Urteil vom Finanzgericht Baden-Württemberg - 1 K 3115/18

Tenor

1. Der Umsatzsteuerbescheid 2011 vom 1. September 2015 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 26. Oktober 2018 wird dahin abgeändert, dass die Vorsteuerberichtigung in Höhe von 30.400 EUR entfällt.

2. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

3. Die Revision wird zugelassen.

4. Die Zuziehung eines Bevollmächtigten oder Beistands für das Vorverfahren war notwendig.

5. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kostenschuldner kann der Vollstreckung widersprechen, wenn nicht der Gläubiger vor der Vollstreckung in Höhe des durch Kostenfestsetzungsbeschluss festgesetzten Erstattungsbetrags Sicherheit leistet. Ist durch Kostenfestsetzungsbeschluss ein Erstattungsbetrag von insgesamt mehr als 1.500 EUR festgesetzt, hat der Gläubiger in Höhe des durch Kostenfestsetzungsbeschluss insgesamt festgesetzten Erstattungsbetrags Sicherheit zu leisten.

Tatbestand

Streitig ist in der Sache, ob die Rückgängigmachung eines Verzichts auf die Steuerbefreiung für eine Grundstückslieferung wirksam ist.
1. Die Klägerin, eine GmbH, erwarb mit notariell beurkundetem Grundstückskaufvertrag vom 18. Mai 2009 von der B Immobilien GmbH (Veräußerin) das Grundstück in X, ... straße für 320.000 EUR. Auf dem Grundstück stand ein sanierungsbedürftiges Gebäude. Die Veräußerin verzichtete in § 3 Abs. 1 des Vertrags auf die Steuerbefreiung für Grundstückslieferungen.
Die Klägerin wollte (unstreitig) das Objekt sanieren und steuerpflichtig weiterverkaufen. In ihrer Umsatzsteuererklärung 2009 vom 15. Juli 2010 gab sie Umsätze von 320.000 EUR an, für die sie nach § 13b Abs. 2 Satz 1 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) in der damals geltenden Fassung als Leistungsempfängerin die Steuer schuldet, und zog die sich daraus ergebende Steuer von 60.800 EUR gemäß § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 UStG als Vorsteuer wieder ab. Eine Zahllast ergab sich nicht.
Die Veräußerin reichte ihre Umsatzsteuererklärung 2009 am 16. Juni 2010 ein. Das für deren Besteuerung zuständige Finanzamt stimmte der Erklärung am 23. September 2010 zu. Weitere Änderungen der Steuerfestsetzung ergaben sich bis zum Jahr 2013 nicht.
2. Die Klägerin veräußerte entgegen ihrer ursprünglichen Absicht mit notariellem Grundstückskaufvertrag vom 1. November 2011 eine Teilfläche des Grundstücks mit dem nicht sanierten Gebäude -ohne Verzicht auf die Steuerbefreiung- für 820.000 EUR.
Mit notariellem Vertrag („Änderung eines Grundstückskaufvertrags“) vom 23. April 2012 machte die Veräußerin den im Grundstückskaufvertrag vom 18. Mai 2009 erklärten Verzicht auf die Steuerbefreiung rückgängig.
In ihrer Umsatzsteuererklärung 2011 vom 25. April 2013 erklärte die Klägerin eine steuerfreie Grundstückslieferung von 820.000 EUR.
3. Bei einer Außenprüfung hielt die Prüferin die Rückgängigmachung des Verzichts auf die Steuerbefreiung für nicht wirksam. Der im Jahr 2009 vorgenommene Vorsteuerabzug sei nach § 15a Abs. 2 UStG im Jahr 2011 in Höhe von (insoweit unstreitig) 30.400 EUR zu berichtigen (Bericht vom 13. Juli 2015).
Das damals für die Klägerin zuständige Finanzamt folgte dem im geänderten Umsatzsteuerbescheid 2011 vom 1. September 2015. Der Vorbehalt der Nachprüfung im Umsatzsteuerbescheid 2009 wurde mit Änderungsbescheid vom gleichen Tag aufgehoben.
