Beschluss vom Bundesfinanzhof (10. Senat) - X B 144/10

Tatbestand

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I. Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) richtet sich gegen ein Urteil, mit dem das Finanzgericht (FG) eine Klage gegen die Festsetzung von Aussetzungszinsen nach §§ 237 Abs. 1 und 2, 238, 239 der Abgabenordnung (AO) abgewiesen hat. Die Kläger begründen ihre Beschwerde im Wesentlichen damit, die Festsetzung von Aussetzungszinsen komme nach dem gesetzgeberischen Willen nicht in Betracht, wenn allein durch Verschulden und willkürliches Verhalten des Beklagten und Beschwerdegegners (Finanzamt --FA--) die Kläger in dem der Aussetzung der Vollziehung zu Grunde liegenden Verfahren nicht hätten obsiegen können. Weiter rügen sie Verfahrensmängel, namentlich die Verweigerung der Beiziehung bestimmter Akten und der Gewährung von Akteneinsicht sowie das Übergehen von Beweisangeboten.

Entscheidungsgründe

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II. Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Sie ist jedenfalls unbegründet, soweit sie sich gegen die Festsetzung der Aussetzungszinsen an sich wendet (unten 1.); im Übrigen ist sie unzulässig, da sie nicht den Darlegungserfordernissen des § 116 Abs. 3 Satz 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) genügt (unten 2. und 3.).

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1. Die Zulassung der Revision ist nicht zur Sicherung der Rechtseinheit (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 FGO) geboten.

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a) Zwar ist die Revision gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 FGO auch dann zuzulassen, wenn ein Rechtsfehler des FG zu einer "greifbar gesetzwidrigen" Entscheidung geführt hat. Voraussetzung hierfür ist, dass die Entscheidung des FG in einem solchen Maße fehlerhaft ist, dass das Vertrauen in die Rechtsprechung nur durch eine höchstrichterliche Korrektur der finanzgerichtlichen Entscheidung wiederhergestellt werden könnte (ständige Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs --BFH--, z.B. Beschluss vom 17. März 2010 X B 118/09, BFH/NV 2010, 1277, m.w.N.). Diese Voraussetzung kann etwa dann vorliegen, wenn das FG eine offensichtlich einschlägige entscheidungserhebliche Vorschrift übersehen hat (vgl. BFH-Beschluss vom 28. Juli 2003 V B 72/02, BFH/NV 2003, 1597), wenn das Urteil jeglicher gesetzlichen Grundlage entbehrt oder wenn es auf einer offensichtlich Wortlaut und Gesetzeszweck widersprechenden Gesetzesauslegung beruht (vgl. BFH-Beschluss vom 8. Februar 2006 III B 128/04, BFH/NV 2006, 1116). Unterhalb dieser Schwelle liegende (auch erhebliche) Rechtsfehler reichen dagegen nicht aus, um eine greifbare Gesetzwidrigkeit bzw. eine Willkürlichkeit der angefochtenen Entscheidung anzunehmen (vgl. BFH-Beschluss vom 7. Juli 2005 IX B 13/05, BFH/NV 2005, 2031). Fehler in der Anwendung des materiellen Rechts im konkreten Einzelfall rechtfertigen für sich genommen nicht die Zulassung der Revision (z.B. Senatsbeschluss vom 4. August 2010 X B 198/09, BFH/NV 2010, 2102; Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 115 Rz 24 und § 116 Rz 34, jeweils m.w.N.).

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b) Im Streitfall liegt kein Rechtsfehler vor, erst recht kein zu greifbarer Gesetzwidrigkeit führender Fehler.

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Die Kläger machen sinngemäß geltend, die Festsetzung der Aussetzungszinsen entspreche im vorliegenden Fall nicht dem gesetzgeberischen Willen. Die Vorschrift des § 237 Abs. 1 und 2 AO sehe als Lebenssachverhalt einen "normalen" Ablauf vor. Daran fehle es, wenn durch die willkürliche Wegnahme von Unterlagen der Kläger durch das FA sowie die Verweigerung der Herausgabe dieser Akten --also durch schuldhaftes Verhalten der Behörde-- den Klägern die Möglichkeit genommen werde, im Verfahren vor dem FG zu obsiegen.

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Diese Auffassung trifft nicht zu. Die Festsetzung der Aussetzungszinsen gemäß §§ 237 Abs. 1 und 2, 238, 239 AO ist auch im vorliegenden Fall von dem den Normen zu Grunde liegenden gesetzgeberischen Willen gedeckt; Fehler in der Anwendung des materiellen Rechts sind nicht erkennbar.

