rights remarks, abrufbar unter https://standard.gm/gambia-news/lawyer-slams-imam-leigh-over-gay-rights-remarks/; The Standard vom 18.06.2020, I Will Never Call for Legalisation of LGBT, abrufbar unter https://standard.gm/gambia-news/i-will-never-call-for-legalisation-of-lgbt-imam-leigh/, zuletzt abgerufen am 06.07.2022). Zwar hat der ehemalige gambische Vizepräsident, Außenminister und Parteivorsitzende der Regierungspartei von Präsident Barrow, Ousainou Darboe, öffentlich erklärt, den unter der Vorgängerregierung von Präsident Jammeh eingeführten Straftatbestand der „schweren Homosexualität“ (engl.: „aggravated homosexuality“) abschaffen zu wollen (vgl. Arnold-Bergstraesser-Institut, Antwort auf Anfrage des VG Freiburg vom 06.08.2019, S. 3; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Länderreport 39 - Republik Gambia vom 01.07.2021, S. 34). Die entsprechenden Änderungsvorschläge wurden jedoch nicht angenommen (Schweizerisches Staatssekretariat Migration, Focus Gambie Situation des personnes LGB en Gambie vom 21.05.2021, S. 11). Damit wäre indes auch keine generelle Abwendung von der Bestrafung homosexueller Personen verbunden gewesen, sondern lediglich eine Distanzierung von der homophoben Rhetorik und Politik der Vorgängerregierung Jammeh (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Länderreport 39 - Republik Gambia vom 01.07.2021, S. 33). Unter dem Druck der Öffentlichkeit und in Anbetracht von Vorwürfen, als Gegenleistung für EU-Fördermittel Zugeständnisse mit Blick auf die Rechte von unter anderem homosexuellen Personen gemacht zu haben, positionierte sich die Regierung, indem sie ihre vorher weniger eindeutige Haltung zur Homosexualität - so erklärten Präsident Barrow und Minister Darboe 2017 lediglich, „homosexuality is not an issue in The Gambia“ (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Gambia vom 12.01.2022, S. 9, EUAA (vormals EASO), EASO Country of Origin Report - Focus on The Gambia vom 01.12.2017, S. 70) - klar ablehnend formulierte. Der Regierungssprecher erklärte, unmissverständlich klar machen zu wollen, dass die Regierung niemals eine Abmachung mit internationalen Organisationen getroffen habe, Homosexualität zu entkriminalisieren, und sie dies auch nicht vorhabe. Es sei eindeutig falsch, nahezulegen, die Regierung sei dahingehend „korrumpiert“ worden, habe Kompromisse geschlossen oder Bedingungen akzeptiert, im Gegenzug für EU-Fördermittel Rechte unter anderem für homosexuelle Menschen in das gambische Recht aufzunehmen. Die Regierung werde weiterhin von den Werten und Normen ihres Volkes sowie von den bestehenden Gesetzen geleitet und habe keine Pläne, die Homosexualität zu entkriminalisieren oder auch nur eine Revision vorzunehmen (The Standard vom 24.06.2020, Gov’t Issues Position on Gay Rights, abrufbar unter https://standard.gm/gambia-news/govt-issues-position-on-gay-rights/, zuletzt abgerufen am 06.07.2022). Präsident Barrow bekräftigte diese Haltung, erklärte die Debatte wenige Wochen später allerdings auch für beendet (The Fatu Network vom 18.09.2020, Homosexuality: President Barrow emphasises that Gambia’s partnership with ‘development partners’ is based purely on mutual respect as he barely addresses debate on people of different sexual orientations, abrufbar unter https://www.fatunetwork.net/homosexuality-president-barrow-emphasises-that-gambias-partnership-with-development-partners-is-based-purely-on-mutual-respect-as-he-barely-addresses-debate-on-people-of-different-sexual-orientations/, zuletzt abgerufen am 06.07.2022); Präsident Barrow ist bei den Präsidentschaftswahlen im Dezember 2021 mit 53,2 Prozent im Amt bestätigt worden (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Gambia vom 12.01.2022, S. 4). Unterstützung für diese ablehnende Haltung zeigten 2020 auch öffentliche Diskussionen nach einem Beitrag der EU-Delegation in den sozialen Medien zum Tag gegen Homophobie. Die Ablehnung einer Entkriminalisierung ist parteiübergreifend (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Länderreport 39 - Republik Gambia vom 01.07.2021, S. 34).
59 
Zugleich meint die gambische Regierung jedoch, homosexuelle Personen dadurch ausreichend schützen zu können, dass die Verwirklichung der Tatbestände nicht mehr zu einer Anklage gebracht wird, und nimmt so eine vermeintlich vermittelnde Haltung ein. Bestätigt wird dies durch die Äußerung eines gambischen Delegierten gegenüber dem Human Rights Committee des Büros der Hochkommissarin für Menschenrechte der Vereinten Nationen (OHCHR) vom 06.07.2018, dass das Volk bei der Aufhebung des Gesetzes mitreden müsse; es sei ein delikater Prozess, der sorgfältig von der Regierung gemanagt werden müsse, um Schaden von den betroffenen Personen abzuwenden (vgl. UK Home Office, Country Policy and Information Note - The Gambia: Sexual Orientation and gender identity or expression vom 01.08.2019, Ziffer 5.1.5). Dieselbe Haltung lässt sich schon an der früheren mehrdeutigen Äußerung Präsident Barrows festmachen, Homosexualität sei in Gambia kein Thema (engl.: „not an issue“). Das Statement lässt erkennbar Interpretationen zum Wohlgefallen verschiedener Meinungsführer zu. Zusammenfassend bewertet der Senat die Äußerungen der Regierung trotz einer gewissen Verschärfung in der öffentlichen Kommunikation gegenwärtig als kontinuierlichen Versuch, angesichts wachsender gesellschaftlicher Spannungen den Status quo zu bewahren sowie jede Debatte zu vermeiden und, wenn sie unvermeidlich ist, zu beruhigen. Anderenfalls würde die Regierung je nach Ausgang der Diskussion entweder die Gunst ausländischer Geldgeber oder die wichtiger gesellschaftlicher Gruppen im eigenen Land verlieren. Zu dieser Haltung passt es, die Strafverfolgungsbehörden davon abzuhalten, aktive Strafverfolgung der Homosexualität zu betreiben, um sich nicht des Vorwurfs von Menschenrechtsverletzungen auszusetzen.
60 
(b) Auch eine außergesetzliche Verfolgung durch gambische Sicherheitskräfte ist nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten.
61 
Fälle von Übergriffen gambischer Sicherheitskräfte lassen sich mit Ausnahme eines Falls, in dem Polizeibeamte Bestechungsgelder dafür verlangten, Schutzsuchende nicht wegen Homosexualität zu verfolgen (Schweizerisches Staatssekretariat Migration, Focus Gambie Situation des personnes LGB en Gambie vom 21.05.2021, S. 25), den Erkenntnismitteln nicht entnehmen. Zwar ist auch insoweit denkbar, dass es eine gewisse Zahl an nicht berichteten Vorkommnissen gibt (vgl. auch UK Home Office - The Gambia: Sexual orientation and gender identity or expression vom 01.08.2019, Ziffer 5.3), allerdings lässt eine Bewertung der lückenhaften Erkenntnislage den Schluss auf einen Gleichlauf von nichtstaatlicher Verfolgung (siehe dazu sogleich unten (2) (a)) und polizeilichen Übergriffen ebenso zu wie den, dass die Polizei die Regierungspolitik, homosexuelle Männer nicht strafrechtlich zu verfolgen (siehe dazu oben (a)), als nachgeordnete Stelle befolgt und bei einem Bekanntwerden homosexueller Handlungen deshalb - ungeachtet denkbarer Exzesse einzelner Beamter - im Allgemeinen untätig bleibt. Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit der Verfolgung lässt sich daraus zur Überzeugung des Senats nicht ableiten.
62 
Ansätze für eine weitere diesbezügliche Aufklärung sind nicht erkennbar, da sie die Mitwirkung der gambischen Behörden an der Aufklärung eigener Regelverstöße oder die Identifikation der Opfer von Übergriffen der Sicherheitsbehörden voraussetzen würden. Dass sich homosexuelle Opfer staatlicher Übergriffe der National Human Rights Commission offenbaren, ist wegen der vehementen, auch offiziellen Ablehnung der Homosexualität und der zumindest auf dem Papier nach wie vor bestehenden Strafandrohung nicht anzunehmen. Da weder Nichtregierungsorganisationen vor Ort sind und solche Vorfälle dokumentieren noch eine „homosexuelle Szene“ oder Treffpunkte homosexueller Menschen bekannt sind (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes an Bundesamt vom 27.08.2021, S. 2 f.), sind Ermittlungen vor Ort nicht aussichtsreich.
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(2) Das gesellschaftliche Klima in Gambia hat jedoch nach der Überzeugung des Senats das Ausmaß einer solchen Feindseligkeit gegenüber Männern, für die ihre Homosexualität identitätsprägend ist, angenommen, dass es mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu einer Verfolgungshandlung gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG kommen kann. Dem Kläger drohen bei einer hypothetischen Rückkehr unterschiedliche Maßnahmen privater Akteure (§ 3c Nr. 3 AsylG, (a)); hinzu tritt die staatliche (§ 3c Nr. 1 AsylG) Strafandrohung für homosexuelle Akte, die zwar wegen der nicht beachtlich wahrscheinlichen Umsetzung nicht das Ausmaß einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung erreicht (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG), aber wegen ihrer einschüchternden Wirkung das Menschenrecht des Klägers auf Achtung seines Privatlebens aus Art. 8 EMRK verletzt (b). In der Kumulierung erreichen diese Maßnahmen eine Intensität, die so gravierend ist, dass der Kläger in gleicher Weise wie von einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung in Form einer unverhältnismäßigen und diskriminierenden Bestrafung gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 3 AsylG betroffen ist (c).
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(a) Der Kläger wäre bei einer hypothetischen Rückkehr nach Gambia einer Vielzahl von unterschiedlichen Diskriminierungen seitens nichtstaatlicher Akteure (§ 3c Nr. 3 AsylG) ausgesetzt, die zu einer umfassenden Ausgrenzung und Erniedrigung führen.
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Die Verfolgungsprognose setzt, wird die Verfolgungsgefahr durch ein willensgesteuertes Verhalten ausgelöst, eine differenzierende und wertende Betrachtung voraus. Dabei ist für die Bestimmung der Verfolgungsdichte nicht die Zahl der registrierten Vorkommnisse in Beziehung zu der Gesamtzahl der homosexuellen Personen in Gambia zu setzen, was eine geringe Verfolgungsdichte zur Folge hätte, sondern es ist auf die Gruppe der ihre Homosexualität in gleicher Weise wie der Kläger auslebenden Personen abzustellen (vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 a. a. O. Rn. 41; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 12.06.2013 - A 11 S 757/13 - juris Rn. 52 zu religiöser Betätigung; a. A. noch VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 26.10.2016 - A 9 S 908/13 - juris Rn. 50, auf die Zahl der tatsächlich beobachteten Referenzfälle, bezogen auf die geschätzte Zahl von Personen, die das Verfolgungsmerkmal erfüllen, abstellend).
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In Gambia leben laut World Factbook der CIA 2.413.403 Menschen (Stand 2022), von denen 1.009.773 Männer und 1.026.352 Frauen in einem Alter von 15 bis 54 Jahren sind (Central Intelligence Agency, The World Factbook - Gambia, abrufbar unter https://www.cia.gov/the-world-factbook/countries/gambia-the/, zuletzt abgerufen am 06.07.2022). Nimmt man an, dass 1 bis 2 Prozent der Frauen und 4 bis 5 Prozent der Männer überwiegend oder ausschließlich homosexuell sind (vgl. dazu schon VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 26.10.2016 a. a. O. Rn. 50 m. w. N.), ergibt dies, dass etwa 40.000 bis 50.000 Männer und 10.000 bis 20.000 Frauen in Gambia überwiegend oder ausschließlich homosexuell sind.
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Rein empirisch betrachtet wäre das Verfolgungsrisiko danach als gering einzustufen, denn den Erkenntnismitteln lassen sich kaum Vorkommnisse entnehmen, bei denen homosexuelle Menschen Opfer von Verfolgungshandlungen nichtstaatlicher Akteure geworden sind. So ist nur ein Vorfall am 27.02.2019 bekannt geworden, bei dem eine „wie ein Mann aussehende, aber wie eine Frau gekleidete und auftretende Frau“ auf einem Markt in Serrekunda bedrängt und nur durch das Eingreifen der Polizei vor gewalttätigen Angriffen geschützt werden konnte. Die Umherstehenden seien fälschlicherweise davon ausgegangen, dass es sich um einen homosexuellen Mann handeln könne (The Fatu Network vom 27.02.2019, Homosexuality: Police Save Weird-Looking Woman from Large Crowd in Serrekunda, abrufbar unter https://www.fatunetwork.net/homosexuality-police-save-weird-looking-woman-from-large-crowd-in-serrekunda/, zuletzt abgerufen am 06.07.2022). Ob es anschließend zu einer Strafverfolgung kam, ist nicht bekannt. Im Januar 2019 enthüllte ein Radiomoderator die Adressen von Wohnungen, in denen LGBTI-Personen Zuflucht gefunden hätten, und rief die Hörer auf, sie anzugreifen. Der Aufruf wurde befolgt (Schweizerisches Staatssekretariat Migration, Focus Gambie Situation des personnes LGB en Gambie vom 21.05.2021, S. 25), allerdings ist nicht bekannt, mit welchen Folgen für die betroffenen Personen der Angriff einherging.
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Bei der Bewertung ist allerdings weiter zu berücksichtigen, wie viele homosexuelle Menschen in Gambia aus Furcht vor Verfolgung darauf verzichten, ihre sexuelle Orientierung in öffentlich sichtbarer Weise auszuleben und was die Gründe dafür sind. In diesem Zusammenhang fällt auf, dass kein Fall verzeichnet ist, in dem sich ein prominenter Gambier öffentlich zu seiner Homosexualität bekannt hätte, und den Erkenntnismittel liefernden Stellen auch keine „homosexuelle Szene“ oder zumindest ein einschlägiger Treffpunkt in Gambia bekannt ist (Auswärtiges Amt, Auskunft an Bundesamt vom 27.08.2021, S. 3; UK Home Office - The Gambia: Sexual orientation and gender identity or expression vom 01.08.2019, Ziffer 6.2). Angesichts einer anzunehmenden fünfstelligen Zahl homosexueller Männer in Gambia lassen diese Erkenntnisse sowie die völlige Abwesenheit einer öffentlichen Erkennbarkeit homosexueller Männer in Gambia nur den Schluss zu, dass Männer in Gambia, die dieser Gruppe angehören, nicht offen mit ihrer Homosexualität umgehen.
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Nicht mit letzter Gewissheit lässt sich tatsächlich aufklären, warum dies so ist. Der Schluss, dass homosexuelle Männer ihre sexuelle Identität aus Angst verbergen, ist nicht zwingend; es könnte beispielsweise auch auf eine im Herkunftsland vorherrschende Einstellung zurückzuführen sein, dass Sexualität allgemein nicht öffentlich ausgelebt wird und für homosexuelle Männer insoweit nichts Anderes gilt als für Männer mit heterosexueller Identität. Die dem Senat zur Verfügung stehenden Erkenntnisse zu den allgemeinen Einstellungen der gambischen Bevölkerung zu homosexuellen Männern sprechen jedoch sämtlich dafür, dass homosexuelle Männer in Gambia eine Sonderstellung einnehmen und ihre Homosexualität aus Angst davor verbergen, Opfer von Anfeindungen und Gewalt zu werden.
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Homosexualität ist in der breiten Öffentlichkeit in Gambia verpönt. Laut einer Afrobarometer-Umfrage geben 97 Prozent der Gambier an, Homosexualität kategorisch abzulehnen (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Länderreport 39 - Republik Gambia vom 01.07.2021, S. 34). Homosexuelle Menschen werden gesellschaftlich diskriminiert (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Gambia vom 12.01.2022 S. 9; US Department of State, The Gambia 2020 Human Rights Report vom 30.03.2021, S. 14; ILGA, State-Sponsored Homophobia vom 01.03.2019, S. 326; UK Home Office, The Gambia: Sexual orientation and gender identity or expression vom 01.08.2019, Ziffer 6.1) und laufen aufgrund der stark ablehnenden Haltung der Gesellschaft Gefahr, Opfer von Anfeindungen und Gewalt zu werden (Österreichisches Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt Gambia vom 24.06.2020, S. 21).
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Die Einstellung der Gambier zu Homosexualität hat sich in jüngerer Zeit von einer zurückhaltenden, aber teilweise tolerierenden Haltung hin zu einer Verachtung homosexueller Männer verändert. In der Vergangenheit war in Gambia das Phänomen der „góor-jigéen“ (Wolof: „Mann-Frau“ oder „verweichlichte Männer“), wie z. B. in Frauenkleidern auftretende Männer, bis etwa in die 1990er Jahre weitgehend akzeptiert. Allmählich begann die gambische Gesellschaft, das Phänomen der „góor-jigéen“ mit dem sexuellen Akt (homosexuell) in Verbindung zu bringen und abzulehnen. Heute ist dieser Begriff verächtlich gemeint und bezieht sich auf homosexuelle oder verweichlichte Männer (Schweizerisches Staatssekretariat Migration, Focus Gambie Situation des personnes LGB en Gambie vom 21.05.2021, S. 20). Die Veränderung fällt zeitlich zusammen mit einem zunehmenden Sextourismus (Schweizerisches Staatssekretariat Migration, Focus Gambie Situation des personnes LGB en Gambie vom 21.05.2021, S. 18) und später der Instrumentalisierung von vorhandenen Einstellungen in der Bevölkerung durch den früheren Präsidenten Yahya Jammeh, der sich darauf berief, „die traditionellen und religiösen gambischen Werte zu schützen“ (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Gambia: Situation der LGBTI vom 28.07.2015, S. 4, 8).
