Beschluss vom Bundessozialgericht (3. Senat) - B 3 P 33/09 B

Tatbestand

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Streitig ist ein Anspruch des 2004 geborenen Klägers auf Leistungen mindestens nach der Pflegestufe I.

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Nach Antragstellung durch die Eltern des Klägers veranlasste die beklagte Pflegekasse eine Begutachtung durch eine Pflegefachkraft des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung. Im Gutachten vom 21.8.2006 wird der Kläger als altersentsprechend entwickelt geschildert, ein Hilfebedarf bei der Mobilität und der Körperpflege bestehe nicht. Wegen seiner Diabetes-Erkrankung müsse allerdings auf eine zeitgerechte und ausreichende Nahrungsaufnahme geachtet werden; der Hilfebedarf hierfür betrage nach Abzug des auch bei einem gesunden Kind anfallenden Zeitaufwandes insgesamt 44 Minuten pro Tag. Daraufhin lehnte die Beklagte die Gewährung von Pflegeleistungen ab (Bescheid vom 22.8.2006, Widerspruchsbescheid vom 8.2.2007).

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Im Klageverfahren hat das Sozialgericht (SG) von Amts wegen ein Pflegegutachten vom 19.6.2007 und gemäß § 109 SGG ein weiteres Pflegegutachten vom 5.11.2007 eingeholt. Mit Urteil vom 24.9.2008 hat das SG die Klage abgewiesen und ausgeführt, Pflegebedürftigkeit nach dem SBG XI bestehe nicht. Das von Amts wegen eingeholte Gutachten sei überzeugend und habe lediglich einen Grundpflegebedarf von 15 Minuten täglich ergeben; die engagierte und zeitaufwendige Behandlungspflege durch die Eltern sei nicht pflegestufenrelevant. Das zusätzlich eingeholte Pflegegutachten vom 5.11.2007 könne hingegen nicht überzeugen, weil es die Pflegeangaben der Eltern ungeprüft übernommen habe und auch ansonsten zu falschen Schlüssen gekommen sei.

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Das Landessozialgericht (LSG) hat sich der Rechtsauffassung des SG angeschlossen und die hiergegen gerichtete Berufung des Klägers zurückgewiesen (Urteil vom 18.11.2009). Den Hilfsantrag des Klägers, die Akte eines weiteren Verfahrens beizuziehen, um ein dort für einen anderen Kläger erstelltes Gutachten zu verwerten, hat das LSG mit der Begründung abgelehnt, dies könne keine neuen Erkenntnisse für den hier zu entscheidenden Einzelfall bringen. Den Antrag gemäß § 109 SGG auf Einholung eines weiteren Pflegegutachtens hat das LSG unter Hinweis auf das bereits erstinstanzlich eingeholte Gutachten vom 5.11.2007 abgelehnt; damit sei das Antragsrecht verbraucht.

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Mit seiner Beschwerde wendet sich der Kläger gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG, wobei er sich auf die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache beruft und zudem das Vorliegen von Divergenz sowie von Verfahrensfehlern rügt.

Entscheidungsgründe

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Die Nichtzulassungsbeschwerde ist unzulässig, weil sie nicht in der durch die §§ 160 Abs 2, 160a Abs 2 Satz 3 SGG normierten Form begründet worden ist. Sie ist deshalb ohne Zuziehung ehrenamtlicher Richter zu verwerfen (§§ 160a Abs 4 Satz 1, 169 Satz 1 bis 3 SGG).