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Dem Steuerpflichtigen sollen durch § 237 Abs. 1 und 2 AO die Zinsvorteile aus der --wie im Nachhinein festgestellt-- unberechtigt in Anspruch genommenen Aussetzung der Vollziehung genommen werden (grundlegend z.B. Senatsurteil vom 22. Mai 2007 X R 26/05, BFH/NV 2007, 1817; Heuermann in Hübschmann/Hepp/ Spitaler --HHSp--, § 237 AO Rz 6). Damit ist es grundsätzlich ohne Bedeutung, aus welchem Grund ein Hauptsacheantrag auf Herabsetzung der festgesetzten Steuer endgültig erfolglos bleibt (vgl. Senatsurteil vom 27. November 1991 X R 103/89, BFHE 166, 311, BStBl II 1992, 319). Der Steuerpflichtige hat es überdies in der Hand, die erfolgte Aussetzung der Vollziehung in Anspruch zu nehmen und vorläufig von einer Begleichung der Steuerschuld abzusehen oder --trotz gewährter Aussetzung der Vollziehung-- den Zinslauf jederzeit durch Zahlung zu beenden (vgl. Senatsurteil in BFHE 166, 311, BStBl II 1992, 319; Heuermann in HHSp, § 237 AO Rz 36). Einwände gegen Verfahrensweisen und -handlungen des FA sind mit Rechtsbehelfen gegen diese Maßnahmen oder, wenn solche nicht zur Verfügung stehen, im Rahmen des jeweiligen Rechtsbehelfs gegen die diesen Maßnahmen folgenden Verwaltungsentscheidungen zu treffen. Ist darüber allerdings rechtskräftig entschieden --wie hier über die Festsetzung der den Aussetzungszinsen zu Grunde liegenden Steuern--, so ist damit auch über diese Einwände abschließend entschieden.

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2. Die geltend gemachten Verfahrensmängel haben die Kläger nicht --den Anforderungen des § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO entsprechend-- schlüssig gerügt.

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Die Darlegung eines Verfahrensmangels erfordert nach § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO die genaue Angabe der Tatsachen, aus denen sich der gerügte Verfahrensverstoß schlüssig ergibt. Darüber hinaus ist --außer bei den absoluten Revisionsgründen gemäß § 119 FGO-- darzulegen, dass --ausgehend von der sachlich-rechtlichen Auffassung der Vorinstanz-- die angefochtene Entscheidung auf dem geltend gemachten Verfahrensmangel beruhen kann (z.B. Senatsbeschluss vom 30. Juli 2002 X B 40/02, BFH/NV 2003, 56; vgl. Gräber/Ruban, a.a.O., § 116 Rz 48 f. und § 120 Rz 66 f., m.w.N.). An diesen Darlegungen fehlt es. Ob die Kläger überdies ihr Rügerecht entsprechend §§ 155 FGO, 295 der Zivilprozessordnung verloren haben, kann aus diesem Grunde dahinstehen.

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a) Soweit die Kläger sinngemäß rügen, das FG habe verschiedene Akten nicht beigezogen und dadurch den Klägern das Recht auf Gehör (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes, § 96 Abs. 2, § 119 Nr. 3 FGO) dadurch verwehrt, dass diese zur Stützung ihrer Rechtsauffassung insoweit nichts haben vorbringen können, haben sie nicht dargestellt, inwiefern die Entscheidung des FG --auf der Grundlage dessen materiell-rechtlicher Auffassung-- im Falle der begehrten Aktenbeiziehung anders hätte ausfallen können (Senatsbeschluss vom 1. August 2005 X B 24/05, BFH/NV 2005, 2222). Abgesehen davon wäre die unterlassene Beiziehung von Akten keine Verletzung rechtlichen Gehörs, sondern eine Verletzung der aus § 76 FGO folgenden Sachaufklärungspflicht, zu deren Darlegung allerdings ebenfalls gehört, was das FG von Amts wegen hätte aufklären sollen und warum dies zu einem anderen Ergebnis geführt hätte.

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Ergänzend weist der Senat darauf hin, dass die pauschale Bezugnahme auf den Vortrag im Klageverfahren grundsätzlich dem Zweck des Begründungszwangs bei der Nichtzulassungsbeschwerde nicht gerecht wird, den BFH davon zu entlasten, selbst das Vorliegen etwaiger Zulassungsgründe gemäß § 115 Abs. 2 FGO anhand der Akten ermitteln zu müssen (vgl. BFH-Beschluss vom 26. Januar 1995 III B 52/93, BFH/NV 1995, 709, m.w.N.; vgl. Gräber/Ruban, a.a.O., § 116 Rz 27).

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b) Ebenso unschlüssig ist die von den Klägern erhobene Rüge, das FG habe ihnen keine Akteneinsicht gewährt und damit ihnen die Möglichkeit zur rechtlichen Stellungnahme genommen, womit das FG ihnen das Recht auf Gehör versagt habe.