10 
4. Die Klägerin legte gegen den geänderten Umsatzsteuerbescheid 2011 am 5. Oktober 2015 Einspruch ein. Der inzwischen für die Besteuerung der Klägerin zuständig gewordene Beklagte (das Finanzamt -FA-) wies den Einspruch mit Einspruchsentscheidung vom 26. Oktober 2018 als unbegründet zurück: Der Verzicht auf die Umsatzsteuerbefreiung der Lieferung eines Grundstücks könne nur in dem dieser Grundstückslieferung zugrunde liegenden notariellen Vertrag erklärt werden. Gleiches gelte für die Rückgängigmachung des Verzichts.
11 
5. Das FA gab die Einspruchsentscheidung mit einfachem Brief an die in X ansässigen Prozessbevollmächtigten bekannt. Der mit einer Paraphe signierte Absendevermerk („Absendedatum“) datiert auf Freitag, den 26. Oktober 2018.
12 
Nach den Angaben des FA (siehe Schriftsatz vom 3. Juli 2019 und Protokoll der mündlichen Verhandlung) würden die Briefe von dem privaten Dienstleister C befördert. An Freitagen würden Bedienstete der C die Schriftstücke gegen 11:00 Uhr im FA abholen. Bei -wie hier- überregional zu befördernden Einspruchsentscheidungen sei die C lediglich als Bote eingeschaltet. Sie habe insoweit allein den Auftrag, diese -auch an Freitagen- bis spätestens 18:00 Uhr der Deutschen Post AG zu übergeben. Die Umschläge würden schon im Amt mit einer Frankiermaschine der Deutschen Post AG frankiert. Die für die Deutsche Post AG bestimmten Sendungen würden nach einer mündlich von der C eingeholten Auskunft erst gar nicht in ein Sortiersystem der C gelangen und daher von dieser auch nicht elektronisch erfasst. Die Deutsche Post AG erteilte dem FA mit E-Mail vom 23. Juli 2019 die Auskunft, (auch) bei ihr würden einfache Briefe nicht einzeln elektronisch erfasst.
13 
Bei den Prozessbevollmächtigten datiert der Posteingangsstempel auf der Einspruchsentscheidung auf Donnerstag, den 1. November 2018. Im elektronisch geführten Fristenkontrollbuch ist als „Eingangsdatum“ ebenfalls der 1. November 2018 angegeben. Aus dem DATEV-Ausdruck „Eingänge der Kanzlei“ ist ersichtlich, dass die Einspruchsentscheidung am 1. November 2018 im System der Prozessbevollmächtigten erfasst wurde („Eingangsdatum“ und „Erfasst am“). Die Prozessbevollmächtigten erläuterten dazu in der mündlichen Verhandlung, Eintragungen in das Dokumentenerfassungssystem von DATEV seien nachträglich nicht mehr änderbar. Der Briefumschlag, in dem die Einspruchsentscheidung versandt worden war, sei -gemäß der damaligen Praxis- entsorgt worden.
14 
6. Die Klägerin hat am 30. November 2018 Klage erhoben. Sie ist der Meinung, die Klagefrist eingehalten zu haben, da ihr die Einspruchsentscheidung erst am 1. November 2018 zugegangen sei. Zur Untermauerung dieses Vortrags legt die Klägerin die erste Seite der Einspruchsentscheidung mit dem Posteingangsstempel, einen Ausdruck aus dem elektronisch geführten Fristenkontrollbuch, einen Ausdruck aus dem Dokumentenerfassungssystem von DATEV und die Eidesstattliche Versicherung der Y. vom 31. Juli 2019 vor, die als Mitarbeiterin im Sekretariat den Eingang der hier streitigen Einspruchsentscheidung bearbeitet hat.
15 
In der Sache macht die Klägerin weiter geltend, die Rückgängigmachung des Verzichts auf die Steuerbefreiung sei wirksam. Der Verzicht könne rückgängig gemacht werden, solange die Steuerfestsetzung für das Jahr der Leistungserbringung -wie hier 2009- noch änderbar ist.