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Der Regierungswechsel hat den Schwerpunkt der Ächtung homosexueller Menschen vom Staat in die Gesellschaft verlagert, ohne dass eine Verbesserung der Situation spürbar wäre. In jüngerer Zeit haben religiöse Führer, die große Glaubwürdigkeit in der Bevölkerung genießen und auf Gemeinden und Schulen beträchtlichen Einfluss ausüben, sich verstärkt gegen Homosexualität ausgesprochen. Von da ab wandten sich auch die Gemeindevorsteher entschieden gegen homosexuelle Personen (Schweizerisches Staatssekretariat Migration, Focus Gambie Situation des personnes LGB en Gambie vom 21.05.2021, S. 20 f.). Homosexualität gilt sowohl unter Muslimen als auch unter Christen als Sünde (Schweizerisches Staatssekretariat Migration, Focus Gambie Situation des personnes LGB en Gambie vom 21.05.2021, S. 17). Viele Gambier glauben, dass Homosexualität in ihrem Land eigentlich nicht existiere, während andere meinen, dass sie importiert werde. Tatsächlich wird Homosexualität oft als eine nicht-afrikanische oder sogar nicht-gambische Praxis wahrgenommen, die aus dem Westen oder Europa eingeführt werde. Es gibt einen Mythos, dass alle homosexuellen Menschen in Gambia Migranten seien. Darüber hinaus wird die Förderung der Rechte von homosexuellen Menschen als Priorität des Westens angesehen, die er in Afrika durchzusetzen versuche (Schweizerisches Staatssekretariat Migration, Focus Gambie Situation des personnes LGB en Gambie vom 21.05.2021, S. 18). Die Medien wirken als Verstärker für homophobe Botschaften (Schweizerisches Staatssekretariat Migration, Focus Gambie Situation des personnes LGB en Gambie vom 21.05.2021, S. 21). Die gambische Presse verbreitet regelmäßig Positionen, in denen erklärt wird, dass Gambia als religiöses und gläubiges Land homosexuelle Beziehungen oder Vereinigungen nicht akzeptieren könne, da sie gegen lokale kulturelle und religiöse Werte verstießen (Schweizerisches Staatssekretariat Migration, Focus Gambie Situation des personnes LGB en Gambie vom 21.05.2021, S. 17).
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Die Ablehnung führt im Regelfall zu Diskriminierung mit erniedrigenden Folgen für die Betroffenen. Der vor dem United Kingdom Upper Tribunal (Immigration and Asylum Chamber) angehörte Sachverständige Dr. Ebrima Ceesay erklärte, das „Homophobie, Stigmatisierung und Diskriminierung von Homosexuellen üblich sind im sogenannten neuen Gambia“ und dass muslimische und christliche Gelehrte Homosexualität für mit den Lehren des Korans und der Bibel unverträglich erklärt hätten. Homosexualität sei immer noch geächtet in der gambischen Gesellschaft, weswegen Schwule und Lesben sich im Verborgenen bewegen müssten. Wenn Angehörige sexueller Minderheiten entdeckt würden, würden sie häufig öffentlich gedemütigt und belästigt, weil religiöse Führer es geschafft hätten, Homosexualität als „abnormal“, „unnatürlich“ und aus dem Ausland auferlegt zu verankern (UK Upper Tribunal, Immigration and Asylum Chamber, Entscheidung vom 03.12.2018 - Nr. PA/06693/2017 - H.C. v. Secretary of State for the Home Department - abrufbar unter https://tribunalsdecisions.service.gov.uk/utiac/pa-06693-2017, zuletzt abgerufen am 06.07.2022). Personen, die bekanntermaßen homosexuell sind, wird in der Regel das Mietverhältnis gekündigt. Krankenhäuser verweigern laut einem Gesprächspartner des Schweizerischen Staatssekretariats Migration die Behandlung, wenn die sexuelle Orientierung des Patienten bekannt wird (Schweizerisches Staatssekretariat Migration, Focus Gambie Situation des personnes LGB en Gambie vom 21.05.2021, S. 24).
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Das Bekanntwerden der eigenen Homosexualität kann auch zu Gewalt gegen homosexuelle Männer führen. Dem Schweizerischen Staatssekretariat Migration wurde von einem Fall berichtet, in dem ein junger Mann erstochen wurde, nachdem seine Familie von seiner Homosexualität erfahren hatte (Schweizerisches Staatssekretariat Migration, Focus Gambie Situation des personnes LGB en Gambie vom 21.05.2021, S. 19). In dem vorgenannten Verfahren vor dem UK Upper Tribunal war die Homosexualität des dortigen Klägers bekannt geworden. Der Sachverständige Dr. Ceesay nahm davon ausgehend an, dass dem Kläger bei einer Rückkehr öffentliche Demütigung und Selbstjustiz (engl.: „mob justice“) drohten (UK Upper Tribunal, Immigration and Asylum Chamber, Entscheidung vom 03.12.2018 a. a. O.). Ähnlich äußerte sich der kanadische Jurist, Schriftsteller und Gastprofessor in Gambia 2010 und 2011, Josh Scheinert, der in einem Zeitungsartikel (Mail & Guardian vom 15.03.2019, No Truth for Gambia’s queer people, abrufbar unter https://mg.co.za/article/2019-03-15-00-no-truth-for-gambias-queer-people/, zuletzt abgerufen am 06.07.2022) darlegt, dass anders als in anderen afrikanischen Ländern wie Uganda und Nigeria, wo LGBT-Gemeinden existierten und sich trotz weitverbreiteter Diskriminierung füreinander einsetzten, es keine derartige Zivilgesellschaft in Gambia gebe, weil es zu gefährlich sei. Scheinert zitiert Madi Jobarteh, den Vertreter der Westminister Foundation for Democracy mit den Worten: „[Sich für die LGBT-Gemeinde] auszusprechen, wäre eine bedeutsame Entscheidung, bedenkt man die kulturellen Einstellungen und die Wahrnehmung und das Verständnis von LGBT-Themen“. Sollte es herauskommen, dass ein Aktivist oder eine gambische LGBT-Person einen Konflikt vor die National Human Rights Commission zu bringen beabsichtige, wäre Jobarteh um die Sicherheit dieser Person besorgt. Auch ein Vertreter der Kommission selbst habe erklärt, dass eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür bestehe, dass sich Opfer nicht offenbaren würden. Wie gefährlich es ist, sich für die Rechte homosexueller Personen einzusetzen, belegt eine Äußerung eines Vertreters der Europäischen Union in Gambia: Ein Beitrag der Europäischen Union in den sozialen Medien zur Lage der LGBTQI-Gemeinschaft in Gambia am internationalen Tag gegen Homo-, Bi-, Inter- und Transphobie im Jahr 2020 entfachte eine öffentliche Debatte darüber, ob eine Entkriminalisierung der Homosexualität sowie das Recht auf gleichgeschlechtliche Eheschließung in Gambia eingeführt werden sollte. Der EU-Botschafter in Gambia wurde für den Beitrag heftig kritisiert (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Länderreport 39 - Republik Gambia vom 01.07.2021, S. 34). Gegenüber Vertretern des Arnold-Bergstraesser-Instituts gab der EU-Botschafter an, es sei in Gambia schlichtweg zu riskant, der EU-Empfehlung folgend am Internationalen LGBTQ*-Tag die Regenbogenflagge zu hissen (Arnold-Bergstraesser-Institut, Auskunft an VG Freiburg vom 06.08.2019, S. 5).
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Der Senat verkennt nicht, dass die Zahl der konkret dokumentierten Vorfälle nach wie vor gering ist und nur wenig Einzelheiten bekannt sind, sieht aber auch keine Möglichkeit, zur Vorbereitung seiner wertenden Betrachtung zu der Frage, warum homosexuelle Männer ihre Homosexualität in Gambia nicht offen ausleben, weiter und erfolgversprechend Beweis zu erheben, um seine Annahme, dass dies aus Angst vor Verfolgung unterbleibt, zu bestätigen oder zu widerlegen. Es fehlt an Ermittlungsansätzen und Stellen vor Ort, die mit einer Ermittlung betraut werden könnten. Zivilgesellschaftliche Organisationen vermeiden das Thema aus Angst, für solchen Aktivismus verfolgt zu werden. Abweichend von der Lage in den Nachbarländern gibt es derzeit in Gambia keine Unterstützung und Aktivismus für homosexuelle Menschen (Arnold-Bergstraesser-Institut, Auskunft an VG Freiburg vom 06.08.2019, S. 5; Auswärtiges Amt, Auskunft an Bundesamt vom 27.08.2021, S. 2; Josh Scheinert, in: Mail & Guardian vom 15.03.2019, No Truth for Gambia’s queer people, abrufbar unter https://mg.co.za/article/2019-03-15-00-no-truth-for-gambias-queer-people/, zuletzt abgerufen am 06.07.2022). Jede Erhebung anderer denkbarer Stellen, insbesondere des Auswärtigen Amts, zu Erfahrungen betroffener Personen muss auch daran scheitern, dass die zu Befragenden mangels bekannter, auch inoffizieller Treffpunkte schon gar nicht aufgefunden werden können (vgl. zuletzt Auswärtiges Amt, Auskunft an Bundesamt vom 27.08.2021, S. 2), geschweige denn es zu erwarten wäre, dass sie sich in Anbetracht der Strafandrohung und der gesellschaftlichen Konsequenzen offen zu ihrer Homosexualität äußern werden (vgl. zum diesbezüglichen Unterschied zu anderen Herkunftsländern, in denen Homosexualität stellenweise geduldet wird z. B. OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 04.03.2020 - 16 A 809/16.A - juris Rn. 88 ff. zu Bangladesh; OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 08.07.2020 - juris Rn. 54 zu Pakistan; seinerzeit kein Unterschied zur Informationslage bezüglich Nigeria, vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 07.03.2013 - A 9 S 1873/12 - juris Rn. 110, 121).
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Dass Nichtregierungsorganisationen, welche die Unterstützung homosexueller Personen zu ihrem Ziel erhoben haben, in Gambia anders als in anderen Ländern nicht vertreten sind und Vorfälle so nicht dokumentiert werden, erschwert nicht nur die Sachverhaltsaufklärung, sondern legt in Anbetracht der gesellschaftlichen Einstellungen auch nahe, dass es eine hohe Dunkelziffer von Vorfällen gibt. Es liegt kein Widerspruch darin, bezüglich der Übergriffe staatlicher Stellen von einem vollständigen Bild ohne Dunkelziffer solcher Vorfälle auszugehen, eine erhebliche Dunkelziffer aber für nichtstaatliche Übergriffe zu bejahen. Anders als bei der offiziellen Strafverfolgungstätigkeit dürfte bei Maßnahmen der Selbstjustiz gegen homosexuelle Menschen ein breiter Konsens der Täter und der deren homophoben Haltung stützenden Umgebungsbevölkerung bestehen, solche Vorfälle nicht bekannt werden zu lassen, um sich einer Strafverfolgung zu entziehen. Gleiches gilt für innerfamiliäre Straftaten gegen homosexuelle Familienangehörige, wobei diesbezüglich noch die in Gambia vorherrschende Furcht vor einer „familiären Schande“ durch das homosexuelle Familienmitglied die Bemühungen, entsprechende Taten zu verdecken, verstärken dürfte. Dass auch gambische Medien nicht ohne Weiteres investigativ tätig werden, um Taten gegen Homosexuelle aufzudecken und anzuprangern, also gleichsam zum Schutz dieser Bevölkerungsgruppe tätig werden, liegt in Anbetracht der verbreiteten Homophobie - anders als bei der Berichterstattung über Strafverfahren gegen homosexuelle Menschen - nahe. Vielmehr wirken die Medien - wie bereits ausgeführt - als Verstärker für homophobe Tendenzen und nicht als unabhängige Berichterstatter von Missständen in der gambischen Gesellschaft. Allgemein räumen sogar die gambischen Behörden (allerdings) mit Blick auf häusliche, sexuelle und kinderspezifische Gewalt ein, dass Opfer aus Angst vor Diskriminierung, familiärem Druck, sozialem Stigma und Furcht vor Vergeltungsmaßnahmen von Anzeigen absehen und eine hohe Dunkelziffer besteht. Diesbezüglich ermutigen die Behörden indes die Opfer, ihr Schweigen zu brechen (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Länderreport 39 - Republik Gambia vom 01.07.2021, S. 27 f.), während homosexuelle Personen keine Möglichkeit haben, sich hilfesuchend an Behörden zu wenden (siehe dazu sogleich unten c) aa)). Dass sich trotzdem nicht einmal Opfer häuslicher, sexueller und kinderspezifischer Gewalt den Behörden offenbaren und staatliche Stellen wegen der Abwesenheit anderer Institutionen einzig dazu berufen wären, über das Ausmaß von Gewalt Auskunft zu geben, ist für den Senat ein weiteres Indiz dafür, dass die wenigen bekannten Vorfälle von Übergriffen das wahre Ausmaß von Gewalt gegen homosexuelle Männer nicht repräsentativ abbilden. Das fehlende Interesse von Regierung und Gesellschaft an einer Aufklärung und Verbesserung der Situation homosexueller Menschen wird in Gambia nicht - wie andernorts, wo dementsprechend mehr Fälle dokumentiert werden (vgl. z. B. für Pakistan OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 08.07.2020 a. a. O. Rn. 51; zu Nigeria VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 07.03.2013 - A 9 S 1873/12 - a. a. O. Rn. 79; zu Kamerun VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 07.03.2013 - A 9 S 1872/12 - a. a. O. Rn. 60 ff.; zu Bangladesch OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 04.03.2020 a. a. O. juris Rn. 85 ff.) - durch Nichtregierungsorganisationen aufgefangen (so auch Schweizerisches Staatssekretariat Migration, Focus Gambie Situation des personnes LGB en Gambie vom 21.05.2021, S. 25).
77 
(b) Zu den genannten unterschiedlichen diskriminierenden Maßnahmen und gewalttätigen Übergriffen, die zusammengenommen beachtlich wahrscheinlich sind, kommt die fortbestehende Strafandrohung des gambischen Staates (§ 3c Nr. 1 AsylG) hinzu. Es liegt kein Widerspruch darin, dass die Strafandrohung nicht als Verfolgungshandlung gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG angesehen werden konnte (vgl. oben (1) (a)), im Sinne von § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG jedoch beachtlich ist. Das strafrechtliche Verbot eines Verhaltens, das zwar durch ein Menschenrecht nach der Europäischen Menschenrechtskonvention geschützt ist, von dem allerdings gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK abgewichen werden kann, ist für sich genommen keine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung, wenn die Strafvorschriften nicht praktisch angewandt werden (vgl. EuGH, Urteil vom 07.11.2013 a. a. O. Rn. 54 ff.). Ungeachtet dessen ist aber das unterschiedslose und ungerechtfertigte Verbot homosexueller Geschlechtsakte und der Homosexualität als solcher eine Verletzung des Menschenrechts auf Achtung des Privatlebens (Art. 8 EMRK bzw. Art. 7 EUGrCh; vgl. auch EGMR, Urteil vom 22.10.1981 a. a. O.). Solche Maßnahmen unterhalb der Schwelle einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung sind gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG in die kumulierende Betrachtung einzubeziehen (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 a. a. O. Rn. 56).
78 
Mit der Androhung einer Freiheitsstrafe von fünf bzw. sieben oder vierzehn Jahren für homosexuelle Handlungen geht eine erhebliche einschüchternde Wirkung auch dann einher, wenn die betreffenden Straftatbestände nicht zur Anwendung kommen (vgl. insoweit auch VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 12.06.2013 a. a. O. Rn. 55 f.). Da die Strafvorschriften nicht formal aufgehoben worden sind, kann sich die Vollzugspraxis jederzeit und ohne vorherige Ankündigung ändern. Ein homosexueller Mensch wird das Risiko, seine sexuelle Identität auszuleben, deshalb zwar mit den damit verbundenen Ängsten unter Umständen faktisch eher eingehen als bei beachtlich wahrscheinlicher Verurteilung. Bei realistischer Betrachtung wird ein besonnener Mensch jedoch in seine Überlegungen, mit welcher Wahrscheinlichkeit ihm Verfolgung droht, nicht nur die gegenwärtig unwahrscheinliche, aber nicht völlig auszuschließende Strafverfolgung als einen Risikofaktor einbeziehen, sondern auch die sehr viel wahrscheinlichere Aufdeckung seiner Homosexualität durch gesellschaftliche Akteure und die damit verbundene Diskriminierung.
79 
(c) Die Kumulierung dieser einzelnen, unterschiedlichen Maßnahmen ist in ihrer Wirkung so gravierend, dass sie in der Gesamtschau einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung wie dem aufgrund einer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohenden Freiheitsstrafe erzwungenen Verzicht auf das Ausleben der homosexuellen Identität gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 2 i. V. m. Nr. 1 AsylG gleichkommt (vgl. auch VG Karlsruhe, Urteil vom 12.05.2021 - A 10 K 561/19 - juris Rn. 51; VG Freiburg, Urteil vom 09.12.2020 - A 15 K 4788/17 - juris Rn. 47 ff.).
