Beschluss vom Bundesgerichtshof (2. Zivilsenat) - II ZB 11/14

Tenor

Die Rechtsbeschwerde des Musterklägers gegen den Beschluss des 17. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 17. März 2014 wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens trägt der Musterkläger.

Der Streitwert des Rechtsbeschwerdeverfahrens wird auf 10.000 € festgesetzt.

Gründe

A.

1

Der Musterkläger macht als Aktionär der Musterbeklagten zu 1 Schadensersatzansprüche wegen der Verbreitung fehlerhafter Kennzahlen aus Jahresabschlüssen geltend. Die Musterbeklagte zu 1, die M.  AG, ist die Holding der M. -Gruppe. Der Musterbeklagte zu 2 war Mitglied, zeitweise auch Vorsitzender des Vorstands der Musterbeklagten zu 1.

2

Beim Landgericht sind mehrere vergleichbare Verfahren gegen die Musterbeklagten anhängig. Dem zugrunde liegt die bilanzielle Behandlung der Erträge aus Factoring- und Rückversicherungsgeschäften bei zwei Tochtergesellschaften.

3

Das Landgericht hat auf die von dem Musterkläger und 31 Beigeladenen gestellten Anträge durch Vorlagebeschluss vom 30. Dezember 2008 eine Entscheidung des Oberlandesgerichts nach dem Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz herbeigeführt. Nach Beweisaufnahme durch Sachverständigengutachten hat das Oberlandesgericht aufgrund mündlicher Verhandlung vom 24. September 2012, in der es u.a. rechtliche Hinweise zur Reichweite des Vorlagebeschlusses erteilt, beiden Seiten die Möglichkeit zur Stellungnahme bis zum 29. Oktober 2012 eingeräumt und Verkündungstermin auf den 16. November 2012 bestimmt hatte, den Feststellungsanträgen mit Musterentscheid vom 16. November 2012 (OLG Karlsruhe – 17 Kap 1/09, BeckRS 2012, 23479) teilweise stattgegeben und sie im Übrigen zurückgewiesen.

4

Die gegen die Zurückweisung der weitergehenden Anträge gerichtete Rechtsbeschwerde des Musterklägers und weiterer Beigeladener hat der Senat mit Beschluss vom 1. Juli 2014 (II ZB 29/12, ZIP 2014, 2074) zurückgewiesen.

5

Am 15. November 2012 - einen Tag vor Verkündung des Musterentscheids des Oberlandesgerichts am 16. November 2012 - hat der Musterkläger beim Landgericht beantragt, den Vorlagebeschluss zu ergänzen. Das Landgericht hat den Antrag als unzulässig zurückgewiesen und unter anderem ausgeführt, dass er nicht „bis zum Abschluss des Musterverfahrens“ im Sinne des § 13 Abs. 1 KapMuG in der bis zum 31. Oktober 2012 geltenden Fassung (im Folgenden: KapMuG aF) gestellt worden sei, denn darunter sei der Schluss der mündlichen Verhandlung zu verstehen; jedenfalls hätte er innerhalb der vom Oberlandesgericht gesetzten Frist bis zum 29. Oktober 2012 gestellt werden müssen.

6

Der hiergegen gerichteten sofortigen Beschwerde des Musterklägers hat das Landgericht nicht abgeholfen und die Sache dem Oberlandesgericht vorgelegt. Dieses hat die sofortige Beschwerde als unbegründet zurückgewiesen.

B.

7

Das Oberlandesgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung im Wesentlichen ausgeführt:

8

Die sofortige Beschwerde sei zulässig, insbesondere statthaft. Zwar sei sie in § 13 KapMuG aF nicht ausdrücklich genannt. Ihre Statthaftigkeit ergebe sich aber aus § 3 Abs. 1 EGZPO i.V.m. § 567 Abs. 1 Nr. 2 ZPO.

9

Die sofortige Beschwerde sei jedoch unbegründet, da das Landgericht den ergänzenden Musterfeststellungsantrag des Musterklägers zu Recht als verspätet und damit als unzulässig angesehen habe. Die in § 13 Abs. 1 KapMuG aF vorgesehene zeitliche Begrenzung „bis zum Abschluss des Musterverfahrens“ sei zwar dem Wortlaut nach mehrdeutig, aber dahingehend auszulegen, dass eine Ergänzung nur bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung möglich sei.