16 
Die Klägerin beantragt,
den Bescheid über Umsatzsteuer für das Kalenderjahr 2011 vom 1. September 2015 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 26. Oktober 2018 zu ändern und dabei die Umsatzsteuer für das Kalenderjahr 2011 auf 128,25 Euro herabzusetzen.
17 
Das FA beantragt,
die Klage abzuweisen.
18 
Es hält die Klage für unzulässig, weil sie nicht innerhalb der Klagefrist erhoben worden sei. In der Sache verweist es ergänzend u.a. auf das Schreiben des Bundesministeriums für Finanzen (BMF) vom 2. August 2017 (BStBl I 2017, 1240).

Entscheidungsgründe

19 
Die fristgemäß erhobene Klage ist begründet. Der Umsatzsteuerbescheid 2011 vom 1. September 2015 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 26. Oktober 2018 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (vgl. § 100 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung -FGO-). Die Veräußerin hat den Verzicht auf die Steuerbefreiung wirksam rückgängig gemacht.
20 
1. Die Klage ist zulässig. Sie ist innerhalb der Klagefrist erhoben worden.
21 
a) Nach § 47 Abs. 1 FGO beträgt die Frist für die Erhebung der Anfechtungsklage einen Monat; sie beginnt mit der Bekanntgabe der Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf. Die Einspruchsentscheidung kann gemäß § 366 der Abgabenordnung (AO) i.V.m. § 122 Abs. 2 AO auch durch die Post übermittelt werden. Die Entscheidung gilt gemäß § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als bekannt gegeben, außer wenn sie nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist; im Zweifel hat die Behörde den Zugang des Verwaltungsaktes und den Zeitpunkt des Zugangs nachzuweisen (§ 122 Abs. 2 Halbs. 2 AO).
22 
b) Der erkennende Senat hat vorliegend keine vernünftigen Zweifel daran, dass die Einspruchsentscheidung am Freitag, den 26. Oktober 2018 zur Post gegeben worden ist. Hierfür spricht insbesondere der vom FA in der mündlichen Verhandlung detailliert geschilderte behördeninterne Ablauf bei der Versendung von Einspruchsentscheidungen und der mit einer Paraphe versehene Postaufgabevermerk auf der Einspruchsentscheidung, der diesen Tag nennt. Von einer weiteren Sachverhaltsaufklärung hat der Senat daher abgesehen. Die „Aufgabe zur Post“ erfasst auch die Einlieferung bei einem privaten Postdienstleister (Beschlüsse des Bundesfinanzhofs -BFH- vom 7. Dezember 2010 X B 212/09, BFH/NV 2011, 564; vom 18. April 2013 X B 47/12, BFH/NV 2013, 1218).
23 
c) Die Klägerin hat jedoch substantiiert Zweifel an der Dreitagesvermutung vorgetragen, die nicht ausgeräumt werden konnten.
24 
aa) Bestreitet der Steuerpflichtige nicht den Zugang des Schriftstücks überhaupt, sondern behauptet er -wie im Streitfall- lediglich, es nicht innerhalb des Dreitageszeitraums des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO erhalten zu haben, hat er sein Vorbringen im Rahmen des Möglichen zu substantiieren, um Zweifel an der Dreitagesvermutung zu begründen. Er muss Tatsachen vortragen, die den Schluss zulassen, dass ein anderer Geschehensablauf als der typische -Zugang binnen dreier Tage nach Aufgabe zur Post- ernstlich in Betracht zu ziehen ist. Es genügt nicht schon einfaches Bestreiten, um die gesetzliche Vermutung über den Zeitpunkt des Zugangs des Schriftstücks zu entkräften. Es müssen vielmehr Zweifel berechtigt sein, sei es nach den Umständen des Falles, sei es nach dem schlüssig oder jedenfalls vernünftig begründeten Vorbringen des Steuerpflichtigen (BFH-Urteil vom 3. Mai 2001 III R 56/98, BFH/NV 2001, 1365). Das Erfordernis eines substantiierten Tatsachenvortrags darf allerdings nicht dazu führen, dass die Regelung über die objektive Beweislast, die nach dem Gesetz die Behörde trifft, zu Lasten des Steuerpflichtigen umgekehrt wird (BFH-Urteil vom 11. Juli 2017 IX R 41/15, BFH/NV 2018, 185, Rz 18).