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Der Anspruch auf rechtliches Gehör wird für das finanzgerichtliche Verfahren u.a. dadurch verwirklicht, dass die Prozessbeteiligten das Recht haben, die Gerichtsakten und die dem Gericht vorgelegten Akten (insbesondere der beklagten Behörde) einzusehen (§ 78 FGO). Damit wird gewährleistet, dass die Beteiligten zu den in den vorgelegten und beigezogenen Akten enthaltenen Tatsachen Stellung nehmen können, bevor sie das Gericht zur Grundlage seiner Entscheidung macht. Falls das Gericht die Akteneinsicht zu Unrecht verweigert, gleichwohl aber die Akten auswertet, liegt ein Verfahrensfehler vor (vgl. Senatsbeschlüsse in BFH/NV 2005, 2222, und vom 11. November 2008 X B 190/07, BFH/NV 2009, 198, m.w.N.).

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Die schlüssige Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs --hier durch die (angebliche) Versagung der begehrten Akteneinsicht-- setzt nach ständiger Rechtsprechung des BFH insbesondere die substantiierte Darlegung des Beschwerdeführers voraus, was er bei rechtzeitiger Gewährung der Akteneinsicht noch vorgetragen hätte und dass dies die Entscheidung des FG --auf der Basis der von diesem vertretenen Rechtsauffassung-- hätte beeinflussen können (z.B. Senatsbeschlüsse in BFH/NV 2005, 2222, und in BFH/NV 2009, 198; vgl. Gräber/Ruban, a.a.O., § 119 Rz 12, m.w.N.). An einem dahingehenden Vortrag mangelt es im Streitfall.

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c) Soweit darüber hinaus sinngemäß das Übergehen von Beweisantritten als Verstoß gegen die Sachaufklärungspflicht gemäß § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO gerügt wird, fehlt es ebenso an einer dem § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO entsprechenden hinreichenden Darlegung des Verfahrensmangels.

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Wird das Übergehen von Beweisanträgen gerügt, so muss neben dem Beweisthema und dem angebotenen Beweismittel insbesondere substantiiert vorgetragen werden, inwiefern das Urteil des FG auf der unterlassenen Beweiserhebung beruhen kann und welches Ergebnis die Beweisaufnahme voraussichtlich ergeben hätte (z.B. BFH-Beschluss vom 9. Dezember 1998 VIII B 54/97, BFH/NV 1999, 802, m.w.N.). An einem solchen Vortrag fehlt es ebenso.

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d) Sollten die Kläger mit ihrem Vorbringen Verfahrensmängel des FA rügen, können sie damit im vorliegenden Verfahren grundsätzlich nicht gehört werden. Verfahrensmängel i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO sind Verstöße des FG gegen Vorschriften des Gerichtsverfahrensrechts; Fehler des FA im Besteuerungsverfahren oder im außergerichtlichen Vorverfahren fallen grundsätzlich nicht darunter (z.B. BFH-Beschlüsse vom 9. Mai 2007 IX B 218/06, BFH/NV 2007, 1526, und vom 22. Oktober 1994 V B 40/94, BFH/NV 1995, 610; vgl. Gräber/Ruban, a.a.O., § 115 Rz 77). Die fehlerhafte Beurteilung von Vorschriften der Abgabenordnung und anderer das Besteuerungsverfahren regelnder Vorschriften sind deshalb aus der Sicht der Revisionsinstanz keine Verfahrens-, sondern lediglich materiell-rechtliche Mängel (Gräber/Ruban, a.a.O., § 115 Rz 77; vgl. z.B. BFH-Beschluss vom 25. Januar 2006 VIII B 45/05, BFH/NV 2006, 961).

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3. Wenn die Kläger mit ihrem Vorbringen, dass "die Interpretation der Bestimmungen über die Aussetzungszinsen in der Form, dass es auch bei staatlicher Willkür, die mit dem Grundgesetz nicht vereinbar ist, keine Ausnahme von Aussetzungszinsen gibt", die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO geltend machen wollen, genügt auch das den Anforderungen des § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO nicht. Diese Regelung erfordert hinsichtlich des Zulassungsgrundes des § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO, dass die Kläger eine bestimmte, für die Entscheidung des Streitfalles erhebliche Rechtsfrage herausstellen und substantiiert darauf eingehen, inwieweit diese Rechtsfrage im allgemeinen Interesse an einer einheitlichen Entwicklung und Handhabung des Rechts der höchstrichterlichen Klärung bedarf (ständige Rechtsprechung, z.B. Senatsbeschluss vom 7. Juni 2011 X B 212/10, nicht veröffentlicht, juris). Entsprechende Angaben sind nicht vorhanden.

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