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1. Der Kläger behauptet zunächst das Vorliegen von Divergenz, weil die Vorinstanzen das Händewaschen vor der Nahrungsaufnahme nicht als Grundpflegemaßnahme berücksichtigt hätten. Eine Divergenz des Berufungsurteils zur Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG) ist damit aber nicht formgerecht dargelegt worden. Dazu hätte vorgetragen werden müssen, dass das LSG einen tragenden Rechtssatz in Abweichung von einem anderen Rechtssatz aufgestellt hat, den eines der vorgenannten Gerichte entwickelt und angewandt hat, und dass die Entscheidung des LSG auf dieser Divergenz beruht. Hierzu ist notwendig, den von der höchstrichterlichen Rechtsprechung abweichenden Rechtssatz des LSG herauszuarbeiten und die Unvereinbarkeit mit einem Rechtssatz des BSG aufzuzeigen. Eine Abweichung liegt indes nicht schon dann vor, wenn das LSG einen Rechtssatz nicht beachtet oder unrichtig angewandt hat, sondern erst dann, wenn das LSG diesem Rechtssatz widersprochen, also einen anderen Rechtssatz aufgestellt und angewandt hat. Nicht die Unrichtigkeit der Entscheidung im Einzelfall, sondern die Nichtübereinstimmung im Grundsätzlichen begründet die Zulassung der Revision wegen Divergenz (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 14, 21, 29 und 67). Diesen Anforderungen wird das Beschwerdevorbringen nicht gerecht. Der Kläger hat zwar eine Entscheidung des erkennenden Senats vom 28.5.2003 zitiert und auch einen Rechtssatz des BSG herausgearbeitet, diesem aber keine konkreten Rechtssätze des LSG gegenübergestellt, mit dem das Berufungsgericht von der Rechtsprechung des BSG abgewichen sein soll. Er wendet sich vielmehr gegen die Beweiswürdigung der Vorinstanzen, weil diese seiner Meinung nach den Hilfebedarf bei der Nahrungsaufnahme unzutreffend festgestellt und trotz der sich im leistungsrechtlichen Grenzbereich angesiedelten Minutenwerte keine weiteren Verrichtungen berücksichtigt haben. Ob dies zutreffend ist und ob das LSG den Zeitaufwand für das Händewaschen in seiner Hilfserwägung (Urteilsumdruck S 10) zu niedrig angesetzt hat, kann dahinstehen, denn eine zulässige Divergenzrüge iS von § 160 Abs 2 Nr 2 SGG lässt sich damit nicht begründen. Es reicht nämlich nicht aus, dass die angebliche Unrichtigkeit der LSG-Entscheidung im Hinblick auf anderslautende BSG-Urteile dargelegt wird; entscheidend wäre vielmehr die Darlegung einer Nichtübereinstimmung in den abstrakten Rechtsaussagen (Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 5. Aufl 2008, IX. Kap, RdNr 196 mwN). Daran fehlt es vorliegend.

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Entsprechendes gilt für die Rüge, das LSG habe zu Unrecht die Überwachung der Essensaufnahme und das Füttern des Klägers nicht als pflegestufenrelevant beurteilt und sei damit von einer Entscheidung des BSG vom 27.8.1998 - B 10 KR 4/97 R - abgewichen. Auch hierzu fehlt die Gegenüberstellung zweier divergierender Rechtssätze; die Beschwerde rügt lediglich eine im Lichte der BSG-Rechtsprechung falsche Rechtsanwendung. Dies reicht für die Zulassung einer Divergenzrüge indes nicht aus.

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2. Der Kläger macht weiterhin geltend, die angegriffene Entscheidung betreffe eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG). Zur Darlegung dieses Zulassungsgrundes ist es erforderlich, die grundsätzliche Rechtsfrage klar zu formulieren und aufzuzeigen, dass sie über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung besitzt (BSGE 40, 158 = SozR 1500 § 160a Nr 11 und 39) und dass sie klärungsbedürftig sowie klärungsfähig ist (BSG SozR 1500 § 160a Nr 13 und 65), sie also im Falle der Revisionszulassung entscheidungserheblich wäre (BSG SozR 1500 § 160a Nr 54). In der Regel fehlt es an der Klärungsbedürftigkeit einer Rechtsfrage, wenn diese höchstrichterlich bereits entschieden ist (BSG SozR 1500 § 160 Nr 51, § 160a Nr 13 und 65; BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 8) oder sich ihre Beantwortung eindeutig aus dem Gesetz ergibt (Krasney/Udsching, aaO, RdNr 66 mwN). Diese Erfordernisse betreffen die gesetzliche Form iS des § 169 Satz 1 SGG (vgl BVerfG SozR 1500 § 160a Nr 48). Deren Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall nicht erfüllt.

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Der Kläger hält es für grundsätzlich klärungsbedürftig, "ob bei einem an Diabetes erkrankten Kind ein mit dem Sachverhalt bei der Entscheidung des BSG vom 27.8.1998 - B 10 KR 4/97 R - vergleichbarer Fall vorliegt". Damit ist schon keine klare Rechtsfrage formuliert, anhand derer die weiteren Voraussetzungen für eine Revisionszulassung nach § 160 Abs 2 Nr 1 SGG geprüft werden könnten. Außerdem mangelt es an der Darlegung, dass es sich um eine über den hier konkret zu entscheidenden Einzelfall hinausgehende Problematik handelt. Im Übrigen fehlen jedwede Ausführungen zur Klärungsfähigkeit und Klärungsbedürftigkeit dieser angeblichen Rechtsfrage, so dass auch keine Beurteilung der Entscheidungserheblichkeit durch den Senat möglich ist.