25 
Hat der Empfänger seinen Vortrag im Rahmen des ihm Möglichen substantiiert, hat das Finanzgericht (FG) die Frage, ob „Zweifel“ daran bestehen, dass ihm die Einspruchsentscheidung innerhalb der Dreitagesfrist zugegangen ist, „nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung“ zu beantworten (§ 96 Abs. 1 Satz 1 FGO). Dies schließt ein, dass die richterliche Überzeugung ihre Grundlage in dem Gesamtergebnis des Verfahrens haben muss. Das Gebot „freier“ Überzeugungsbildung verpflichtet damit das FG dazu, sich zunächst die geeigneten Grundlagen zu verschaffen, um sich darauf eine derartige Überzeugung bilden zu können. Hierzu gehört eine angemessene Aufklärung des maßgeblichen Sachverhalts (§ 76 FGO). Das Gericht darf insoweit Umstände, die zum Gegenstand des Verfahrens gehören, nicht ohne zureichenden Grund ausblenden. Der Zugang bleibt mithin Gegenstand der Sachaufklärungspflicht des FG (BFH-Urteil vom 14. Juni 2018 III R 27/17, BFHE 262, 193, BStBl II 2019, 16, Rz 10).
26 
bb) Für die Erschütterung der Zugangsfiktion reicht es zunächst aus, wenn der Empfänger darauf hinweist, dass die Zustellung von einem privaten Zustelldienst unter Zwischenschaltung eines weiteren Dienstleistungsunternehmens erfolgt ist, insbesondere bei einem auf einen Freitag fallenden Postaufgabetag. Es liegt dann im Verantwortungsbereich des Beklagten nachzuweisen, dass die Bekanntgabe innerhalb des Dreitageszeitraums des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO durch den privaten Postdienstleister mit jedenfalls gleich hoher Verlässlichkeit zu erwarten ist wie bei einer Versendung im Rahmen des Postuniversaldienstes (BFH-Urteil vom 14. Juni 2018 III R 27/17, BFHE 262, 193, BStBl II 2019, 16, Rz 14–16; nachfolgend Finanzgericht Münster, Urteil vom 15. Mai 2019  13 K 3280/18, nicht veröffentlicht, juris).
27 
Die Klägerin hat im Streitfall auf entsprechende Umstände hingewiesen. Die Einspruchsentscheidung wurde zwecks Bekanntgabe der C, einem privaten Zustelldienst, übergeben. Die C wiederum hat die überregional zu befördernde Einspruchsentscheidung nicht selbst befördert, sondern an die Deutsche Post AG weitergeleitet. Hinzu kommt, dass der Postaufgabetag auf einen Freitag fällt, sich dadurch der Dreitageszeitraum über das Wochenende erstreckt. Unter diesen Umständen kann der Senat eine Verlängerung der Postlaufzeit um mindestens einen Tag nicht ausschließen. Dabei macht es keinen Unterschied, ob die C selbst mit der Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung beauftragt worden ist oder lediglich als Bote zur Überbringung der Briefe an die Deutsche Post AG fungierte, da die C so oder so als privater Zustelldienst in den Bekanntgabevorgang eingeschaltet war. In beiden Fällen besteht der neuralgische Punkt in der Übergabe von der C an die Deutsche Post AG.