80 
Homosexuellen Männern wird die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben in Gambia verwehrt. Sie werden aber nicht nur missachtet oder abgelehnt, was für die Annahme einer Verfolgungshandlung nicht hinreichend wäre. Die Erfahrung sozialen Anpassungsdrucks, wie sie bestimmte andere soziale Gruppen wie auch Personen mit bestimmten individuellen Eigenschaften in nahezu allen Gesellschaften der Welt erleben, ist sorgfältig zu unterscheiden von flüchtlingsrechtlich relevanter Verfolgung, denn es ist nicht das Ziel der Genfer Flüchtlingskonvention und der Richtlinie 2011/95/EU, bestimmte soziale Gruppen gegen Diskriminierungen so zu schützen, wie es der Grundrechtsstandard am Zufluchtsort geböte. Sozialer Anpassungsdruck kann deshalb auch die gesellschaftliche Ablehnung von Homosexualität, wie sie in vielen Ländern verbreitet ist, einschließen, ohne dass damit ein Schutzanspruch für die betroffenen Personen begründet würde. Nicht überall, wo die Gesellschaft mehrheitlich Homosexualität ablehnt, nimmt diese Ablehnung das Ausmaß einer gesellschaftlichen Verfolgung homosexueller Männer an. In Gambia geht die Einstellung der Mehrheitsgesellschaft gegenüber homosexuellen Männern jedoch über eine bloße Ablehnung oder auch Missachtung weit hinaus. Aus den genannten Gründen ist zunächst beachtlich wahrscheinlich, dass homosexuelle Männer, die ihre sexuelle Identität ausleben, mit weitreichenden Folgen für ihre persönliche und wirtschaftliche Existenz ausgegrenzt und geächtet werden und damit nur am Rand der Gesellschaft leben können, wo sie stets Gefahr laufen, gewalttätige Übergriffe zu erleiden. Dies allein dürfte schon viele homosexuelle Männer dazu veranlassen, ihre homosexuelle Identität zu unterdrücken.
81 
Der Verfolgungseingriff ist auch unter dem Gesichtspunkt der erzwungenen Freiheitsbeschränkung von hoher Intensität. Der staatliche und der - hohe - gesellschaftliche Verfolgungsdruck zwingt homosexuelle Männer in Gambia zu einem dauerhaften und vollständigen Verzicht auf das Ausleben ihrer sexuellen Identität. Vom Kläger kann wegen der Bedeutsamkeit der sexuellen Identität für seine Persönlichkeit nicht verlangt werden, seine Homosexualität zu verbergen (vgl. unten (d)). Zur qualitativen Bewertung der Eingriffsintensität und deren Vergleichbarkeit mit dem durch eine praktisch auch umgesetzte Strafandrohung erzwungenen Verzicht, die homosexuelle Identität auszuleben, ist indes festzuhalten, dass Homosexualität in Gambia weder offen noch im Verborgenen ausgelebt werden kann. Das „Verbergen“ der eigenen sexuellen Identität erfasst ein breites Spektrum von Verhaltensweisen von einem diskreten Ausleben der eigenen sexuellen Identität nur an bestimmten, allgemein bekannten, aber stillschweigend akzeptierten Orten und mit Schutzvorkehrungen bis hin zu einem völligen Verzicht auf jede Form des Sexuallebens durch das Verschweigen oder gar dem Eingehen einer heterosexuellen Beziehung zum Verschleiern der eigenen Homosexualität. In Gambia besteht, abseits womöglich von homosexuellen Dienstleistungen innerhalb des Sextourismus, über deren flüchtlingsrechtliche Relevanz für die sexuelle Identität des Einzelnen in diesem Verfahren nicht zu entscheiden ist, keine Möglichkeit, eine homosexuelle Identität gefahrlos auszuleben. Der erzwungene vollständige Verzicht ist nicht zuletzt ein dauerhafter Zustand.
82 
Selbst wenn man der Auffassung sein wollte, dass der auf die dargestellte Art und Weise erzwungene Verzicht auf jedes öffentliche Ausleben der homosexuellen Identität eines Mannes allein noch nicht die Qualität eines relevanten Verfolgungseingriffs hat, so ergibt sich ein solcher jedenfalls aus einer wertenden Zusammenschau der vorgenannten nichtstaatlichen - auch gewalttätigen - Übergriffe und diskriminierenden Maßnahmen, die jeweils für sich betrachtet noch keine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit im konkreten Einzelfall begründen beziehungsweise nicht die erforderliche Schwere aufweisen mögen, mit der einschüchternden Wirkung des strafbewehrten Verbots der Homosexualität als (staatliche) Menschenrechtsverletzung.
83 
(d) Der Kläger wäre bei hypothetischer Rückkehr diesen erniedrigenden Lebensbedingungen ausgesetzt, da seine Homosexualität identitätsprägender Teil seiner Persönlichkeit ist. Für die Rückkehrprognose ist daher hypothetisch zu unterstellen, dass der Kläger seine Homosexualität bei einer Rückkehr nach Gambia offen ausleben würde.
84 
Dass der Kläger die Verfolgung durch ein heimliches Ausleben seiner Homosexualität, durch Zurückhaltung oder gar Verzicht auf ein Sexualleben vermeiden könnte, ist unerheblich. Der Wortlaut der Richtlinie 2011/95/EU differenziert nicht zwischen heimlichen und nicht verheimlichten Verhaltensweisen. Maßgebend ist allein das identitätsprägende Merkmal als solches. Die betreffende Verhaltensweise muss für die Identität des Betroffenen bedeutend und besonders wichtig sein. Bei einer anderen Auslegung würden die Ziele, die mit der Richtlinie 2011/95/EU sowie der Genfer Flüchtlingskonvention erreicht werden sollen, von vornherein in Frage gestellt. Eine Verfolgung bleibt nämlich auch dann eine Verfolgung, wenn der Betroffene nach Rückkehr in sein Herkunftsland die Möglichkeit hat, sich bei der Ausübung seiner Rechte und Freiheiten diskret zu verhalten, indem er seine Sexualität und seine politischen Ansichten sowie seine Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft verheimlicht oder davon Abstand nimmt, nach seiner sexuellen Ausrichtung zu leben. Zu prüfen ist daher, wie sich der Schutzsuchende bei seiner Rückkehr im Hinblick auf seine sexuelle Ausrichtung verhalten wird und wie wichtig diese Verhaltensweise für seine Identität ist (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 07.03.2013 - A 9 S 1872/12 - a. a. O. Rn. 48 f.; vgl. EuGH, Urteil vom 07.11.2013 a. a. O. Rn. 70 ff.; BVerfG, Beschluss vom 22.01.2020 a. a. O. Rn. 19). Nicht jeder Mann, dessen sexuelle Identität einen homosexuellen Aspekt aufweist, ist damit unterschiedslos mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit als von Verfolgung bedroht anzusehen, sondern - in Abwesenheit einer Vorverfolgung - nur derjenige Betroffene, dessen Homosexualität so bedeutsam für seine Identität ist, dass er nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten (vgl. § 3b Abs. 1 Nr. 4 Buchst. a AsylG). Daher bedarf es in jedem Einzelfall, in dem ein Asylbewerber aus Gambia geltend macht, er werde wegen seiner sexuellen Ausrichtung verfolgt, einer Gesamtwürdigung seiner Person und seines gesellschaftlichen Lebens und darauf aufbauend einer individuellen Gefahrenprognose (vgl. insoweit auch VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 07.03.2013 - A 9 S 1873/12 - a. a. O. Rn. 120). Von einer begründeten Furcht vor Verfolgung wäre beispielsweise nicht auszugehen, wenn der Asylbewerber aus anderen Gründen als der Furcht vor Verfolgung seine Homosexualität bei einer Rückkehr nach Gambia nicht offen ausleben würde, sie also nicht im oben genannten Sinne identitätsprägend wäre (vgl. insoweit VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 26.10.2016 a. a. O. Rn. 51).
85 
Zur Überzeugung des Senats steht fest, dass es ein bedeutsamer Bestandteil der sexuellen Identität des Klägers ist, seine Homosexualität offen auszuleben. Er hat dies in der Berufungsverhandlung gegenüber dem Senat nicht nur durch seine - überzeugende - Beschreibung der Bedeutung, die seine Sexualität für ihn hat, zum Ausdruck gebracht, sondern auch eindringlich seine in Gambia vor der Ausreise bestehende und allgegenwärtige Furcht davor geschildert, dass der Verdacht seines Umfelds bezüglich seiner sexuellen Identität durch Aufdeckung seiner heimlichen Aktivitäten zu einer potentiell „tödlichen“ Gewissheit werden könnte.
86 
c) Der Kläger kann zur Überzeugung des Senats gegen eine solche Verfolgung weder staatlichen Schutz gemäß § 3d AsylG in Anspruch nehmen (aa), noch sich der Verfolgung durch Niederlassung in einem anderen Landesteil entziehen, in dem er vor Verfolgung gemäß § 3e AsylG sicher ist (bb).
87 
aa) Verfolgung kann gemäß § 3c Nr. 3 AsylG von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, wenn weder der Staat noch Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, willens und in der Lage sind, Schutz zu bieten. Nach § 3d Abs. 2 Satz 1 AsylG muss dieser Schutz vor Verfolgung wirksam und nicht nur vorübergehender Art sein. Generell ist ein solcher Schutz gemäß § 3d Abs. 2 Satz 2 AsylG gewährleistet, wenn die genannten Akteure geeignete Schritte einleiten, um die Verfolgung zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung darstellen, und wenn der Ausländer Zugang zu diesem Schutz hat. Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt.
88 
Schon das strafrechtliche Verbot homosexueller Akte spricht stark für die Vermutung, dass der gambische Staat nicht willens ist, von Diskriminierung, Bedrohung oder Gewalt betroffene homosexuelle Menschen wirksam zu schützen. Vor allem aber lässt die gegenwärtige Haltung der Regierung erkennen, dass sie nicht bereit ist, sich dem wachsenden Druck der religiösen Führer, der Medien und der Bevölkerung entgegenzustellen und zum Schutz homosexueller Menschen tätig zu werden, indem Polizeibehörden entsprechend instruiert werden. Dass die Polizei von sich aus nicht nur in Einzelfällen, sondern generell zum Schutz von homosexuellen Personen gegen Übergriffe aus der Bevölkerung einschreitet, ist deshalb nicht zu erwarten.
89 
Auch die zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel sprechen gegen eine polizeiliche Schutzgewähr für homosexuelle Männer. Allgemein vertrauen die Gambier der Polizei nicht. Sie sind der Ansicht, dass dort die korruptesten Beamten beschäftigt sind (Schweizerisches Staatssekretariat Migration, Focus Gambie Situation des personnes LGB en Gambie vom 21.05.2021, S. 13). Dies gilt in besonderem Maß für die hier in den Blick genommenen homosexuellen Männer. Normalerweise gehen von Übergriffen betroffene homosexuelle Männer nicht zur Polizei, weil sie die berechtigte Angst haben, von der Polizei diskriminiert oder verachtet zu werden, anstatt Hilfe zu bekommen (Sanna Camara, Gefangen in Freiheit: Das Schicksal von LGBTQ in Gambia, in: Flüchtlingsrat Baden-Württemberg e. V., Ist Gambia sicher? vom 01.01.2019, S. 34 f.). Ein Wissenschaftler der Harvard University berichtete dem Schweizerischen Staatssekretariat Migration von einem Vorfall, bei dem Menschen wegen ihrer sexuellen Orientierung von einer Gruppe von Nachbarn angegriffen wurden und sich in eine Polizeiwache flüchteten; dort seien sie gezwungen worden, Beamte zu bestechen, um einer Verhaftung zu entgehen (Schweizerisches Staatssekretariat Migration, Focus Gambie Situation des personnes LGB en Gambie vom 21.05.2021, S. 13).
90 
Auch von anderen staatlichen Stellen ist ein wirksamer Schutz nicht zu erlangen. Homosexuelle Personen können sich zwar grundsätzlich an die National Human Rights Commission wenden. Das Schweizerische Staatssekretariat Migration weist insoweit zutreffend darauf hin, dass die Kommission die Regierung im Juni 2020 aufforderte, die Menschenrechte von unter anderem homosexuellen Personen in Gambia besser zu schützen (vgl. Schweizerisches Staatssekretariat Migration, Focus Gambie Situation des personnes LGB en Gambie vom 21.05.2021, S. 14). Allerdings darf in diesem Zusammenhang nicht unberücksichtigt bleiben, dass die Forderungen eine heftige Diskussion in der gambischen Bevölkerung ausgelöst haben, die ein Mitglied der Kommission veranlasst hat, sich von den Forderungen der Kommission sogleich wieder zu distanzieren, und die gambische Regierung sich genötigt sah, eindeutig gegen eine Entkriminalisierung homosexueller Handlungen Position zu beziehen, was sie vorher vermieden hatte. Die staatliche National Human Rights Commission kann dessen ungeachtet homosexuellen Menschen, die Opfer von Verfolgung geworden oder davon bedroht sind, ohne Unterstützung anderer staatlicher Stellen auch deshalb keinen wirksamen Schutz bieten, weil sie nicht über Befugnisse verfügt, die es ihr erlauben würden, in Anbetracht der entgegenstehenden Gesetzeslage auf andere Behörden einzuwirken (vgl. zu den Befugnissen der Kommission https://www.gm-nhrc.org/about-nhrc, „Powers of the Commission“, zuletzt abgerufen am 06.07.2022).
91 
bb) Der Kläger kann nicht darauf verwiesen werden, internen Schutz nach § 3e AsylG in Anspruch zu nehmen, da eine interne Schutzmöglichkeit für ihn nicht besteht.
92 
Einem Ausländer wird gemäß § 3e Abs. 1 AsylG die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt. Diese Voraussetzungen sind für den Kläger in Gambia nicht erfüllt. Relevante regionale Unterschiede hinsichtlich der Situation Homosexueller in Gambia sind nicht ersichtlich. Personen, die erkennbar homosexuell sind, können dort angesichts der im ganzen Land verbreiteten Homophobie an keinem Ort sicher leben (vgl. auch VG Karlsruhe, Urteil vom 12.05.2021 a. a. O. Rn. 58; VG Freiburg, Urteil vom 09.12.2020 a. a. O. Rn. 76).
93 
d) Umstände, die die Flüchtlingseigenschaft des Klägers von vornherein ausschlössen (§ 3 Abs. 2 oder 3 AsylG), sind nicht ersichtlich.
94 
2. Das Vorliegen von in § 3 Abs. 4 AsylG genannten Ausschlussgründen für die Zuerkennung des Schutzstatus ist nicht erkennbar.
95 
3. Neben der Ziffer 2 des angegriffenen Bescheids waren auch dessen Ziffern 4 und 5 (a) sowie 6 und 7 (b) aufzuheben.
96 
a) Soweit in dem angegriffenen Bescheid die Zuerkennung des subsidiären Schutzes und die Feststellung des Vorliegens von Abschiebungsverboten abgelehnt wird, ist der Bescheid ebenfalls aufzuheben, da er insoweit gegenstandslos ist (Heusch in Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, Stand: 01.04.2022, § 31 AsylG Rn. 24 m. w. N.).
97 
b) Die Voraussetzungen für den Erlass einer Abschiebungsandrohung (§ 34 Abs. 1 AsylG) mit Ausreisefrist (§ 38 AsylG) und eines Einreise- und Aufenthaltsverbots (§ 11 Abs. 1 AufenthG) liegen angesichts der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht vor, sodass der Bescheid auch insoweit aufzuheben ist.
98 
IV. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei.
99 
V. Gründe, die Revision zuzulassen (§ 132 Abs. 2 VwGO), liegen nicht vor.

Gründe

 
15 
I. Das Gericht konnte über die Berufung verhandeln und entscheiden, obwohl die Beklagte in der Berufungsverhandlung nicht vertreten war. Die Beklagte ist auf diese Möglichkeit in der ihr rechtzeitig zugestellten Ladung hingewiesen worden (§ 125 Abs. 1 Satz 1, § 102 Abs. 2 VwGO).
16 
II. Die Berufung ist nach Zulassung durch den Senat statthaft und auch im Übrigen zulässig.
17 
III. Die Berufung ist auch begründet. Das Verwaltungsgericht hat die Klage des Klägers im Hauptantrag zu Unrecht abgewiesen. Die Ablehnung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in Ziffer 2 sowie die zu Ziffern 4 bis 7 des Bescheids des Bundesamts vom 22.06.2017 getroffenen Entscheidungen sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aus § 3 Abs. 4 AsylG (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 VwGO).
18 
1. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28.07.1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.
19 
Der Kläger ist danach Flüchtling im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG, denn er hat die begründete Furcht, bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland Gambia wegen seiner Homosexualität verfolgt zu werden (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 und 2 Buchst. a, § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG, § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG). Eine anderweitige Schutzmöglichkeit durch Inanspruchnahme eines Schutzes durch Akteure gemäß § 3d AsylG oder durch Niederlassung in einem anderen Landesteil gemäß § 3e AsylG steht dem Kläger in Gambia nicht zur Verfügung.
20 
a) Für den Kläger ist der Verfolgungsgrund nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG erfüllt, da homosexuelle Männer in Gambia einer bestimmten sozialen Gruppe angehören (aa) und der Kläger homosexuell ist (bb).