10

Für seine der Auffassung des Landgerichts entsprechende Auslegung hat das Oberlandesgericht unter anderem darauf abgehoben, dass das Musterverfahren gemäß § 9 Abs. 1 Satz 1 KapMuG aF im Grundsatz ein den Regelungen der Zivilprozessordnung unterworfenes Verfahren sei. Ergänzende Musterfeststellungsanträge seien wie Sachanträge im Sinne von § 261 Abs. 2, § 297 ZPO in der letzten mündlichen Verhandlung, spätestens jedoch innerhalb einer vom Gericht nach § 139 Abs. 5 ZPO nachgelassenen Schriftsatzfrist zu stellen. Auch das Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz messe der mündlichen Verhandlung eine entscheidende Bedeutung bei, denn das Oberlandesgericht erlasse den Musterentscheid gemäß § 14 Abs. 1 Satz 1 KapMuG aF aufgrund mündlicher Verhandlung. Außerdem belegten sowohl die - von Landgericht und Oberlandesgericht näher dargestellte - Entstehungsgeschichte des § 13 KapMuG aF als auch die Gesetzesbegründung zur Novellierung des Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes diese Sichtweise.

11

Schließlich entspreche dies auch Sinn und Zweck des Musterverfahrens. Zwar sei es richtig, dass das Musterverfahren zu einer möglichst umfassenden Klärung von Fragestellungen führen solle, weshalb es wegen der Sperrwirkung des § 5 KapMuG aF gerade die Möglichkeit gebe, dem Oberlandesgericht durch Erweiterung des Vorlagebeschlusses weitere klärungsbedürftige Fragen vorzulegen. Vor allem aber sei grundsätzlicher Zweck des Musterverfahrens, den Rechtsschutz des Einzelnen in sog. „Streuschadenfällen“ effektiver zu gestalten und hierfür die Interessen zu bündeln. Die Gewährung effektiven Rechtsschutzes verlange aber eine besondere Beachtung der Beschleunigungs- und Konzentrationsgrundsätze der Zivilprozessordnung. Eine Zulassung von Ergänzungsanträgen bis - so der Musterkläger im Beschwerdeverfahren - eine Minute vor dem Verkündungstermin oder sogar bis zum Eintritt der Rechtskraft des Musterentscheids eröffne dagegen die Möglichkeit, das Verfahren bis zur Grenze der Prozessverschleppung (§ 1 Abs. 3 Nr. 2 KapMuG aF) zu verzögern. Die Pflicht zur Prozessförderung treffe auch die Parteien, weshalb etwaige Ergänzungsanträge bis zu dem Zeitpunkt, der Grundlage der Entscheidungsfindung des Gerichts sei, gestellt werden müssten.

C.

12

Die Rechtsbeschwerde ist zulässig.

13

I. Nach § 27 des Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes in der seit dem 1. November 2012 geltenden Fassung (BGBl. I, S. 2182; im Folgenden: KapMuG nF) ist auf das vorliegende Rechtsbeschwerdeverfahren das Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz in seiner bis zum 1. November 2012 geltenden Fassung anzuwenden, weil vor dem 1. November 2012 mündlich verhandelt worden ist. Der Antrag auf Erweiterung des Gegenstands des ursprünglichen Musterverfahrens stellt keinen neuen Musterverfahrensantrag dar.

14

II. Die Rechtsbeschwerde ist statthaft. Zwar findet § 15 Abs. 1 KapMuG aF keine Anwendung; das Oberlandesgericht hat die Rechtsbeschwerde aber gemäß § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 ZPO, der über § 3 Abs. 1 EGZPO anwendbar ist, zugelassen. Hieran ist der Senat gemäß § 574 Abs. 3 Satz 2 ZPO gebunden. Dass nach § 13 Abs. 2 KapMuG aF Erweiterungen eines Vorlagebeschlusses unanfechtbar sind, führt nicht auch zur Unanfechtbarkeit von die Erweiterung ablehnenden Beschlüssen (ähnlich bei Zurückweisung eines Musterfeststellungsantrags gemäß § 4 Abs. 4 KapMuG aF BGH, Beschluss vom 21. April 2008 - II ZB 6/07, BGHZ 176, 170 Rn. 4; Reuschle in KK-KapMuG, 1. Aufl., § 13 Rn. 15, 23; Möllers/Weichert, NJW 2005, 2737, 2739; a.A. Fullenkamp in Vorwerk/Wolf, KapMuG, 2007, § 13 Rn. 10 und § 4 Rn. 36).