28 
Das FA vermochte nicht nachzuweisen, dass die Bekanntgabe innerhalb des Dreitageszeitraums des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO durch den privaten Postdienstleister mit jedenfalls gleich hoher Verlässlichkeit zu erwarten ist wie bei einer Versendung im Rahmen des Postuniversaldienstes. Dieser Nachweis konnte schon für die konkrete hier streitige Einspruchsentscheidung nicht geführt werden. Die C erfasst die überregional zu befördernden Briefe und damit auch die hier streitige Einspruchsentscheidung weder bei der Abholung beim FA noch bei der Weiterleitung an die Deutsche Post AG. Aber auch die Deutsche Post AG dokumentiert bei einfachen Briefen nicht, welche Bearbeitungsstellen die Sendung durchläuft. Somit ist -zu Lasten des FA als der bekanntgebenden Stelle- völlig offen, ob die Einspruchsentscheidung noch am Aufgabetag (Freitag, den 26. Oktober 2018) von der C an die Deutsche Post AG übergeben worden ist.
29 
cc) Darüber hinaus hat die Klägerin hinreichend substantiiert Umstände dafür dargetan, dass die Einspruchsentscheidung -unabhängig von der Zwischenschaltung eines privaten Dienstleisters- tatsächlich erst nach Ablauf des Dreitageszeitraums zugegangen ist.
30 
Dabei genügt nicht jedes einfache Bestreiten des Zugangszeitpunkts, um die Zugangsvermutung außer Kraft zu setzen. Um einen atypisch langen Postlauf darlegen zu können, muss der Empfänger nach ständiger Rechtsprechung insbesondere den Briefumschlag aufbewahren, denn es besteht eine Obliegenheit zur Beweisvorsorge, wenn der Adressat einen atypisch langen Postlauf anhand des Poststempels oder des Bescheiddatums erkennen konnte (vgl. BFH-Beschlüsse vom 16. Mai 2007 V B 169/06, BFH/NV 2007, 1454; vom 1. Dezember 2010 VIII B 123/10, BFH/NV 2011, 410).
31 
Im Streitfall haben die Prozessbevollmächtigten der Klägerin den Briefumschlag nach der Erfassung des Schriftstücks nicht aufbewahrt. Der vorgenannten Rechtsprechung ist jedoch zumindest unter den besonderen Umständen des Streitfalls nicht zu folgen. Das Datum auf dem Poststempel besagt zur Länge des Postlaufs und -erst recht- über den Tag des Zugangs nichts (Ratschow in Klein, AO, 14. Aufl., 2018, § 122 Rz 59a). Das Datum auf dem Poststempel könnte allenfalls dann zugunsten des Empfängers herangezogen werden, wenn es vom Bescheiddatum abweicht, insbesondere der Poststempel erst später aufgebracht worden ist. Aber auch wenn das Datum auf dem Poststempel mit dem Bescheiddatum übereinstimmt, kann daraus nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auf einen Zugang innerhalb des Dreitageszeitraums geschlossen werden. Im Streitfall kommt hinzu, dass der Stempel von Bediensteten des FA mithilfe einer Frankiermaschine aufgebracht wird, also weder von der C noch von der Deutschen Post AG. Ein (nicht mehr vorhandener) Briefumschlag, der vom Absender selbst abgestempelt wird, kann von vornherein kein Erfordernis für einen substantiierten Vortrag zu einem atypisch langen Postlauf sein. Durch ein solches Erfordernis würde die objektive Beweislast, die nach dem Gesetz die Behörde trifft, zu Lasten des Steuerpflichtigen umgekehrt.
32 
Vorliegend haben die Prozessbevollmächtigten der Klägerin durch die Eidesstattliche Versicherung ihrer Mitarbeiterin im Sekretariat (danach Zugang am Donnerstag, den 1. November 2018), durch den Eingangsstempel auf der Einspruchsentscheidung (danach ebenfalls Zugang am 1. November 2018) und den Eintrag im Fristenkontrollbuch (danach Zugang ebenfalls am 1. November 2018) die erforderlichen Zweifel begründet (vgl. Ratschow in Klein, AO, 14. Aufl., 2018, § 122 Rz 59a). Darüber hinaus haben die Prozessbevollmächtigten einen Ausdruck aus dem Dokumentenerfassungssystem von DATEV vorgelegt, der die vorstehenden Angaben ebenfalls stützt (danach Eingang und Erfassung ebenfalls am 1. November 2018).