21 
aa) Homosexuelle Männer erfüllen in Gambia das Verfolgungsmerkmal der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (§ 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG).
22 
Eine Gruppe gilt gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten (§ 3b Abs. 1 Nr. 4 Buchst. a AsylG), und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (§ 3b Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b AsylG). Als eine bestimmte soziale Gruppe kann auch eine Gruppe gelten, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Orientierung gründet; Handlungen, die nach deutschem Recht als strafbar gelten, fallen nicht darunter; eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe kann auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft (§ 3b Abs. 1 Nr. 4 a. E. AsylG). Diese Voraussetzungen liegen hier vor.
23 
(1) Die sexuelle Ausrichtung einer Person ist ein unveränderbares Merkmal, das so bedeutsam für die Identität ist, dass die Person nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten oder sie geheim zu halten (vgl. EuGH, Urteil vom 07.11.2013 - Rs. C-199/12 bis C-201/12 - X, Y und Z - juris Rn. 46, 70, 71; BVerfG, Beschluss vom 22.01.2020 - 2 BvR 1807/19 - juris Rn. 19).
24 
(2) Das Bestehen strafrechtlicher Bestimmungen, die spezifisch Homosexuelle betreffen, erlaubt die Feststellung, dass diese Personen eine abgegrenzte Gruppe bilden, die von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (EuGH, Urteil vom 07.11.2013 a. a. O. Rn. 48).
25 
Das gambische Strafgesetzbuch enthält in Art. 144, 144A und 147 solche Vorschriften, die sich spezifisch gegen Homosexuelle richten. Homosexualität wird als „Geschlechtsverkehr wider die natürliche Ordnung“ (engl.: „carnal knowledge against the order of nature“) angesehen. Art. 144 Abs. 2 Buchst. c, Art. 144A und 147 des gambischen Strafgesetzbuchs geben als Beispiel für die Tathandlung „widernatürlichen Geschlechtsverkehrs“ ausdrücklich „homosexuelle Akte“ und Homosexualität als solche an. Art. 144 des gambischen Strafgesetzbuchs sieht für „widernatürlichen Geschlechtsverkehr“ eine Freiheitsstrafe von 14 Jahren vor, als „schwere Homosexualität“ wird nach Art. 144A des gambischen Strafgesetzbuchs die wiederholte Tatbegehung sogar mit lebenslanger Freiheitsstrafe sanktioniert. Der Versuch ist gemäß Art. 145 des gambischen Strafgesetzbuchs strafbar und wird mit Freiheitsstrafe von 7 Jahren bestraft. Art. 147 des gambischen Strafgesetzbuchs bedroht „Akte grober Unanständigkeit“, zu denen auch homosexuelle Akte im privaten Bereich gehören, mit Freiheitsstrafe von 5 Jahren (engl. Wortlaut der Straftatbestände in EUAA (vormals EASO), EASO Country of Origin Information Report - The Gambia Country Focus vom 01.12.2017, S. 67 ff.).
26 
bb) Der Kläger gehört der Gruppe der Männer mit homosexueller Identität an.
27 
Schon das Verwaltungsgericht ist zu der Überzeugung gelangt, dass der Kläger homosexuell ist. Auch für den hier erkennenden Senat steht dies nach eigener und umfassender Anhörung des Klägers zu seiner sexuellen Identität in der Berufungsverhandlung außer Zweifel. Für seine Verhältnisse detailreich und emotional schilderte der 25 Jahre alte Kläger seine Situation als homosexueller Mann im Herkunftsland. Zwar konnte er mit seiner knappen Darstellung, er habe schon seit seiner Kindheit immer nur „was für Männer gefühlt“, nicht so sehr veranschaulichen, wie er seine Homosexualität entdeckt hat und unmittelbar mit dieser Entdeckung umgegangen ist, außer, dass er sie nicht verstanden haben will. Dies ist nach der Überzeugung des Senats jedoch zum einen auf die Haltung des Klägers, seine sexuelle Identität heute nicht mehr zu hinterfragen, sondern als gegeben zu akzeptieren und zum anderen auf eine kulturelle Prägung durch eine Tabuisierung von Fragen sexueller Identität im Herkunftsland zurückzuführen. Überaus anschaulich schilderte der Kläger demgegenüber, wie sein familiäres Umfeld seine von der dort empfundenen Normalität abweichende sexuelle Identität erahnte, dass seine Mutter die Homosexualität früh erkannte und ihn vor dem feindseligen Umfeld zu schützen bemüht war. Für den Senat ist es plausibel, dass eine Mutter mit ihrem Sohn unter den in Gambia vorherrschenden Bedingungen nicht vertieft über Fragen sexueller Identität sprechen, sondern ihn in Anbetracht der eigenen Ohnmacht und der Gefahren für ihn nur dazu anhalten wird, dieses Merkmal seiner Identität vor anderen Menschen und selbst vor den engsten Familienangehörigen zu verbergen. In einem derartigen gesellschaftlichen Klima ist es für den Senat auch verständlich, dass der Vater und der Cousin bereits Argwohn gegen den Kläger hegten, sich aber wegen der selbstempfundenen Schande eines homosexuellen Familienmitglieds und der gravierenden sozialen Bedeutung eines offenen „Outings“ einer eindeutigen Erkenntnis solange verweigerten, bis eine Auseinandersetzung mit der Homosexualität des Klägers unvermeidlich wurde. Überzeugend erläuterte der Kläger, wie sein weiteres Umfeld (Mitschüler, weiterer Familien- und Bekanntenkreis) ihn ebenfalls bereits der Homosexualität verdächtigte. Dies konnte auch der Familie nicht entgangen sein, sodass der gesellschaftliche Druck auf sie und den Kläger stetig zugenommen haben muss. Dass er sich der Gefahren selbst einer heimlich ausgelebten Homosexualität bewusst war, konnte der Kläger ebenfalls glaubhaft machen, indem er bei der Anhörung vor dem Senat immer wieder darauf zurückkam, wie vorsichtig er sein musste. Schließlich vermochte der Kläger dem Senat vor Augen zu führen, wie er sich in Deutschland eine Existenz aufgebaut hat, in der er seine Homosexualität offen ausleben kann und wie sein Leben trotz eines Gefühls der Freiheit gelegentlich Konfliktsituationen mit sich bringt. Das Herausbilden seiner sexuellen Orientierung, die individuelle (Konflikt-)Situation als homosexueller Mann in Gambia und das freie Ausleben seiner sexuellen Identität in Deutschland schilderte der Kläger detailreich und emotional. Auf den Senat machten der Kläger und sein Vorbringen insoweit einen vollauf authentischen Eindruck. An der Bedeutsamkeit der Homosexualität für die persönliche Identität des Klägers besteht demnach kein Zweifel.
28 
b) Die Furcht des Klägers, bei einer Rückkehr nach Gambia wegen seiner Homosexualität zum Opfer von Verfolgungshandlungen gemäß § 3a AsylG zu werden, ist begründet.
29 
Als Verfolgungshandlung im Sinne von § 3a Abs. 1 AsylG gelten Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG), oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG beschriebenen Weise betroffen ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Als Verfolgung können unter anderem die Anwendung physischer oder psychischer, einschließlich sexueller Gewalt (§ 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG) oder eine unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung (§ 3a Abs. 2 Nr. 3 AsylG) gelten.
30 
Bei Prüfung eines Antrags auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sind alle Akte zu berücksichtigen, denen der Antragsteller ausgesetzt war oder ausgesetzt zu werden droht, um festzustellen, ob unter Berücksichtigung seiner persönlichen Umstände diese Handlungen als Verfolgung im Sinne von § 3a Abs. 1 AsylG gelten können (vgl. EuGH, Urteil vom 05.09.2012 - Rs. C-71/11 und C-99/11 - Y und Z - juris Rn. 68 zu Art. 9 Abs. 1 Richtlinie 2011/95/EU). Liegt keine Verfolgungshandlung nach § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG vor, ist weiter zu prüfen, ob sich eine solche aus einer Gesamtbetrachtung nach § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG ergibt. Die Maßnahmen im Sinne von § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG können Menschenrechtsverletzungen, aber auch Diskriminierungen sein, die für sich allein nicht die Qualität einer Menschenrechtsverletzung aufweisen (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 - juris Rn. 34).
31 
In § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG beruht die Schwere der Eingriffshandlungen auf ihrer Art oder Wiederholung (Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes - im Folgenden: Richtlinie 2011/95/EU -: „nature or repetition“). Während die „Art“ der Handlung ein qualitatives Kriterium beschreibt, enthält der Begriff der „Wiederholung“ eine quantitative Dimension (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 a. a. O. Rn. 35).
32 
Setzt die Erfüllung des Tatbestands von § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG mithin eine bestimmte gravierende Eingriffshandlung oder die Wiederholung gleichartiger Handlungen voraus, ermöglicht die Tatbestandsalternative des § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG in einer erweiterten Perspektive die Berücksichtigung einer Kumulation unterschiedlicher Eingriffshandlungen, wie sie beispielhaft in § 3a Abs. 2 AsylG aufgeführt sind. Die Kumulationsbetrachtung entspricht auch dem Verständnis des UNHCR vom Verfolgungsbegriff in Art. 1 A Genfer Flüchtlingskonvention. In die nach § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG erforderliche Gesamtbetrachtung können insbesondere verschiedenartige Diskriminierungen gegenüber den Angehörigen einer bestimmten sozialen Gruppe einbezogen werden, z. B. beim Zugang zu Bildungs- oder Gesundheitseinrichtungen, aber auch existenzielle berufliche oder wirtschaftliche Einschränkungen. Die einzelnen Eingriffshandlungen müssen nicht für sich allein die Qualität einer Menschenrechtsverletzung aufweisen, in ihrer Gesamtheit aber eine Betroffenheit des Einzelnen bewirken, die der Eingriffsintensität einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung im Sinne von § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG entspricht (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 a. a. O. Rn. 36 m. w. N.).
33 
Daher sind bei der Prüfung einer Verfolgungshandlung im Sinne von § 3a Abs. 1 AsylG zunächst alle in Betracht kommenden Eingriffshandlungen in den Blick zu nehmen, zu denen Menschenrechtsverletzungen wie sonstige schwerwiegende Repressalien, Diskriminierungen, Nachteile und Beeinträchtigungen zählen. In dieser Prüfungsphase dürfen Handlungen, wie sie beispielhaft in § 3a Abs. 2 AsylG genannt werden, nicht vorschnell deshalb ausgeschlossen werden, weil sie nur eine Diskriminierung, aber keine Menschenrechtsverletzung darstellen. Zunächst ist aber zu prüfen, ob die Verletzung eines grundlegenden Menschenrechts im Sinne von § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG vorliegt. Ist das nicht der Fall, ist weiter zu prüfen, ob die Summe der nach § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG zu berücksichtigenden Eingriffe zu einer ähnlich schweren Rechtsverletzung beim Betroffenen führt wie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte im Sinne von § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG. Ohne eine fallbezogene Konkretisierung des Maßstabs für eine schwerwiegende Verletzung grundlegender Menschenrechte gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG kann die bewertende Beurteilung nach § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG, ob der einzelne Asylbewerber unterschiedlichen Maßnahmen in einer so gravierenden Kumulation ausgesetzt ist, dass seine Betroffenheit mit der in § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG vergleichbar ist, nicht gelingen. Stellt das Gericht hinsichtlich des Tatbestandsmerkmals der „Betroffenheit in ähnlicher Weise“ keine Vergleichsbetrachtung mit den von § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG erfassten Verfolgungshandlungen an, liegt darin ein Verstoß gegen Bundesrecht (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 a. a. O. Rn. 37 m. w. N.).
34 
Maßgeblich für das Vorliegen einer Verfolgungshandlung ist der Eintritt einer Rechtsgutsverletzung. Für Verfolgungshandlungen in Form von Eingriffen in die Religionsfreiheit hat der Europäische Gerichtshof entschieden, dass ein hinreichend schwerer Eingriff gemäß Art. 9 Abs. 1 Richtlinie 2011/95/EU (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG) nicht voraussetzt, dass der Ausländer seinen Glauben nach Rückkehr in sein Herkunftsland tatsächlich in einer Weise ausübt, die ihn der Gefahr der Verfolgung aussetzt. Vielmehr kann bereits der unter dem Druck der Verfolgungsgefahr erzwungene Verzicht auf die Glaubensbetätigung die Qualität einer Verfolgung erreichen (vgl. EuGH, Urteil vom 05.09.2012 a. a. O. Rn. 69). Zwar ist das hier in Rede stehende Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens aus Art. 8 EMRK, das auch das Sexualleben und die sexuelle Orientierung schützt (vgl. EGMR, Urteil vom 22.10.1981 - Nr. 7525/76 - Dudgeon v. United Kingdom - NJW 1984, 541, 542), kein Recht, von dem nicht gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK abgewichen werden kann (vgl. § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG), sodass eine Verletzung dieses Rechts nicht von vornherein als schwerwiegende Menschenrechtsverletzung angesehen werden kann (vgl. EuGH, Urteil vom 11.07.2013 a. a. O. Rn. 54 f.). Allerdings kann die Freiheitsstrafe, mit der eine Rechtsvorschrift bewehrt ist, die homosexuelle Handlungen unter Strafe stellt, für sich alleine eine Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie sein, sofern sie im Herkunftsland, das eine solche Regelung erlassen hat, tatsächlich verhängt wird. Eine solche Strafe stellt nämlich eine unverhältnismäßige oder diskriminierende Bestrafung nach Art. 9 Abs. 2 Buchst. c Richtlinie 2011/95/EU (§ 3a Abs. 2 Nr. 3 AsylG) dar (vgl. EuGH, Urteil vom 11.07.2013 a. a. O. Rn. 57). Folglich ist auch der unter dieser Strafandrohung erzwungene Verzicht auf das Ausleben einer homosexuellen Identität eine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung (vgl. auch United Kingdom Supreme Court, Urteil vom 07.07.2010, HJ (Iran) (FC) v. Secretary of State for the Home Department (2010) UKSC 31, abrufbar unter https://www.supremecourt.uk/cases/docs/uksc-2009-0054-judgment.pdf, Rn. 82, zuletzt abgerufen am 06.07.2022).
35 
Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer - bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr - eine Verfolgungshandlung gemäß § 3a AsylG wegen eines Verfolgungsgrundes nach § 3b AsylG aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr („real risk“) abstellt; das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (stRspr, vgl. BVerwG, Urteile vom 01.06.2011 - 10 C 25.10 - juris Rn. 22 m. w. N. und vom 20.02.2013 a. a. O. Rn. 32; Beschluss vom 15.08.2017 - 1 B 120.17 - juris Rn. 8).
36 
Hierfür ist erforderlich, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine individuelle Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Diese Würdigung ist auf der Grundlage einer „qualifizierenden“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung vorzunehmen. Hierbei sind gemäß Art. 4 Abs. 3 Richtlinie 2011/95/EU neben den Angaben des Schutzsuchenden und seiner individuellen Lage auch alle mit dem Herkunftsland verbundenen flüchtlingsrelevanten Tatsachen zu berücksichtigen. Entscheidend ist, ob in Anbetracht der Gesamtumstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, Urteile vom 20.02.2013 a. a. O. Rn. 32 m. w. N. und vom 04.07.2019 - 1 C 33.18 - juris Rn. 15).
37 
Eine in diesem Sinne wohlbegründete Furcht vor einem Verfolgungsereignis kann auch dann vorliegen, wenn bei einer „quantitativen“ oder mathematischen Betrachtungsweise ein Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 Prozent für dessen Eintritt besteht. In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus; ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die „reale Möglichkeit“ einer Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Bei der Abwägung aller Umstände ist die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in die Betrachtung einzubeziehen. Besteht bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine geringe mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung, macht es auch aus der Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen erheblichen Unterschied, ob er z. B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber die Todesstrafe riskiert. Maßgebend ist damit letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit, die das vorrangige qualitative Kriterium bildet, das bei der Beurteilung anzulegen ist, ob die Wahrscheinlichkeit einer Gefahr „beachtlich“ ist (stRspr, vgl. BVerwG, Urteil vom 04.07.2019 a. a. O. Rn. 15 m. w. N.).
38 
Der im Tatbestandsmerkmal „aus begründeter Furcht vor Verfolgung“ enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab gilt unabhängig von der Frage, ob der Asylbewerber vorverfolgt ausgereist ist oder nicht. Vorverfolgte werden nach den unionsrechtlichen Vorgaben nicht über einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab, sondern über die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU privilegiert. Danach besteht bei ihnen eine tatsächliche Vermutung, dass ihre Furcht vor Verfolgung begründet ist. Diese Vermutung kann widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe dagegensprechen, dass ihnen erneut eine derartige Verfolgung droht (vgl. BVerwG, Urteile vom 04.07.2019 a. a. O. Rn. 16 und vom 01.06.2011 a. a. O. Rn. 22 zur inhaltsgleichen Regelung in Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG).
39 
Zwar kann aus dem Vorbringen des Klägers nicht geschlossen werden, dass er vorverfolgt aus Gambia ausgereist wäre (aa), allerdings droht ihm bei einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung wegen seiner Homosexualität (bb).
40 
aa) Der Kläger ist nicht vorverfolgt ausgereist. Sein diesbezügliches Vorbringen ist nach der Überzeugung des Senats nicht glaubhaft. Er kann sich deshalb nicht auf die Vermutung gemäß Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU stützen, bei einer Rückkehr nach Gambia erneut Opfer einer Verfolgung zu werden.