D.

15

Die Rechtsbeschwerde ist jedoch unbegründet.

16

Zu Recht haben Land- und Oberlandesgericht angenommen, dass die Parteien den Gegenstand des Musterverfahrens nur bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung im Sinne von § 14 Abs. 1 Satz 1 KapMuG aF erweitern können. Zwar ist die in § 13 Abs. 1 KapMuG aF enthaltene Bestimmung, dass ergänzende Musterfeststellungsanträge „bis zum Abschluss des Musterverfahrens“ gestellt werden müssten, ihrem Wortlaut nach nicht eindeutig. Für diese Auslegung sprechen aber die Gesetzesmaterialien, der systematische Zusammenhang und der Sinn und Zweck des § 13 Abs. 1 KapMuG aF.

17

1. Die Begründung zum Regierungsentwurf des Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes aF geht ausdrücklich davon aus, dass Erweiterungen des Verfahrensgegenstands des Musterverfahrens nur bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung möglich seien (BT-Drucks. 15/5091, S. 28). Es ist nichts dafür ersichtlich, dass der Gesetzgeber diese Vorstellung mit der Übernahme der dem Wortlaut des § 13 Abs. 1 KapMuG aF entsprechenden Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses (vgl. BT-Drucks. 15/5695, S. 11, 24) aufgegeben hätte. Der Begründung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses zu § 13 KapMuG aF lässt sich kein Anhaltspunkt dafür entnehmen, dass gegenüber der Fassung des Regierungsentwurfs eine Änderung bezüglich des maßgebenden Zeitpunkts erfolgen sollte.

18

Dieser Befund wird bestätigt durch die Gesetzesbegründung zur Neufassung des § 15 KapMuG, der die Wendung „bis zum Abschluss des Musterverfahrens“ nicht mehr enthält. Darin wird ausgeführt, dass Erweiterungsanträge vor dem Schluss der mündlichen Verhandlung zu stellen seien und allenfalls eine Wiedereröffnung nach § 156 ZPO in Betracht komme (BT-Drucks. 17/8799, S. 23). Hätte dies aus Sicht des Gesetzgebers eine Änderung oder jedenfalls eine Klarstellung gegenüber § 13 KapMuG aF bedeutet, so wäre zu erwarten gewesen, dass sich in der Gesetzesbegründung eine ausdrückliche Erwähnung finden würde, was aber - im Gegensatz zu anderen dort angesprochenen Punkten wie der Verlagerung der Entscheidungskompetenz auf das Oberlandesgericht und der Streichung des Begriffs „Gegenstand des Musterverfahrens“ - gerade nicht der Fall ist.

19

Demgegenüber spricht nichts für die Auffassung des Musterklägers, dass der Gesetzgeber mit der Formulierung „bis zum Abschluss des Musterverfahrens“ den Zeitpunkt des Erlasses des Musterentscheids gemeint haben könnte oder sogar erst den des Eintritts der Rechtskraft. Nach den Vorschriften der Zivilprozessordnung ist die Erhebung einer neuen Klageforderung oder einer Klageerweiterung durch einen nach Schluss der mündlichen Verhandlung eingereichten Schriftsatz unzulässig, weil Sachanträge spätestens in der letzten mündlichen Verhandlung gestellt werden müssen (vgl. nur BGH, Beschluss vom 19. März 2009 - IX ZB 152/08 Rn. 8, NJW-RR 2009, 853 Rn. 8 mwN). Allenfalls können sie zu einer Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung gemäß § 156 ZPO führen. Hätte der Gesetzgeber von diesen allgemein anerkannten Grundsätzen abweichen wollen, obwohl er noch in der Begründung des Regierungsentwurfs eben hiervon ausgegangen war, wären entsprechende Ausführungen zu erwarten gewesen.