33 
Der Senat teilt nach dem substantiierten Vortrag die Zweifel daran, dass der Brief mit der Einspruchsentscheidung bereits am Montag, den 29. Oktober 2018 zugegangen sein soll. Die Prozessbevollmächtigten haben zunächst überzeugend dargelegt, dass die „Fristerfassung und -berechnung“ im Fristenkontrollbuch nur deshalb den 29. November 2018 als Fristende nennt, weil die Frist hier lediglich vorsorglich und vorläufig anhand des Bescheiddatums (hier: 26. Oktober 2018) berechnet wird. Es kann insbesondere weiter ausgeschlossen werden, dass an diesem Montag (und am darauffolgenden Dienstag) das Büro -etwa zur Ausnutzung der Brückentage vor dem Feiertag am Mittwoch- nicht besetzt gewesen ist, da auch für diese Tage Posteingänge im Dokumentenerfassungssystem von DATEV notiert sind. Der Senat geht aufgrund der detaillierten und überzeugenden Schilderungen der Prozessbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung über die Praxis der täglich dreimaligen Briefkastenleerungen zudem davon aus, dass diese Handhabung auch am Montag, den 29. Oktober 2018 und am darauffolgenden Dienstag eingehalten worden ist. Danach erscheint es fernliegend, dass ein etwa noch am Montagabend in den Briefkasten eingelegter Brief erst am Donnerstag herausgeholt und im System der Prozessbevollmächtigten erfasst wird. Am Mittwoch, den 31. Oktober 2018 konnte die Einspruchsentscheidung ebenfalls nicht zugehen, da dieser Tag in Sachsen gesetzlicher Feiertag ist.
34 
d) Aufgrund der Erschütterung durch die Klägerin gilt die Zugangsvermutung nicht. Die Nichterweislichkeit eines Zugangs am Montag, den 29. Oktober 2018 geht gemäß § 122 Abs. 2 Halbs. 2 AO zu Lasten des FA. Der Senat geht aufgrund der Gesamtumstände von einer Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung am 1. November 2018 aus.
35 
Die einmonatige Klagefrist begann somit mit Ablauf des 1. November 2018 und endete gemäß § 54 Abs. 2 FGO i.V.m. § 222 Abs. 1 der Zivilprozessordnung (ZPO) und § 188 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) mit Ablauf des 1. Dezember 2018 und damit erst nach Klageerhebung (am 30. November 2018). Die Klage wäre auch dann noch fristgerecht erhoben worden, wenn die Einspruchsentscheidung am Dienstag, den 30. Oktober 2018 zugegangen wäre.
36 
2. Die Klage ist auch begründet. Die Veräußerin hat den Verzicht auf die Steuerbefreiung wirksam rückgängig gemacht.
37 
a) Ändern sich bei einem Wirtschaftsgut, das -wie hier- nur einmalig zur Ausführung eines Umsatzes verwendet wird, die für den ursprünglichen Vorsteuerabzug maßgebenden Verhältnisse, ist eine Berichtigung des Vorsteuerabzugs vorzunehmen (§ 15a Abs. 2 Satz 1 UStG). Die Berichtigung ist für den Besteuerungszeitraum vorzunehmen, in dem das Wirtschaftsgut verwendet wird (§ 15a Abs. 2 Satz 2 UStG).
38 
b) Im Streitfall haben sich die Verhältnisse für den Vorsteuerabzug nicht geändert. Sowohl der Erwerb als auch die Veräußerung des Grundstücks sind steuerfrei. Die Veräußerin hat ihren Verzicht auf die Steuerbefreiung für die Grundstückslieferung wirksam rückgängig gemacht. Die Rückgängigmachung des Verzichts im Jahr 2012 wirkt auf das Jahr der Ausführung des Umsatzes (hier: 2009) zurück.