41 
Die Gründe für seine Verfolgungsfurcht hat der Asylsuchende im Rahmen seiner Mitwirkungspflicht nach § 86 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 VwGO, §§ 15 und 25 Abs. 1 AsylG vorzutragen. Die Glaubhaftmachung der Asylgründe setzt eine schlüssige, nachprüfbare Darlegung voraus. Der Schutzsuchende muss unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt schildern, aus dem sich ergibt, dass ihm bei verständiger Würdigung politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. Jedenfalls in Bezug auf die in seine eigene Sphäre fallenden Ereignisse und persönlichen Erlebnisse hat er eine Schilderung abzugeben, die geeignet ist, seinen Anspruch lückenlos zu tragen (BVerwG, Beschluss vom 19.10.2001 - 1 B 24.01 - juris Rn. 5; Urteile vom 24.03.1987 - 9 C 321.85 - juris Rn. 9 und vom 22.03.1983 - 9 C 68.81 - juris Rn. 5). Bei erheblichen Widersprüchen oder Steigerungen im Sachvortrag kann dem Kläger nur bei einer überzeugenden Auflösung der Unstimmigkeiten geglaubt werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 12.11.1985 - 9 C 27.85 - juris Rn. 17 m. w. N.).
42 
Der Kläger konnte den Senat nicht davon überzeugen, dass er vorverfolgt aus Gambia ausgereist ist. Das diesbezügliche Vorbringen des Klägers ist unglaubhaft. Es weist erhebliche Unstimmigkeiten, Lücken und Widersprüche auf, ohne dass der Kläger diese überzeugend zu erklären vermochte. Seine Behauptung, der Dolmetscher habe seine Angaben während der Anhörung beim Bundesamt nicht korrekt wiedergegeben, überzeugt den Senat nicht, da es sich um Unstimmigkeiten in konkreten Einzelheiten des Sachverhalts handelt, die etwa die Frage betreffen, ob der Kläger vor der Flucht durch das Fenster mit seinem Cousin gesprochen habe. Hierzu hat der Kläger Angaben gemacht, die im Widerspruch zueinanderstehen, ohne dass eine bewusst wahrheitswidrige Übersetzung des Dolmetschers zu neutralen Sachverhaltsangaben des Klägers naheliegt. Außerdem hat der Kläger nach der Anhörung beim Bundesamt auf eine Rückübersetzung verzichtet, was gegen Verständigungsschwierigkeiten spricht. Denn ihm musste jedenfalls angesichts der zahlreichen Vorhalte des Bundesamts während der Anhörung bewusst gewesen sein, dass Unstimmigkeiten in seinem Vortrag protokolliert worden sind. Auch der von dem Kläger geäußerte Verdacht, der Dolmetscher sei voreingenommen gewesen und habe deswegen nicht korrekt übersetzt, kann nur auf einem Eindruck beruhen, den der Kläger während der Anhörung gewonnen hat. Dann ist aber nicht nachvollziehbar, dass der Kläger seinen Verzicht auf eine Rückübersetzung erklärt hat, die es ihm erlaubt hätte, etwaige falsche Übersetzungen richtigzustellen. Angesichts dieser Umstände hat das Verwaltungsgericht das Vorbringen des Klägers zu Recht als unglaubhaft bewertet. Hinzukommen weitere Ungereimtheiten zwischen den Angaben des Klägers beim Verwaltungsgericht und denen in der Berufungsverhandlung vor dem Senat. Wollte der Kläger den Freund ... ... laut seinen Angaben im Rahmen der Anhörung durch das Verwaltungsgericht noch bei der Arbeit im Hotel kennengelernt haben, sprach er in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat davon, ihn im Alter von zwölf Jahren auf einer Party kennengelernt zu haben. Auf einer Party sei es auch dazu gekommen, dass die Beziehung zu ... aufgedeckt worden sei; zuvor hatte der Kläger lediglich angegeben, den Freund mit nach Hause gebracht zu haben. Nicht plausibel ist in Anbetracht der in der eigenen Familie als Schande empfundenen Homosexualität, dass der Cousin des Klägers laut nach anderen Leuten geschrien haben soll, als er ihn und den Freund bei homosexuellen Handlungen angetroffen habe. Nach der Person ... befragt, dem der Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht eine erhebliche Bedeutung bei der Flucht beimaß und den er beim Bundesamt als Partner bezeichnete, antwortete der Kläger ausweichend oder oberflächlich. Allgemein blieb die Darstellung des fluchtauslösenden Ereignisses im Unterschied zu den Angaben des Klägers zu seiner Homosexualität vage und detailarm. Selbst wenn die Homosexualität des Klägers bei seiner Ausreise eine gewisse Bedeutung gehabt haben sollte - so war offenbar zuvor auch die ihn beschützende Mutter gestorben und konnte sein Freund ... nach Angaben des Klägers aufgrund einer Einladung zeitnah nach Schweden ausreisen -, kann der Senat keine hinreichende Gewissheit darüber gewinnen, dass die Ausreise einem von dem Kläger beschriebenen Vorverfolgungsgeschehen geschuldet war.
43 
bb) Allerdings droht dem Kläger dessen ungeachtet bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr nach Gambia mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung wegen seiner für die persönliche Identität bedeutsamen Homosexualität.
44 
In dem vom Untersuchungsgrundsatz beherrschten Verwaltungsprozess ist es Aufgabe des Tatsachengerichts, den maßgeblichen Sachverhalt zu ermitteln, dazu von Amts wegen die erforderliche Sachverhaltsaufklärung zu betreiben und sich eine eigene Überzeugung zu bilden (§ 86 Abs. 1 Satz 1, § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Auch die in Asylverfahren gesteigerten Mitwirkungspflichten (§§ 15 und 25 AsylG) entbinden das Gericht nicht von seiner Aufklärungspflicht, um sich so die für seine Entscheidung gebotene Überzeugungsgewissheit zu verschaffen. Hierzu muss es die Prognosetatsachen ermitteln, diese im Rahmen einer Gesamtschau bewerten und sich auf dieser Grundlage eine Überzeugung bilden (vgl. BVerwG, Urteil vom 04.07.2019 a. a. O. Rn. 19).
45 
Die Überzeugungsgewissheit gilt nicht nur in Bezug auf das Vorbringen des Schutzsuchenden zu seiner persönlichen Sphäre zuzurechnenden Vorgängen, sondern auch hinsichtlich der in die Gefahrenprognose einzustellenden allgemeinen Erkenntnisse. Diese ergeben sich vor allem aus den zum Herkunftsland vorliegenden Erkenntnisquellen. Auch für diese Anknüpfungstatsachen gilt das Regelbeweismaß des § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Dabei darf das Tatsachengericht keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen und keine unumstößliche Gewissheit verlangen, sondern darf sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen, der Zweifeln Schweigen gebietet, auch wenn sie nicht völlig auszuschließen sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 04.07.2019 a. a. O. Rn. 20; Beschluss vom 08.02.2011 - 10 B 1.11 - juris Rn. 7 f. zur Gefahrenprognose bei § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG).
46 
Auf der Basis der so gewonnenen Prognosegrundlagen hat das Tatsachengericht bei der Erstellung der Gefahrenprognose über die Wahrscheinlichkeit künftiger Geschehensabläufe bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr des Schutzsuchenden zu befinden. Diese in die Zukunft gerichtete Projektion ist als Vorwegnahme zukünftiger Geschehnisse - im Unterschied zu Aussagen über Vergangenheit und Gegenwart - typischerweise mit Unsicherheiten belastet. Zu einem zukünftigen Geschehen ist nach der Natur der Sache immer nur eine Wahrscheinlichkeitsaussage, hier am Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit, möglich. Auch wenn die Prognose damit keines „vollen Beweises“ bedarf, ändert dies nichts daran, dass sich der Tatrichter gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO bei verständiger Würdigung der gesamten Umstände des Einzelfalls auch von der Richtigkeit seiner - verfahrensfehlerfrei - gewonnenen Prognose einer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohenden Verfolgung die volle Überzeugungsgewissheit zu verschaffen hat (stRspr, vgl. BVerwG, Urteile vom 04.07.2019 a. a. O. Rn. 21 und vom 16.04.1985 - 9 C 109.84 - juris Rn. 16; s. a. Beschluss vom 08.02.2011 a. a. O. Rn. 7 zur Gefahrenprognose bei § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG).
47 
In Fällen unsicherer Tatsachengrundlage bedarf es in besonderem Maß einer umfassenden Auswertung aller Erkenntnisquellen zur allgemeinen Lage im Herkunftsland. Hierauf aufbauend muss das Gericht bei unübersichtlicher Tatsachenlage und nur bruchstückhaften Informationen aus einem Herkunftsland aus einer Vielzahl von Einzelinformationen eine zusammenfassende Bewertung vornehmen (vgl. BVerwG, Urteil vom 21.04.2009 - 10 C 11.08 - juris Rn. 19). Dabei sind gewisse Prognoseunsicherheiten als unvermeidlich hinzunehmen und stehen einer Überzeugungsbildung nicht grundsätzlich entgegen, wenn eine weitere Sachaufklärung keinen Erfolg verspricht. Die Annahme einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit darf aber nicht unter Verzicht auf die Feststellung objektivierbarer Prognosetatsachen auf bloße Hypothesen und ungesicherte Annahmen gestützt werden. Kann das Gericht auf der Grundlage der zu seiner Überzeugung feststehenden Prognosebasis hinsichtlich der beachtlichen Wahrscheinlichkeit einer dem Kläger individuell drohenden Verfolgung weder in die eine noch in die andere Richtung eine Überzeugung gewinnen und sieht es keine Anhaltspunkte für eine weitere Sachverhaltsaufklärung, hat es die Nichterweislichkeit des behaupteten Verfolgungsschicksals festzustellen und eine Beweislastentscheidung zu treffen. Zuvor bedarf es aber stets einer eingehenden Analyse der Erkenntnisquellen und der sich hieraus ergebenden Erkenntnisse. Dabei hat das Gericht aufgrund des wertenden Charakters des Prognosemaßstabs der beachtlichen Wahrscheinlichkeit auch zu berücksichtigen, worauf etwaige Ungewissheiten und Unklarheiten zurückzuführen sind und ob sich nicht zumindest in der Gesamtschau der ihm vorliegenden Einzelinformationen hinreichende Indizien ergeben, die bei zusammenfassender Bewertung eine eigene Prognoseentscheidung zur Rückkehrgefährdung ermöglichen. Nur wenn dem Tatsachengericht auf der Grundlage der zu seiner Überzeugung feststehenden Prognosebasis eine eigene Prognoseentscheidung nicht möglich ist, darf es eine an der materiellen Beweislast auszurichtende Nichterweislichkeitsentscheidung treffen (BVerwG, Urteil vom 04.07.2019 a. a. O. Rn. 22).
48 
Zwar ist der Senat auf der Grundlage der vorliegenden Erkenntnisse über die gegenwärtige Situation homosexueller Männer im Gambia nicht davon überzeugt, dass dem Kläger Verfolgung wegen seiner sexuellen Identität seitens staatlicher Akteure droht (1), jedoch droht homosexuellen Männern wie dem Kläger in Gambia eine Verfolgungshandlung in Form einer Kumulierung verschiedener Maßnahmen einschließlich der Einschüchterung durch die trotz Nichtanwendung gleichwohl fortbestehende Strafandrohung, wenn sie der sie umgebenden Gesellschaft gegenüber ihre sexuelle Identität offenbarten (2).
49 
(1) Dem Kläger droht nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung (§ 3a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1 und 3 AsylG) allein durch staatliche Akteure (§ 3c Nr. 1 AsylG). Es ist zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat (§ 77 Abs. 1 AsylG) weder eine Strafverfolgung und Verurteilung des Klägers (a) noch eine sonstige Verfolgungshandlung seitens staatlicher Akteure (b) beachtlich wahrscheinlich.
50 
(a) Dem Kläger droht nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine strafrechtliche Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe wegen seiner Homosexualität und damit eine Verfolgungshandlung nach § 3a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 3 AsylG.
51 
Zwar steht Homosexualität in Gambia unter Strafe, allerdings kann bei qualifizierender Betrachtung gegenwärtig nicht davon ausgegangen werden, dass die Straftatbestände in Art. 144, 144A, 145 und 147 des gambischen Strafgesetzbuchs praktisch angewendet werden, es zu Festnahmen, Anklagen oder Verurteilungen und damit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu einer Verfolgungshandlung nach § 3a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 3 AsylG kommt.
52 
Seit dem Regierungswechsel von Präsident Yahya Jammeh zu Präsident Adama Barrow im Jahr 2017 ist es in Gambia nur zu einer relevanten Verurteilung wegen einer der genannten Straftatbestände gekommen.
53 
Nach dem aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amts hat das gambische Justizministerium zwar auf Anfrage des Auswärtigen Amts vom Oktober 2020 hin bestätigt, dass es seit 2017 keine Verhaftungen oder Strafverfolgung aufgrund von Homosexualität mehr gegeben habe. Die letzten bekannt gewordenen Verhaftungen erfolgten nach Kenntnis des Auswärtigen Amts im Jahr 2015; zu Verurteilungen kam es nach Kenntnis des Auswärtigen Amts nicht (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Gambia vom 12.01.2022, S. 9).
54 
Allerdings ist nach den in den Briefing Notes des Bundesamts vom 11.04.2022 (S. 4) genannten Quellen zumindest ein jüngerer Fall bekannt geworden, in dem es zu einer hier relevanten Verurteilung gekommen ist: Laut gambischem Nachrichtenportal „The Voice“ habe der Magistrate Court in Kanifing den senegalesischen Staatsangehörigen ... mit Urteil vom 26.04.2021 eines „versuchten unnatürlichen Vergehens“ (im englischen Originalgesetzestext: „attempts to commit an unnatural offence“) gem. Art. 145 des gambischen Strafgesetzbuches von 1965 in der Abänderung (Amendment) von 2005 für schuldig befunden und ihn zu der höchstmöglichen Freiheitsstrafe von sieben Jahren oder zu einer Geldstrafe in Höhe von 100.000,-- Dalasi (rd. 1.955,-- USD, Stand: 03.05.2021) verurteilt. Der Verurteilte sei zudem zur Schadensersatzleistung an das Opfer in Höhe von 50.000,-- Dalasi (ca. 977,-- USD, Stand: 03.05.2021) verpflichtet worden. Das gambische Nachrichtenportal „The Standard“ berichtete am 01.07.2020 erstmalig über die Festnahme unter dem Vorwurf der Homosexualität. „The Point“ berichtete am 02.07.2020 über die formelle Anklageerhebung gegen den Angeklagten wegen versuchter homosexueller Handlungen (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Briefing Notes vom 03.05.2021, S. 4). Laut Bundesamt handele es sich um einen „von Besonderheiten gekennzeichneten Einzelfall“, da der Verurteilte zuvor ein Geständnis abgelegt habe (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Briefing Notes vom 11.04.2022, S. 4).
55 
„The Standard“ berichtete zudem am 06.04.2022 über eine formelle Anklageerhebung gegen einen Mann wegen „schwerer Homosexualität“ (im englischen Originalgesetzestext: „aggravated homosexuality“) gemäß des Art. 144A Abs. 1 Buchst. a des gambischen Strafrechtsänderungsgesetzes von 2014. Die Staatsanwaltschaft wirft dem Angeklagten vor, 2021 Geschlechtsverkehr mit einem Zwölfjährigen vollzogen zu haben. Schwere Homosexualität ist mit lebenslänglicher Freiheitsstrafe bedroht (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Briefing Notes vom 11.04.2022, S. 4). Hierzu ist allerdings zu beachten, dass es sich - den dargestellten Sachverhalt mangels anderslautender Hinweise als wahr unterstellt - bei dem Geschlechtsverkehr mit einem Zwölfjährigen um einen auch nach deutschem Recht strafbaren sexuellen Missbrauch von Kindern (§ 176 Abs. 1 Nr. 1 StGB) handelt, dessen Verfolgung nicht schutzbegründend wirkt (vgl. § 3b Abs. 1 Nr. 4 a. E. AsylG).
56 
Im Übrigen teilt der Senat gegenwärtig die Einschätzung der Beklagten, dass es sich bei dem Fall des am 26.04.2021 verurteilten senegalesischen Staatsangehörigen um einen besonderen Einzelfall handelt. Diese Verurteilung lässt noch nicht darauf schließen, dass die gambischen Strafverfolgungsbehörden Verstöße gegen die einschlägigen Strafvorschriften wieder aktiv ermitteln und zur Anklage bringen, sodass mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit der Verurteilung homosexueller Männer zu einer Freiheitsstrafe zu rechnen ist. In Fällen von Strafverfolgung wegen Homosexualität wäre mit einer entsprechenden Berichterstattung zu rechnen, wie sie auch in den beiden genannten Fällen erfolgt ist. Die heftige gesellschaftliche Debatte um die Entkriminalisierung der Homosexualität (vgl. Bundesamt, Länderreport 39 - Republik Gambia vom 01.07.2021, S. 34) belegt ein großes Interesse der gambischen Bevölkerung an diesem Thema, was öffentlichen Strafverfahren - anders als privaten Verfolgungsakten - eine hohe Aufmerksamkeit verschaffen dürfte. Das öffentliche Interesse an einer Berichterstattung über Strafverfahren gegen homosexuelle Menschen dürfte damit unabhängig von der Haltung der Bevölkerung gegenüber Homosexualität gegeben sein. Von einer hohen Dunkelziffer geht der Senat danach insoweit nicht aus (a. A. VG Berlin, Urteil vom 21.04.2022 - VG 31 K 137.19 A - juris, auf das Fehlen einer engagierten Zivilgesellschaft abstellend, die Strafverfahren dokumentiert).