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3. Ein Verfahrensfehler (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) ist nur dann formgerecht bezeichnet, wenn die ihn begründenden Tatsachen im Einzelnen angegeben sind und - in sich verständlich - den behaupteten Verfahrensfehler ergeben; außerdem muss dargelegt werden, dass und warum die angefochtene Entscheidung darauf beruhen kann (BSG SozR 1500 § 160a Nr 14). Darüber hinaus muss der behauptete Verfahrensmangel auch tatsächlich vorliegen (so schon BSGE 1, 150, 151 f; allg. Meinung - vgl Krasney/Udsching, aaO, RdNr 136 mit zahlreichen Nachweisen) . Diesen Anforderungen wird die Beschwerde ebenfalls nicht gerecht.

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a) Die Rüge, das LSG hätte einem erneuten Beweisantrag nach § 109 SGG nachgehen müssen, kann im Verfahren über die Nichtzulassungsbeschwerde nach der ausdrücklichen Regelung in § 160 Abs 2 Nr 3, 2. Halbsatz SGG nicht erhoben werden. Zudem weist der Senat darauf hin, dass § 109 SGG als Ausnahmevorschrift (§ 103 Satz 2 SGG) eng auszulegen ist und sich nur auf die gutachterliche Anhörung eines bestimmten Arztes bezieht. Für das Impfschadensrecht hat das BSG allerdings die Möglichkeit einer Anhörung von Bakteriologen zugelassen (BSG SozR zu § 109 SGG Nr 41) ; ob daran auch heute noch festzuhalten ist, lässt der Senat offen. Das Antragsrecht gemäß § 109 SGG umfasst darüber hinaus jedenfalls keine weiteren Berufsgruppen und somit auch keine nichtärztlichen Pflegefachkräfte (ebenso Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl 2008, § 109 RdNr 5; vgl auch Tintner, MedSach 2007, 102) , so dass das LSG diesem Beweisantrag - unbeschadet des Verbrauchs in erster Instanz - gar nicht hätte entsprechen dürfen. Nur wenn der Sachverhalt noch nicht ausreichend geklärt gewesen wäre, hätte das LSG im dem Antrag des Klägers eine Beweisanregung sehen müssen, die im Rahmen des richterlichen Ermessens gemäß §§ 103 Satz 1, 128 Abs 1 Satz 1 SGG hätte Berücksichtigung finden können. Gerade das war hier jedoch nicht der Fall (vgl Urteilsumdruck S 12).

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b) Die Rüge, das LSG hätte die Akten eines anderen Verfahrens beiziehen müssen, wäre als Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz (§ 103 SGG) nur zulässig und begründet, wenn das LSG einem Beweisantrag ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt wäre (§ 160 Abs 2 Nr 3, 2. Halbsatz SGG) . Dies ist nicht der Fall, denn das LSG hat seine Ablehnung mit dem Charakter jeder Leistungsbewilligung als Einzelfallentscheidung begründet. Diese Rechtsauffassung ist im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde nicht zu beanstanden, denn sie verletzt nicht die Grenzen der freien richterlichen Beweiswürdigung (BSG SozR 1500 § 160 Nr 5, vgl auch Krasney/Udsching, aaO, RdNr 134) .

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c) Der dem gesamten Beschwerdevorbringen immanente Vorwurf, das LSG habe die erstinstanzlich eingeholten Gutachten unzutreffend gewürdigt und deshalb in der Sache falsch entschieden, kann ebenfalls nicht zur Zulassung der Revision führen. Mit dem ersteren Vorbringen rügt der Kläger die Beweiswürdigung des SG und ihm folgend des LSG (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG) ; hierauf kann eine Nichtzulassungsbeschwerde jedoch nach der ausdrücklichen Regelung in § 160 Abs 2 Nr 3, 2. Halbsatz SGG nicht gestützt werden. Mit dem weiteren Vorwurf, das LSG habe eine unzutreffende Rechtsanwendung vorgenommen und in der Sache falsch entschieden, möchte der Kläger offensichtlich das Berufungsurteil vom BSG inhaltlich überprüfen lassen. Dies ist jedoch im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde über die in § 160 Abs 2 SGG genannten Gründe hinaus grundsätzlich nicht möglich. Das BSG ist keine weitere Tatsacheninstanz; es geht auch nicht darum, die sachliche Richtigkeit der Entscheidung des LSG rechtlich in vollem Umfang erneut zu überprüfen (Krasney/Udsching, aaO, RdNr 182 mwN).

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4. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

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