20

2. Auch die in § 9 KapMuG aF angeordnete Anwendung der im ersten Rechtszug für das Verfahren vor den Landgerichten geltenden Vorschriften der Zivilprozessordnung stützt diese Auslegung des § 13 KapMuG aF. So ist eine Klageänderung im Sinne von § 263 ZPO nach Schluss der mündlichen Verhandlung vorbehaltlich einer Wiedereröffnung gemäß § 156 ZPO grundsätzlich ausgeschlossen. Zwar lassen sich die Begrifflichkeiten der Zivilprozessordnung nicht ohne weiteres auf das Verfahren nach dem Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz übertragen. Auch sollte § 13 KapMuG aF nach der Vorstellung des Gesetzgebers gerade eine Spezialvorschrift zu § 263 ZPO sein (BT-Drucks. 15/5091, S. 28). Gleichwohl zeigt schon die ausdrückliche Erwähnung des § 263 ZPO in der Begründung des Regierungsentwurfs, dass ein Vergleich der Erweiterung des Gegenstands des Musterverfahrens gemäß § 13 KapMuG aF mit einer Klageänderung im Sinne von § 263 ZPO jedenfalls nahe liegt.

21

Entgegen der Auffassung des Rechtsbeschwerdeführers spricht auch die Sperrwirkung des § 5 KapMuG aF für kein anderes Ergebnis. Zwar ist es richtig, dass die Einleitung eines weiteren Musterverfahrens in allen gemäß § 7 KapMuG aF auszusetzenden Verfahren mit Erlass des Vorlagebeschlusses unzulässig ist (so auch weiterhin §§ 7 f. KapMuG nF). Hieraus lässt sich aber auch unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten - mit Blick auf die Gebote der Gewährung effektiven Rechtsschutzes und rechtlichen Gehörs - nicht schließen, dass mit dem Begriff „Abschluss des Musterverfahrens“ im Sinne von § 13 KapMuG aF der Eintritt der Bindungswirkung gemäß § 16 KapMuG aF gemeint sein müsse, um es den Parteien zu ermöglichen, bis dahin - unter Umständen also sogar während eines laufenden Rechtsbeschwerdeverfahrens gegen den Musterentscheid - eine Erweiterung des Gegenstands des Musterverfahrens zu erwirken. Denn eine Einführung neuer Gesichtspunkte in die Ausgangsverfahren bleibt vorbehaltlich der dort anzuwendenden Präklusionsvorschriften grundsätzlich ebenso möglich wie die Erhebung einer neuen Klage im Falle einer beabsichtigten, aber nach Schluss der mündlichen Verhandlung grundsätzlich ausgeschlossenen Klageänderung.

22

3. Im Übrigen widerspräche - bei unterstellter Möglichkeit der Erweiterung des Musterverfahrens noch nach Schluss der mündlichen Verhandlung - der Erlass eines Teilmusterentscheids entgegen der Auffassung des Musterklägers Sinn und Zweck des Musterverfahrens. Das Ziel des Musterverfahrens, den Rechtsschutz des Einzelnen in sog. „Streuschadenfällen“ effektiver zu gestalten, würde konterkariert, wenn ein Teil des Musterverfahrens noch beim Oberlandesgericht und ein anderer Teil bereits beim Bundesgerichtshof anhängig wäre. Selbst bei Eintritt der - dann nur teilweisen - Bindungswirkung gemäß § 16 KapMuG aF erschiene die Fortführung der Ausgangsverfahren vor der endgültigen Entscheidung über alle im Musterverfahren zu klärenden Fragen zumindest unpraktikabel und weniger sinnvoll als die Einführung der beabsichtigten Erweiterungen in die jeweiligen Ausgangsverfahren nach rechtskräftigem Abschluss des - nicht erweiterten - Musterverfahrens.

Bergmann                     Strohn                      Reichart

                  Drescher                     Born

Verwandte Urteile

Keine verwandten Inhalte vorhanden.

Referenzen