57 
Die Annahme, dass es trotz Fortbestehens der Strafvorschriften nicht zu deren Anwendung kommt, fügt sich zudem in eine erkennbare Haltung der gambischen Regierung zur Homosexualität ein.
58 
Erfolgsversprechende Bemühungen, die Kriminalisierung der Homosexualität durch eine Gesetzesänderung zu beenden, hat es seit dem Regierungswechsel 2017 allerdings nicht gegeben. Die National Human Rights Commission, eine 2017 eingerichtete permanente Institution zum Schutz und zur Förderung der Menschenrechte in Gambia, hatte in ihrem Jahresbericht 2019 einen besseren Schutz von unter anderem homosexuellen Menschen gefordert und so eine heftige Debatte in der Gesellschaft angestoßen. Nicht alle Mitglieder trugen diese Entscheidung der National Human Rights Commission mit (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Länderreport 39 - Republik Gambia vom 01.07.2021, S. 34). Imam Baba Leigh, ein Menschenrechtsaktivist und muslimisches Mitglied der Kommission, sah sich unter öffentlichem Druck zu einem Widerruf und einer Entschuldigung veranlasst (The Standard vom 17.06.2020, Lawyer slams Imam Leigh over gay rights remarks, abrufbar unter https://standard.gm/gambia-news/lawyer-slams-imam-leigh-over-gay-rights-remarks/; The Standard vom 18.06.2020, I Will Never Call for Legalisation of LGBT, abrufbar unter https://standard.gm/gambia-news/i-will-never-call-for-legalisation-of-lgbt-imam-leigh/, zuletzt abgerufen am 06.07.2022). Zwar hat der ehemalige gambische Vizepräsident, Außenminister und Parteivorsitzende der Regierungspartei von Präsident Barrow, Ousainou Darboe, öffentlich erklärt, den unter der Vorgängerregierung von Präsident Jammeh eingeführten Straftatbestand der „schweren Homosexualität“ (engl.: „aggravated homosexuality“) abschaffen zu wollen (vgl. Arnold-Bergstraesser-Institut, Antwort auf Anfrage des VG Freiburg vom 06.08.2019, S. 3; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Länderreport 39 - Republik Gambia vom 01.07.2021, S. 34). Die entsprechenden Änderungsvorschläge wurden jedoch nicht angenommen (Schweizerisches Staatssekretariat Migration, Focus Gambie Situation des personnes LGB en Gambie vom 21.05.2021, S. 11). Damit wäre indes auch keine generelle Abwendung von der Bestrafung homosexueller Personen verbunden gewesen, sondern lediglich eine Distanzierung von der homophoben Rhetorik und Politik der Vorgängerregierung Jammeh (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Länderreport 39 - Republik Gambia vom 01.07.2021, S. 33). Unter dem Druck der Öffentlichkeit und in Anbetracht von Vorwürfen, als Gegenleistung für EU-Fördermittel Zugeständnisse mit Blick auf die Rechte von unter anderem homosexuellen Personen gemacht zu haben, positionierte sich die Regierung, indem sie ihre vorher weniger eindeutige Haltung zur Homosexualität - so erklärten Präsident Barrow und Minister Darboe 2017 lediglich, „homosexuality is not an issue in The Gambia“ (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Gambia vom 12.01.2022, S. 9, EUAA (vormals EASO), EASO Country of Origin Report - Focus on The Gambia vom 01.12.2017, S. 70) - klar ablehnend formulierte. Der Regierungssprecher erklärte, unmissverständlich klar machen zu wollen, dass die Regierung niemals eine Abmachung mit internationalen Organisationen getroffen habe, Homosexualität zu entkriminalisieren, und sie dies auch nicht vorhabe. Es sei eindeutig falsch, nahezulegen, die Regierung sei dahingehend „korrumpiert“ worden, habe Kompromisse geschlossen oder Bedingungen akzeptiert, im Gegenzug für EU-Fördermittel Rechte unter anderem für homosexuelle Menschen in das gambische Recht aufzunehmen. Die Regierung werde weiterhin von den Werten und Normen ihres Volkes sowie von den bestehenden Gesetzen geleitet und habe keine Pläne, die Homosexualität zu entkriminalisieren oder auch nur eine Revision vorzunehmen (The Standard vom 24.06.2020, Gov’t Issues Position on Gay Rights, abrufbar unter https://standard.gm/gambia-news/govt-issues-position-on-gay-rights/, zuletzt abgerufen am 06.07.2022). Präsident Barrow bekräftigte diese Haltung, erklärte die Debatte wenige Wochen später allerdings auch für beendet (The Fatu Network vom 18.09.2020, Homosexuality: President Barrow emphasises that Gambia’s partnership with ‘development partners’ is based purely on mutual respect as he barely addresses debate on people of different sexual orientations, abrufbar unter https://www.fatunetwork.net/homosexuality-president-barrow-emphasises-that-gambias-partnership-with-development-partners-is-based-purely-on-mutual-respect-as-he-barely-addresses-debate-on-people-of-different-sexual-orientations/, zuletzt abgerufen am 06.07.2022); Präsident Barrow ist bei den Präsidentschaftswahlen im Dezember 2021 mit 53,2 Prozent im Amt bestätigt worden (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Gambia vom 12.01.2022, S. 4). Unterstützung für diese ablehnende Haltung zeigten 2020 auch öffentliche Diskussionen nach einem Beitrag der EU-Delegation in den sozialen Medien zum Tag gegen Homophobie. Die Ablehnung einer Entkriminalisierung ist parteiübergreifend (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Länderreport 39 - Republik Gambia vom 01.07.2021, S. 34).
59 
Zugleich meint die gambische Regierung jedoch, homosexuelle Personen dadurch ausreichend schützen zu können, dass die Verwirklichung der Tatbestände nicht mehr zu einer Anklage gebracht wird, und nimmt so eine vermeintlich vermittelnde Haltung ein. Bestätigt wird dies durch die Äußerung eines gambischen Delegierten gegenüber dem Human Rights Committee des Büros der Hochkommissarin für Menschenrechte der Vereinten Nationen (OHCHR) vom 06.07.2018, dass das Volk bei der Aufhebung des Gesetzes mitreden müsse; es sei ein delikater Prozess, der sorgfältig von der Regierung gemanagt werden müsse, um Schaden von den betroffenen Personen abzuwenden (vgl. UK Home Office, Country Policy and Information Note - The Gambia: Sexual Orientation and gender identity or expression vom 01.08.2019, Ziffer 5.1.5). Dieselbe Haltung lässt sich schon an der früheren mehrdeutigen Äußerung Präsident Barrows festmachen, Homosexualität sei in Gambia kein Thema (engl.: „not an issue“). Das Statement lässt erkennbar Interpretationen zum Wohlgefallen verschiedener Meinungsführer zu. Zusammenfassend bewertet der Senat die Äußerungen der Regierung trotz einer gewissen Verschärfung in der öffentlichen Kommunikation gegenwärtig als kontinuierlichen Versuch, angesichts wachsender gesellschaftlicher Spannungen den Status quo zu bewahren sowie jede Debatte zu vermeiden und, wenn sie unvermeidlich ist, zu beruhigen. Anderenfalls würde die Regierung je nach Ausgang der Diskussion entweder die Gunst ausländischer Geldgeber oder die wichtiger gesellschaftlicher Gruppen im eigenen Land verlieren. Zu dieser Haltung passt es, die Strafverfolgungsbehörden davon abzuhalten, aktive Strafverfolgung der Homosexualität zu betreiben, um sich nicht des Vorwurfs von Menschenrechtsverletzungen auszusetzen.
60 
(b) Auch eine außergesetzliche Verfolgung durch gambische Sicherheitskräfte ist nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten.
61 
Fälle von Übergriffen gambischer Sicherheitskräfte lassen sich mit Ausnahme eines Falls, in dem Polizeibeamte Bestechungsgelder dafür verlangten, Schutzsuchende nicht wegen Homosexualität zu verfolgen (Schweizerisches Staatssekretariat Migration, Focus Gambie Situation des personnes LGB en Gambie vom 21.05.2021, S. 25), den Erkenntnismitteln nicht entnehmen. Zwar ist auch insoweit denkbar, dass es eine gewisse Zahl an nicht berichteten Vorkommnissen gibt (vgl. auch UK Home Office - The Gambia: Sexual orientation and gender identity or expression vom 01.08.2019, Ziffer 5.3), allerdings lässt eine Bewertung der lückenhaften Erkenntnislage den Schluss auf einen Gleichlauf von nichtstaatlicher Verfolgung (siehe dazu sogleich unten (2) (a)) und polizeilichen Übergriffen ebenso zu wie den, dass die Polizei die Regierungspolitik, homosexuelle Männer nicht strafrechtlich zu verfolgen (siehe dazu oben (a)), als nachgeordnete Stelle befolgt und bei einem Bekanntwerden homosexueller Handlungen deshalb - ungeachtet denkbarer Exzesse einzelner Beamter - im Allgemeinen untätig bleibt. Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit der Verfolgung lässt sich daraus zur Überzeugung des Senats nicht ableiten.
62 
Ansätze für eine weitere diesbezügliche Aufklärung sind nicht erkennbar, da sie die Mitwirkung der gambischen Behörden an der Aufklärung eigener Regelverstöße oder die Identifikation der Opfer von Übergriffen der Sicherheitsbehörden voraussetzen würden. Dass sich homosexuelle Opfer staatlicher Übergriffe der National Human Rights Commission offenbaren, ist wegen der vehementen, auch offiziellen Ablehnung der Homosexualität und der zumindest auf dem Papier nach wie vor bestehenden Strafandrohung nicht anzunehmen. Da weder Nichtregierungsorganisationen vor Ort sind und solche Vorfälle dokumentieren noch eine „homosexuelle Szene“ oder Treffpunkte homosexueller Menschen bekannt sind (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes an Bundesamt vom 27.08.2021, S. 2 f.), sind Ermittlungen vor Ort nicht aussichtsreich.
63 
(2) Das gesellschaftliche Klima in Gambia hat jedoch nach der Überzeugung des Senats das Ausmaß einer solchen Feindseligkeit gegenüber Männern, für die ihre Homosexualität identitätsprägend ist, angenommen, dass es mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu einer Verfolgungshandlung gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG kommen kann. Dem Kläger drohen bei einer hypothetischen Rückkehr unterschiedliche Maßnahmen privater Akteure (§ 3c Nr. 3 AsylG, (a)); hinzu tritt die staatliche (§ 3c Nr. 1 AsylG) Strafandrohung für homosexuelle Akte, die zwar wegen der nicht beachtlich wahrscheinlichen Umsetzung nicht das Ausmaß einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung erreicht (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG), aber wegen ihrer einschüchternden Wirkung das Menschenrecht des Klägers auf Achtung seines Privatlebens aus Art. 8 EMRK verletzt (b). In der Kumulierung erreichen diese Maßnahmen eine Intensität, die so gravierend ist, dass der Kläger in gleicher Weise wie von einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung in Form einer unverhältnismäßigen und diskriminierenden Bestrafung gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 3 AsylG betroffen ist (c).
64 
(a) Der Kläger wäre bei einer hypothetischen Rückkehr nach Gambia einer Vielzahl von unterschiedlichen Diskriminierungen seitens nichtstaatlicher Akteure (§ 3c Nr. 3 AsylG) ausgesetzt, die zu einer umfassenden Ausgrenzung und Erniedrigung führen.
65 
Die Verfolgungsprognose setzt, wird die Verfolgungsgefahr durch ein willensgesteuertes Verhalten ausgelöst, eine differenzierende und wertende Betrachtung voraus. Dabei ist für die Bestimmung der Verfolgungsdichte nicht die Zahl der registrierten Vorkommnisse in Beziehung zu der Gesamtzahl der homosexuellen Personen in Gambia zu setzen, was eine geringe Verfolgungsdichte zur Folge hätte, sondern es ist auf die Gruppe der ihre Homosexualität in gleicher Weise wie der Kläger auslebenden Personen abzustellen (vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 a. a. O. Rn. 41; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 12.06.2013 - A 11 S 757/13 - juris Rn. 52 zu religiöser Betätigung; a. A. noch VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 26.10.2016 - A 9 S 908/13 - juris Rn. 50, auf die Zahl der tatsächlich beobachteten Referenzfälle, bezogen auf die geschätzte Zahl von Personen, die das Verfolgungsmerkmal erfüllen, abstellend).
66 
In Gambia leben laut World Factbook der CIA 2.413.403 Menschen (Stand 2022), von denen 1.009.773 Männer und 1.026.352 Frauen in einem Alter von 15 bis 54 Jahren sind (Central Intelligence Agency, The World Factbook - Gambia, abrufbar unter https://www.cia.gov/the-world-factbook/countries/gambia-the/, zuletzt abgerufen am 06.07.2022). Nimmt man an, dass 1 bis 2 Prozent der Frauen und 4 bis 5 Prozent der Männer überwiegend oder ausschließlich homosexuell sind (vgl. dazu schon VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 26.10.2016 a. a. O. Rn. 50 m. w. N.), ergibt dies, dass etwa 40.000 bis 50.000 Männer und 10.000 bis 20.000 Frauen in Gambia überwiegend oder ausschließlich homosexuell sind.
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Rein empirisch betrachtet wäre das Verfolgungsrisiko danach als gering einzustufen, denn den Erkenntnismitteln lassen sich kaum Vorkommnisse entnehmen, bei denen homosexuelle Menschen Opfer von Verfolgungshandlungen nichtstaatlicher Akteure geworden sind. So ist nur ein Vorfall am 27.02.2019 bekannt geworden, bei dem eine „wie ein Mann aussehende, aber wie eine Frau gekleidete und auftretende Frau“ auf einem Markt in Serrekunda bedrängt und nur durch das Eingreifen der Polizei vor gewalttätigen Angriffen geschützt werden konnte. Die Umherstehenden seien fälschlicherweise davon ausgegangen, dass es sich um einen homosexuellen Mann handeln könne (The Fatu Network vom 27.02.2019, Homosexuality: Police Save Weird-Looking Woman from Large Crowd in Serrekunda, abrufbar unter https://www.fatunetwork.net/homosexuality-police-save-weird-looking-woman-from-large-crowd-in-serrekunda/, zuletzt abgerufen am 06.07.2022). Ob es anschließend zu einer Strafverfolgung kam, ist nicht bekannt. Im Januar 2019 enthüllte ein Radiomoderator die Adressen von Wohnungen, in denen LGBTI-Personen Zuflucht gefunden hätten, und rief die Hörer auf, sie anzugreifen. Der Aufruf wurde befolgt (Schweizerisches Staatssekretariat Migration, Focus Gambie Situation des personnes LGB en Gambie vom 21.05.2021, S. 25), allerdings ist nicht bekannt, mit welchen Folgen für die betroffenen Personen der Angriff einherging.
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Bei der Bewertung ist allerdings weiter zu berücksichtigen, wie viele homosexuelle Menschen in Gambia aus Furcht vor Verfolgung darauf verzichten, ihre sexuelle Orientierung in öffentlich sichtbarer Weise auszuleben und was die Gründe dafür sind. In diesem Zusammenhang fällt auf, dass kein Fall verzeichnet ist, in dem sich ein prominenter Gambier öffentlich zu seiner Homosexualität bekannt hätte, und den Erkenntnismittel liefernden Stellen auch keine „homosexuelle Szene“ oder zumindest ein einschlägiger Treffpunkt in Gambia bekannt ist (Auswärtiges Amt, Auskunft an Bundesamt vom 27.08.2021, S. 3; UK Home Office - The Gambia: Sexual orientation and gender identity or expression vom 01.08.2019, Ziffer 6.2). Angesichts einer anzunehmenden fünfstelligen Zahl homosexueller Männer in Gambia lassen diese Erkenntnisse sowie die völlige Abwesenheit einer öffentlichen Erkennbarkeit homosexueller Männer in Gambia nur den Schluss zu, dass Männer in Gambia, die dieser Gruppe angehören, nicht offen mit ihrer Homosexualität umgehen.
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Nicht mit letzter Gewissheit lässt sich tatsächlich aufklären, warum dies so ist. Der Schluss, dass homosexuelle Männer ihre sexuelle Identität aus Angst verbergen, ist nicht zwingend; es könnte beispielsweise auch auf eine im Herkunftsland vorherrschende Einstellung zurückzuführen sein, dass Sexualität allgemein nicht öffentlich ausgelebt wird und für homosexuelle Männer insoweit nichts Anderes gilt als für Männer mit heterosexueller Identität. Die dem Senat zur Verfügung stehenden Erkenntnisse zu den allgemeinen Einstellungen der gambischen Bevölkerung zu homosexuellen Männern sprechen jedoch sämtlich dafür, dass homosexuelle Männer in Gambia eine Sonderstellung einnehmen und ihre Homosexualität aus Angst davor verbergen, Opfer von Anfeindungen und Gewalt zu werden.
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Homosexualität ist in der breiten Öffentlichkeit in Gambia verpönt. Laut einer Afrobarometer-Umfrage geben 97 Prozent der Gambier an, Homosexualität kategorisch abzulehnen (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Länderreport 39 - Republik Gambia vom 01.07.2021, S. 34). Homosexuelle Menschen werden gesellschaftlich diskriminiert (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Gambia vom 12.01.2022 S. 9; US Department of State, The Gambia 2020 Human Rights Report vom 30.03.2021, S. 14; ILGA, State-Sponsored Homophobia vom 01.03.2019, S. 326; UK Home Office, The Gambia: Sexual orientation and gender identity or expression vom 01.08.2019, Ziffer 6.1) und laufen aufgrund der stark ablehnenden Haltung der Gesellschaft Gefahr, Opfer von Anfeindungen und Gewalt zu werden (Österreichisches Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt Gambia vom 24.06.2020, S. 21).
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Die Einstellung der Gambier zu Homosexualität hat sich in jüngerer Zeit von einer zurückhaltenden, aber teilweise tolerierenden Haltung hin zu einer Verachtung homosexueller Männer verändert. In der Vergangenheit war in Gambia das Phänomen der „góor-jigéen“ (Wolof: „Mann-Frau“ oder „verweichlichte Männer“), wie z. B. in Frauenkleidern auftretende Männer, bis etwa in die 1990er Jahre weitgehend akzeptiert. Allmählich begann die gambische Gesellschaft, das Phänomen der „góor-jigéen“ mit dem sexuellen Akt (homosexuell) in Verbindung zu bringen und abzulehnen. Heute ist dieser Begriff verächtlich gemeint und bezieht sich auf homosexuelle oder verweichlichte Männer (Schweizerisches Staatssekretariat Migration, Focus Gambie Situation des personnes LGB en Gambie vom 21.05.2021, S. 20). Die Veränderung fällt zeitlich zusammen mit einem zunehmenden Sextourismus (Schweizerisches Staatssekretariat Migration, Focus Gambie Situation des personnes LGB en Gambie vom 21.05.2021, S. 18) und später der Instrumentalisierung von vorhandenen Einstellungen in der Bevölkerung durch den früheren Präsidenten Yahya Jammeh, der sich darauf berief, „die traditionellen und religiösen gambischen Werte zu schützen“ (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Gambia: Situation der LGBTI vom 28.07.2015, S. 4, 8).
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Der Regierungswechsel hat den Schwerpunkt der Ächtung homosexueller Menschen vom Staat in die Gesellschaft verlagert, ohne dass eine Verbesserung der Situation spürbar wäre. In jüngerer Zeit haben religiöse Führer, die große Glaubwürdigkeit in der Bevölkerung genießen und auf Gemeinden und Schulen beträchtlichen Einfluss ausüben, sich verstärkt gegen Homosexualität ausgesprochen. Von da ab wandten sich auch die Gemeindevorsteher entschieden gegen homosexuelle Personen (Schweizerisches Staatssekretariat Migration, Focus Gambie Situation des personnes LGB en Gambie vom 21.05.2021, S. 20 f.). Homosexualität gilt sowohl unter Muslimen als auch unter Christen als Sünde (Schweizerisches Staatssekretariat Migration, Focus Gambie Situation des personnes LGB en Gambie vom 21.05.2021, S. 17). Viele Gambier glauben, dass Homosexualität in ihrem Land eigentlich nicht existiere, während andere meinen, dass sie importiert werde. Tatsächlich wird Homosexualität oft als eine nicht-afrikanische oder sogar nicht-gambische Praxis wahrgenommen, die aus dem Westen oder Europa eingeführt werde. Es gibt einen Mythos, dass alle homosexuellen Menschen in Gambia Migranten seien. Darüber hinaus wird die Förderung der Rechte von homosexuellen Menschen als Priorität des Westens angesehen, die er in Afrika durchzusetzen versuche (Schweizerisches Staatssekretariat Migration, Focus Gambie Situation des personnes LGB en Gambie vom 21.05.2021, S. 18). Die Medien wirken als Verstärker für homophobe Botschaften (Schweizerisches Staatssekretariat Migration, Focus Gambie Situation des personnes LGB en Gambie vom 21.05.2021, S. 21). Die gambische Presse verbreitet regelmäßig Positionen, in denen erklärt wird, dass Gambia als religiöses und gläubiges Land homosexuelle Beziehungen oder Vereinigungen nicht akzeptieren könne, da sie gegen lokale kulturelle und religiöse Werte verstießen (Schweizerisches Staatssekretariat Migration, Focus Gambie Situation des personnes LGB en Gambie vom 21.05.2021, S. 17).
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Die Ablehnung führt im Regelfall zu Diskriminierung mit erniedrigenden Folgen für die Betroffenen. Der vor dem United Kingdom Upper Tribunal (Immigration and Asylum Chamber) angehörte Sachverständige Dr. Ebrima Ceesay erklärte, das „Homophobie, Stigmatisierung und Diskriminierung von Homosexuellen üblich sind im sogenannten neuen Gambia“ und dass muslimische und christliche Gelehrte Homosexualität für mit den Lehren des Korans und der Bibel unverträglich erklärt hätten. Homosexualität sei immer noch geächtet in der gambischen Gesellschaft, weswegen Schwule und Lesben sich im Verborgenen bewegen müssten. Wenn Angehörige sexueller Minderheiten entdeckt würden, würden sie häufig öffentlich gedemütigt und belästigt, weil religiöse Führer es geschafft hätten, Homosexualität als „abnormal“, „unnatürlich“ und aus dem Ausland auferlegt zu verankern (UK Upper Tribunal, Immigration and Asylum Chamber, Entscheidung vom 03.12.2018 - Nr. PA/06693/2017 - H.C. v. Secretary of State for the Home Department - abrufbar unter https://tribunalsdecisions.service.gov.uk/utiac/pa-06693-2017, zuletzt abgerufen am 06.07.2022). Personen, die bekanntermaßen homosexuell sind, wird in der Regel das Mietverhältnis gekündigt. Krankenhäuser verweigern laut einem Gesprächspartner des Schweizerischen Staatssekretariats Migration die Behandlung, wenn die sexuelle Orientierung des Patienten bekannt wird (Schweizerisches Staatssekretariat Migration, Focus Gambie Situation des personnes LGB en Gambie vom 21.05.2021, S. 24).
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Das Bekanntwerden der eigenen Homosexualität kann auch zu Gewalt gegen homosexuelle Männer führen. Dem Schweizerischen Staatssekretariat Migration wurde von einem Fall berichtet, in dem ein junger Mann erstochen wurde, nachdem seine Familie von seiner Homosexualität erfahren hatte (Schweizerisches Staatssekretariat Migration, Focus Gambie Situation des personnes LGB en Gambie vom 21.05.2021, S. 19). In dem vorgenannten Verfahren vor dem UK Upper Tribunal war die Homosexualität des dortigen Klägers bekannt geworden. Der Sachverständige Dr. Ceesay nahm davon ausgehend an, dass dem Kläger bei einer Rückkehr öffentliche Demütigung und Selbstjustiz (engl.: „mob justice“) drohten (UK Upper Tribunal, Immigration and Asylum Chamber, Entscheidung vom 03.12.2018 a. a. O.). Ähnlich äußerte sich der kanadische Jurist, Schriftsteller und Gastprofessor in Gambia 2010 und 2011, Josh Scheinert, der in einem Zeitungsartikel (Mail & Guardian vom 15.03.2019, No Truth for Gambia’s queer people, abrufbar unter https://mg.co.za/article/2019-03-15-00-no-truth-for-gambias-queer-people/, zuletzt abgerufen am 06.07.2022) darlegt, dass anders als in anderen afrikanischen Ländern wie Uganda und Nigeria, wo LGBT-Gemeinden existierten und sich trotz weitverbreiteter Diskriminierung füreinander einsetzten, es keine derartige Zivilgesellschaft in Gambia gebe, weil es zu gefährlich sei. Scheinert zitiert Madi Jobarteh, den Vertreter der Westminister Foundation for Democracy mit den Worten: „[Sich für die LGBT-Gemeinde] auszusprechen, wäre eine bedeutsame Entscheidung, bedenkt man die kulturellen Einstellungen und die Wahrnehmung und das Verständnis von LGBT-Themen“. Sollte es herauskommen, dass ein Aktivist oder eine gambische LGBT-Person einen Konflikt vor die National Human Rights Commission zu bringen beabsichtige, wäre Jobarteh um die Sicherheit dieser Person besorgt. Auch ein Vertreter der Kommission selbst habe erklärt, dass eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür bestehe, dass sich Opfer nicht offenbaren würden. Wie gefährlich es ist, sich für die Rechte homosexueller Personen einzusetzen, belegt eine Äußerung eines Vertreters der Europäischen Union in Gambia: Ein Beitrag der Europäischen Union in den sozialen Medien zur Lage der LGBTQI-Gemeinschaft in Gambia am internationalen Tag gegen Homo-, Bi-, Inter- und Transphobie im Jahr 2020 entfachte eine öffentliche Debatte darüber, ob eine Entkriminalisierung der Homosexualität sowie das Recht auf gleichgeschlechtliche Eheschließung in Gambia eingeführt werden sollte. Der EU-Botschafter in Gambia wurde für den Beitrag heftig kritisiert (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Länderreport 39 - Republik Gambia vom 01.07.2021, S. 34). Gegenüber Vertretern des Arnold-Bergstraesser-Instituts gab der EU-Botschafter an, es sei in Gambia schlichtweg zu riskant, der EU-Empfehlung folgend am Internationalen LGBTQ*-Tag die Regenbogenflagge zu hissen (Arnold-Bergstraesser-Institut, Auskunft an VG Freiburg vom 06.08.2019, S. 5).
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Der Senat verkennt nicht, dass die Zahl der konkret dokumentierten Vorfälle nach wie vor gering ist und nur wenig Einzelheiten bekannt sind, sieht aber auch keine Möglichkeit, zur Vorbereitung seiner wertenden Betrachtung zu der Frage, warum homosexuelle Männer ihre Homosexualität in Gambia nicht offen ausleben, weiter und erfolgversprechend Beweis zu erheben, um seine Annahme, dass dies aus Angst vor Verfolgung unterbleibt, zu bestätigen oder zu widerlegen. Es fehlt an Ermittlungsansätzen und Stellen vor Ort, die mit einer Ermittlung betraut werden könnten. Zivilgesellschaftliche Organisationen vermeiden das Thema aus Angst, für solchen Aktivismus verfolgt zu werden. Abweichend von der Lage in den Nachbarländern gibt es derzeit in Gambia keine Unterstützung und Aktivismus für homosexuelle Menschen (Arnold-Bergstraesser-Institut, Auskunft an VG Freiburg vom 06.08.2019, S. 5; Auswärtiges Amt, Auskunft an Bundesamt vom 27.08.2021, S. 2; Josh Scheinert, in: Mail & Guardian vom 15.03.2019, No Truth for Gambia’s queer people, abrufbar unter https://mg.co.za/article/2019-03-15-00-no-truth-for-gambias-queer-people/, zuletzt abgerufen am 06.07.2022). Jede Erhebung anderer denkbarer Stellen, insbesondere des Auswärtigen Amts, zu Erfahrungen betroffener Personen muss auch daran scheitern, dass die zu Befragenden mangels bekannter, auch inoffizieller Treffpunkte schon gar nicht aufgefunden werden können (vgl. zuletzt Auswärtiges Amt, Auskunft an Bundesamt vom 27.08.2021, S. 2), geschweige denn es zu erwarten wäre, dass sie sich in Anbetracht der Strafandrohung und der gesellschaftlichen Konsequenzen offen zu ihrer Homosexualität äußern werden (vgl. zum diesbezüglichen Unterschied zu anderen Herkunftsländern, in denen Homosexualität stellenweise geduldet wird z. B. OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 04.03.2020 - 16 A 809/16.A - juris Rn. 88 ff. zu Bangladesh; OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 08.07.2020 - juris Rn. 54 zu Pakistan; seinerzeit kein Unterschied zur Informationslage bezüglich Nigeria, vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 07.03.2013 - A 9 S 1873/12 - juris Rn. 110, 121).
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Dass Nichtregierungsorganisationen, welche die Unterstützung homosexueller Personen zu ihrem Ziel erhoben haben, in Gambia anders als in anderen Ländern nicht vertreten sind und Vorfälle so nicht dokumentiert werden, erschwert nicht nur die Sachverhaltsaufklärung, sondern legt in Anbetracht der gesellschaftlichen Einstellungen auch nahe, dass es eine hohe Dunkelziffer von Vorfällen gibt. Es liegt kein Widerspruch darin, bezüglich der Übergriffe staatlicher Stellen von einem vollständigen Bild ohne Dunkelziffer solcher Vorfälle auszugehen, eine erhebliche Dunkelziffer aber für nichtstaatliche Übergriffe zu bejahen. Anders als bei der offiziellen Strafverfolgungstätigkeit dürfte bei Maßnahmen der Selbstjustiz gegen homosexuelle Menschen ein breiter Konsens der Täter und der deren homophoben Haltung stützenden Umgebungsbevölkerung bestehen, solche Vorfälle nicht bekannt werden zu lassen, um sich einer Strafverfolgung zu entziehen. Gleiches gilt für innerfamiliäre Straftaten gegen homosexuelle Familienangehörige, wobei diesbezüglich noch die in Gambia vorherrschende Furcht vor einer „familiären Schande“ durch das homosexuelle Familienmitglied die Bemühungen, entsprechende Taten zu verdecken, verstärken dürfte. Dass auch gambische Medien nicht ohne Weiteres investigativ tätig werden, um Taten gegen Homosexuelle aufzudecken und anzuprangern, also gleichsam zum Schutz dieser Bevölkerungsgruppe tätig werden, liegt in Anbetracht der verbreiteten Homophobie - anders als bei der Berichterstattung über Strafverfahren gegen homosexuelle Menschen - nahe. Vielmehr wirken die Medien - wie bereits ausgeführt - als Verstärker für homophobe Tendenzen und nicht als unabhängige Berichterstatter von Missständen in der gambischen Gesellschaft. Allgemein räumen sogar die gambischen Behörden (allerdings) mit Blick auf häusliche, sexuelle und kinderspezifische Gewalt ein, dass Opfer aus Angst vor Diskriminierung, familiärem Druck, sozialem Stigma und Furcht vor Vergeltungsmaßnahmen von Anzeigen absehen und eine hohe Dunkelziffer besteht. Diesbezüglich ermutigen die Behörden indes die Opfer, ihr Schweigen zu brechen (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Länderreport 39 - Republik Gambia vom 01.07.2021, S. 27 f.), während homosexuelle Personen keine Möglichkeit haben, sich hilfesuchend an Behörden zu wenden (siehe dazu sogleich unten c) aa)). Dass sich trotzdem nicht einmal Opfer häuslicher, sexueller und kinderspezifischer Gewalt den Behörden offenbaren und staatliche Stellen wegen der Abwesenheit anderer Institutionen einzig dazu berufen wären, über das Ausmaß von Gewalt Auskunft zu geben, ist für den Senat ein weiteres Indiz dafür, dass die wenigen bekannten Vorfälle von Übergriffen das wahre Ausmaß von Gewalt gegen homosexuelle Männer nicht repräsentativ abbilden. Das fehlende Interesse von Regierung und Gesellschaft an einer Aufklärung und Verbesserung der Situation homosexueller Menschen wird in Gambia nicht - wie andernorts, wo dementsprechend mehr Fälle dokumentiert werden (vgl. z. B. für Pakistan OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 08.07.2020 a. a. O. Rn. 51; zu Nigeria VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 07.03.2013 - A 9 S 1873/12 - a. a. O. Rn. 79; zu Kamerun VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 07.03.2013 - A 9 S 1872/12 - a. a. O. Rn. 60 ff.; zu Bangladesch OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 04.03.2020 a. a. O. juris Rn. 85 ff.) - durch Nichtregierungsorganisationen aufgefangen (so auch Schweizerisches Staatssekretariat Migration, Focus Gambie Situation des personnes LGB en Gambie vom 21.05.2021, S. 25).
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(b) Zu den genannten unterschiedlichen diskriminierenden Maßnahmen und gewalttätigen Übergriffen, die zusammengenommen beachtlich wahrscheinlich sind, kommt die fortbestehende Strafandrohung des gambischen Staates (§ 3c Nr. 1 AsylG) hinzu. Es liegt kein Widerspruch darin, dass die Strafandrohung nicht als Verfolgungshandlung gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG angesehen werden konnte (vgl. oben (1) (a)), im Sinne von § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG jedoch beachtlich ist. Das strafrechtliche Verbot eines Verhaltens, das zwar durch ein Menschenrecht nach der Europäischen Menschenrechtskonvention geschützt ist, von dem allerdings gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK abgewichen werden kann, ist für sich genommen keine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung, wenn die Strafvorschriften nicht praktisch angewandt werden (vgl. EuGH, Urteil vom 07.11.2013 a. a. O. Rn. 54 ff.). Ungeachtet dessen ist aber das unterschiedslose und ungerechtfertigte Verbot homosexueller Geschlechtsakte und der Homosexualität als solcher eine Verletzung des Menschenrechts auf Achtung des Privatlebens (Art. 8 EMRK bzw. Art. 7 EUGrCh; vgl. auch EGMR, Urteil vom 22.10.1981 a. a. O.). Solche Maßnahmen unterhalb der Schwelle einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung sind gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG in die kumulierende Betrachtung einzubeziehen (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 a. a. O. Rn. 56).
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Mit der Androhung einer Freiheitsstrafe von fünf bzw. sieben oder vierzehn Jahren für homosexuelle Handlungen geht eine erhebliche einschüchternde Wirkung auch dann einher, wenn die betreffenden Straftatbestände nicht zur Anwendung kommen (vgl. insoweit auch VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 12.06.2013 a. a. O. Rn. 55 f.). Da die Strafvorschriften nicht formal aufgehoben worden sind, kann sich die Vollzugspraxis jederzeit und ohne vorherige Ankündigung ändern. Ein homosexueller Mensch wird das Risiko, seine sexuelle Identität auszuleben, deshalb zwar mit den damit verbundenen Ängsten unter Umständen faktisch eher eingehen als bei beachtlich wahrscheinlicher Verurteilung. Bei realistischer Betrachtung wird ein besonnener Mensch jedoch in seine Überlegungen, mit welcher Wahrscheinlichkeit ihm Verfolgung droht, nicht nur die gegenwärtig unwahrscheinliche, aber nicht völlig auszuschließende Strafverfolgung als einen Risikofaktor einbeziehen, sondern auch die sehr viel wahrscheinlichere Aufdeckung seiner Homosexualität durch gesellschaftliche Akteure und die damit verbundene Diskriminierung.
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(c) Die Kumulierung dieser einzelnen, unterschiedlichen Maßnahmen ist in ihrer Wirkung so gravierend, dass sie in der Gesamtschau einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung wie dem aufgrund einer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohenden Freiheitsstrafe erzwungenen Verzicht auf das Ausleben der homosexuellen Identität gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 2 i. V. m. Nr. 1 AsylG gleichkommt (vgl. auch VG Karlsruhe, Urteil vom 12.05.2021 - A 10 K 561/19 - juris Rn. 51; VG Freiburg, Urteil vom 09.12.2020 - A 15 K 4788/17 - juris Rn. 47 ff.).
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Homosexuellen Männern wird die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben in Gambia verwehrt. Sie werden aber nicht nur missachtet oder abgelehnt, was für die Annahme einer Verfolgungshandlung nicht hinreichend wäre. Die Erfahrung sozialen Anpassungsdrucks, wie sie bestimmte andere soziale Gruppen wie auch Personen mit bestimmten individuellen Eigenschaften in nahezu allen Gesellschaften der Welt erleben, ist sorgfältig zu unterscheiden von flüchtlingsrechtlich relevanter Verfolgung, denn es ist nicht das Ziel der Genfer Flüchtlingskonvention und der Richtlinie 2011/95/EU, bestimmte soziale Gruppen gegen Diskriminierungen so zu schützen, wie es der Grundrechtsstandard am Zufluchtsort geböte. Sozialer Anpassungsdruck kann deshalb auch die gesellschaftliche Ablehnung von Homosexualität, wie sie in vielen Ländern verbreitet ist, einschließen, ohne dass damit ein Schutzanspruch für die betroffenen Personen begründet würde. Nicht überall, wo die Gesellschaft mehrheitlich Homosexualität ablehnt, nimmt diese Ablehnung das Ausmaß einer gesellschaftlichen Verfolgung homosexueller Männer an. In Gambia geht die Einstellung der Mehrheitsgesellschaft gegenüber homosexuellen Männern jedoch über eine bloße Ablehnung oder auch Missachtung weit hinaus. Aus den genannten Gründen ist zunächst beachtlich wahrscheinlich, dass homosexuelle Männer, die ihre sexuelle Identität ausleben, mit weitreichenden Folgen für ihre persönliche und wirtschaftliche Existenz ausgegrenzt und geächtet werden und damit nur am Rand der Gesellschaft leben können, wo sie stets Gefahr laufen, gewalttätige Übergriffe zu erleiden. Dies allein dürfte schon viele homosexuelle Männer dazu veranlassen, ihre homosexuelle Identität zu unterdrücken.
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Der Verfolgungseingriff ist auch unter dem Gesichtspunkt der erzwungenen Freiheitsbeschränkung von hoher Intensität. Der staatliche und der - hohe - gesellschaftliche Verfolgungsdruck zwingt homosexuelle Männer in Gambia zu einem dauerhaften und vollständigen Verzicht auf das Ausleben ihrer sexuellen Identität. Vom Kläger kann wegen der Bedeutsamkeit der sexuellen Identität für seine Persönlichkeit nicht verlangt werden, seine Homosexualität zu verbergen (vgl. unten (d)). Zur qualitativen Bewertung der Eingriffsintensität und deren Vergleichbarkeit mit dem durch eine praktisch auch umgesetzte Strafandrohung erzwungenen Verzicht, die homosexuelle Identität auszuleben, ist indes festzuhalten, dass Homosexualität in Gambia weder offen noch im Verborgenen ausgelebt werden kann. Das „Verbergen“ der eigenen sexuellen Identität erfasst ein breites Spektrum von Verhaltensweisen von einem diskreten Ausleben der eigenen sexuellen Identität nur an bestimmten, allgemein bekannten, aber stillschweigend akzeptierten Orten und mit Schutzvorkehrungen bis hin zu einem völligen Verzicht auf jede Form des Sexuallebens durch das Verschweigen oder gar dem Eingehen einer heterosexuellen Beziehung zum Verschleiern der eigenen Homosexualität. In Gambia besteht, abseits womöglich von homosexuellen Dienstleistungen innerhalb des Sextourismus, über deren flüchtlingsrechtliche Relevanz für die sexuelle Identität des Einzelnen in diesem Verfahren nicht zu entscheiden ist, keine Möglichkeit, eine homosexuelle Identität gefahrlos auszuleben. Der erzwungene vollständige Verzicht ist nicht zuletzt ein dauerhafter Zustand.
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Selbst wenn man der Auffassung sein wollte, dass der auf die dargestellte Art und Weise erzwungene Verzicht auf jedes öffentliche Ausleben der homosexuellen Identität eines Mannes allein noch nicht die Qualität eines relevanten Verfolgungseingriffs hat, so ergibt sich ein solcher jedenfalls aus einer wertenden Zusammenschau der vorgenannten nichtstaatlichen - auch gewalttätigen - Übergriffe und diskriminierenden Maßnahmen, die jeweils für sich betrachtet noch keine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit im konkreten Einzelfall begründen beziehungsweise nicht die erforderliche Schwere aufweisen mögen, mit der einschüchternden Wirkung des strafbewehrten Verbots der Homosexualität als (staatliche) Menschenrechtsverletzung.
83 
(d) Der Kläger wäre bei hypothetischer Rückkehr diesen erniedrigenden Lebensbedingungen ausgesetzt, da seine Homosexualität identitätsprägender Teil seiner Persönlichkeit ist. Für die Rückkehrprognose ist daher hypothetisch zu unterstellen, dass der Kläger seine Homosexualität bei einer Rückkehr nach Gambia offen ausleben würde.
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Dass der Kläger die Verfolgung durch ein heimliches Ausleben seiner Homosexualität, durch Zurückhaltung oder gar Verzicht auf ein Sexualleben vermeiden könnte, ist unerheblich. Der Wortlaut der Richtlinie 2011/95/EU differenziert nicht zwischen heimlichen und nicht verheimlichten Verhaltensweisen. Maßgebend ist allein das identitätsprägende Merkmal als solches. Die betreffende Verhaltensweise muss für die Identität des Betroffenen bedeutend und besonders wichtig sein. Bei einer anderen Auslegung würden die Ziele, die mit der Richtlinie 2011/95/EU sowie der Genfer Flüchtlingskonvention erreicht werden sollen, von vornherein in Frage gestellt. Eine Verfolgung bleibt nämlich auch dann eine Verfolgung, wenn der Betroffene nach Rückkehr in sein Herkunftsland die Möglichkeit hat, sich bei der Ausübung seiner Rechte und Freiheiten diskret zu verhalten, indem er seine Sexualität und seine politischen Ansichten sowie seine Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft verheimlicht oder davon Abstand nimmt, nach seiner sexuellen Ausrichtung zu leben. Zu prüfen ist daher, wie sich der Schutzsuchende bei seiner Rückkehr im Hinblick auf seine sexuelle Ausrichtung verhalten wird und wie wichtig diese Verhaltensweise für seine Identität ist (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 07.03.2013 - A 9 S 1872/12 - a. a. O. Rn. 48 f.; vgl. EuGH, Urteil vom 07.11.2013 a. a. O. Rn. 70 ff.; BVerfG, Beschluss vom 22.01.2020 a. a. O. Rn. 19). Nicht jeder Mann, dessen sexuelle Identität einen homosexuellen Aspekt aufweist, ist damit unterschiedslos mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit als von Verfolgung bedroht anzusehen, sondern - in Abwesenheit einer Vorverfolgung - nur derjenige Betroffene, dessen Homosexualität so bedeutsam für seine Identität ist, dass er nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten (vgl. § 3b Abs. 1 Nr. 4 Buchst. a AsylG). Daher bedarf es in jedem Einzelfall, in dem ein Asylbewerber aus Gambia geltend macht, er werde wegen seiner sexuellen Ausrichtung verfolgt, einer Gesamtwürdigung seiner Person und seines gesellschaftlichen Lebens und darauf aufbauend einer individuellen Gefahrenprognose (vgl. insoweit auch VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 07.03.2013 - A 9 S 1873/12 - a. a. O. Rn. 120). Von einer begründeten Furcht vor Verfolgung wäre beispielsweise nicht auszugehen, wenn der Asylbewerber aus anderen Gründen als der Furcht vor Verfolgung seine Homosexualität bei einer Rückkehr nach Gambia nicht offen ausleben würde, sie also nicht im oben genannten Sinne identitätsprägend wäre (vgl. insoweit VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 26.10.2016 a. a. O. Rn. 51).
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Zur Überzeugung des Senats steht fest, dass es ein bedeutsamer Bestandteil der sexuellen Identität des Klägers ist, seine Homosexualität offen auszuleben. Er hat dies in der Berufungsverhandlung gegenüber dem Senat nicht nur durch seine - überzeugende - Beschreibung der Bedeutung, die seine Sexualität für ihn hat, zum Ausdruck gebracht, sondern auch eindringlich seine in Gambia vor der Ausreise bestehende und allgegenwärtige Furcht davor geschildert, dass der Verdacht seines Umfelds bezüglich seiner sexuellen Identität durch Aufdeckung seiner heimlichen Aktivitäten zu einer potentiell „tödlichen“ Gewissheit werden könnte.
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c) Der Kläger kann zur Überzeugung des Senats gegen eine solche Verfolgung weder staatlichen Schutz gemäß § 3d AsylG in Anspruch nehmen (aa), noch sich der Verfolgung durch Niederlassung in einem anderen Landesteil entziehen, in dem er vor Verfolgung gemäß § 3e AsylG sicher ist (bb).
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aa) Verfolgung kann gemäß § 3c Nr. 3 AsylG von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, wenn weder der Staat noch Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, willens und in der Lage sind, Schutz zu bieten. Nach § 3d Abs. 2 Satz 1 AsylG muss dieser Schutz vor Verfolgung wirksam und nicht nur vorübergehender Art sein. Generell ist ein solcher Schutz gemäß § 3d Abs. 2 Satz 2 AsylG gewährleistet, wenn die genannten Akteure geeignete Schritte einleiten, um die Verfolgung zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung darstellen, und wenn der Ausländer Zugang zu diesem Schutz hat. Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt.
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Schon das strafrechtliche Verbot homosexueller Akte spricht stark für die Vermutung, dass der gambische Staat nicht willens ist, von Diskriminierung, Bedrohung oder Gewalt betroffene homosexuelle Menschen wirksam zu schützen. Vor allem aber lässt die gegenwärtige Haltung der Regierung erkennen, dass sie nicht bereit ist, sich dem wachsenden Druck der religiösen Führer, der Medien und der Bevölkerung entgegenzustellen und zum Schutz homosexueller Menschen tätig zu werden, indem Polizeibehörden entsprechend instruiert werden. Dass die Polizei von sich aus nicht nur in Einzelfällen, sondern generell zum Schutz von homosexuellen Personen gegen Übergriffe aus der Bevölkerung einschreitet, ist deshalb nicht zu erwarten.
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Auch die zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel sprechen gegen eine polizeiliche Schutzgewähr für homosexuelle Männer. Allgemein vertrauen die Gambier der Polizei nicht. Sie sind der Ansicht, dass dort die korruptesten Beamten beschäftigt sind (Schweizerisches Staatssekretariat Migration, Focus Gambie Situation des personnes LGB en Gambie vom 21.05.2021, S. 13). Dies gilt in besonderem Maß für die hier in den Blick genommenen homosexuellen Männer. Normalerweise gehen von Übergriffen betroffene homosexuelle Männer nicht zur Polizei, weil sie die berechtigte Angst haben, von der Polizei diskriminiert oder verachtet zu werden, anstatt Hilfe zu bekommen (Sanna Camara, Gefangen in Freiheit: Das Schicksal von LGBTQ in Gambia, in: Flüchtlingsrat Baden-Württemberg e. V., Ist Gambia sicher? vom 01.01.2019, S. 34 f.). Ein Wissenschaftler der Harvard University berichtete dem Schweizerischen Staatssekretariat Migration von einem Vorfall, bei dem Menschen wegen ihrer sexuellen Orientierung von einer Gruppe von Nachbarn angegriffen wurden und sich in eine Polizeiwache flüchteten; dort seien sie gezwungen worden, Beamte zu bestechen, um einer Verhaftung zu entgehen (Schweizerisches Staatssekretariat Migration, Focus Gambie Situation des personnes LGB en Gambie vom 21.05.2021, S. 13).
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Auch von anderen staatlichen Stellen ist ein wirksamer Schutz nicht zu erlangen. Homosexuelle Personen können sich zwar grundsätzlich an die National Human Rights Commission wenden. Das Schweizerische Staatssekretariat Migration weist insoweit zutreffend darauf hin, dass die Kommission die Regierung im Juni 2020 aufforderte, die Menschenrechte von unter anderem homosexuellen Personen in Gambia besser zu schützen (vgl. Schweizerisches Staatssekretariat Migration, Focus Gambie Situation des personnes LGB en Gambie vom 21.05.2021, S. 14). Allerdings darf in diesem Zusammenhang nicht unberücksichtigt bleiben, dass die Forderungen eine heftige Diskussion in der gambischen Bevölkerung ausgelöst haben, die ein Mitglied der Kommission veranlasst hat, sich von den Forderungen der Kommission sogleich wieder zu distanzieren, und die gambische Regierung sich genötigt sah, eindeutig gegen eine Entkriminalisierung homosexueller Handlungen Position zu beziehen, was sie vorher vermieden hatte. Die staatliche National Human Rights Commission kann dessen ungeachtet homosexuellen Menschen, die Opfer von Verfolgung geworden oder davon bedroht sind, ohne Unterstützung anderer staatlicher Stellen auch deshalb keinen wirksamen Schutz bieten, weil sie nicht über Befugnisse verfügt, die es ihr erlauben würden, in Anbetracht der entgegenstehenden Gesetzeslage auf andere Behörden einzuwirken (vgl. zu den Befugnissen der Kommission https://www.gm-nhrc.org/about-nhrc, „Powers of the Commission“, zuletzt abgerufen am 06.07.2022).
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bb) Der Kläger kann nicht darauf verwiesen werden, internen Schutz nach § 3e AsylG in Anspruch zu nehmen, da eine interne Schutzmöglichkeit für ihn nicht besteht.
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Einem Ausländer wird gemäß § 3e Abs. 1 AsylG die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt. Diese Voraussetzungen sind für den Kläger in Gambia nicht erfüllt. Relevante regionale Unterschiede hinsichtlich der Situation Homosexueller in Gambia sind nicht ersichtlich. Personen, die erkennbar homosexuell sind, können dort angesichts der im ganzen Land verbreiteten Homophobie an keinem Ort sicher leben (vgl. auch VG Karlsruhe, Urteil vom 12.05.2021 a. a. O. Rn. 58; VG Freiburg, Urteil vom 09.12.2020 a. a. O. Rn. 76).
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d) Umstände, die die Flüchtlingseigenschaft des Klägers von vornherein ausschlössen (§ 3 Abs. 2 oder 3 AsylG), sind nicht ersichtlich.
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2. Das Vorliegen von in § 3 Abs. 4 AsylG genannten Ausschlussgründen für die Zuerkennung des Schutzstatus ist nicht erkennbar.
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3. Neben der Ziffer 2 des angegriffenen Bescheids waren auch dessen Ziffern 4 und 5 (a) sowie 6 und 7 (b) aufzuheben.
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a) Soweit in dem angegriffenen Bescheid die Zuerkennung des subsidiären Schutzes und die Feststellung des Vorliegens von Abschiebungsverboten abgelehnt wird, ist der Bescheid ebenfalls aufzuheben, da er insoweit gegenstandslos ist (Heusch in Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, Stand: 01.04.2022, § 31 AsylG Rn. 24 m. w. N.).
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b) Die Voraussetzungen für den Erlass einer Abschiebungsandrohung (§ 34 Abs. 1 AsylG) mit Ausreisefrist (§ 38 AsylG) und eines Einreise- und Aufenthaltsverbots (§ 11 Abs. 1 AufenthG) liegen angesichts der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht vor, sodass der Bescheid auch insoweit aufzuheben ist.
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IV. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei.
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V. Gründe, die Revision zuzulassen (§ 132 Abs. 2 VwGO), liegen nicht vor.

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