39 
Nach § 4 Nr. 9 Buchst. a UStG sind Umsätze, die unter das Grunderwerbsteuergesetz fallen, steuerfrei. Der Unternehmer kann gemäß § 9 Abs. 1 UStG u.a. einen solchen Umsatz als steuerpflichtig behandeln, wenn der Umsatz an einen anderen Unternehmer für dessen Unternehmen ausgeführt wird. Der Verzicht auf die Steuerbefreiung ist gemäß § 9 Abs. 3 Satz 1 UStG bei Lieferungen von Grundstücken im Zwangsversteigerungsverfahren durch den Vollstreckungsschuldner an den Ersteher bis zur Aufforderung zur Abgabe von Geboten im Versteigerungstermin zulässig. Bei anderen Umsätzen im Sinne von § 4 Nr. 9 Buchst. a UStG kann der Verzicht auf die Steuerbefreiung nur in dem gemäß § 311b Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs notariell zu beurkundenden Vertrag erklärt werden (§ 9 Abs. 3 Satz 2 UStG).
40 
Der Verzicht auf eine Steuerbefreiung kann, obwohl in § 9 UStG nicht ausdrücklich vorgesehen, rückgängig gemacht werden (arg. § 14c Abs. 1 Satz 3 UStG und BFH-Entscheidungen vom 25. Januar 1979 V R 53/72, BFHE 127, 238, BStBl II 1979, 394; vom 1. Februar 2001 V R 23/00, BFHE 194, 493, BStBl II 2003, 673; vom 10. Dezember 2009 XI R 7/08, BFH/NV 2010, 1497; vom 3. April 2013 V B 64/12, BFH/NV 2013, 1135).
41 
Der Rückgängigmachung des Verzichts steht vorliegend § 9 Abs. 3 Satz 2 UStG nicht entgegen. Nach dessen Wortlaut ist nur der Verzicht auf die Steuerbefreiung (formal und zeitlich) begrenzt (vgl. dazu BFH-Urteil vom 21. Oktober 2015 XI R 40/13, BFHE 251, 474, BStBl II 2017, 852, mit kritischer Anmerkung von Wäger, Umsatzsteuerrundschau 2016, 125, unter IV.12.), nicht jedoch die Rückgängigmachung. Der Grundsatz, der Verzicht und sein Rückgängigmachen als actus contrarius seien gleich zu behandeln (vgl. zur Rechtslage vor Einführung des § 9 Abs. 3 Satz 2 UStG: BFH-Urteile vom 19. Dezember 2013 V R 6/12, BFHE 245, 71, BStBl II 2017, 837; vom 19. Dezember 2013 V R 7/12, BFHE 245, 80, BStBl II 2017, 841), gilt angesichts des eindeutigen Wortlauts des § 9 Abs. 3 Satz 2 UStG jedenfalls nicht für das Erfordernis, die Rückgängigmachung in der (erstmaligen) notariellen Beurkundung des Grundstücksgeschäfts zu erklären. Es liegt in der Natur der Sache, dass die Rückgängigmachung dem Verzicht -als Reaktion der Parteien auf die geänderten Verhältnisse bei der Verwendung des Grundstücks- zeitlich nachfolgt und nicht zugleich im erstmaligen Grundstückskaufvertrag beurkundet sein kann. Folgte man dem FA, wäre die Rückgängigmachung des Verzichts faktisch ausgeschlossen.
42 
Der Zweck des § 9 Abs. 3 Satz 2 UStG, den Leistungsempfänger vor einem nachträglichen Verzicht des leistenden Unternehmers, durch den eine nachträgliche Steuerschuld beim Leistungsempfänger entstehen würde, zu schützen (vgl. BR-Drucks. 583/10, S. 13), trifft auf die Rückgängigmachung eines Verzichts nicht zu, da gerade zur Steuerfreiheit zurückgekehrt wird. Die Initiative für eine Rückgängigmachung wird -wie der Streitfall zeigt- oftmals vom Leistungsempfänger selbst ausgehen.
43 
Das Unionsrecht macht für den Zeitpunkt der Rückgängigmachung des Verzichts keine Vorgaben. Nach Art. 137 der Mehrwertsteuersystemrichtlinie können die Mitgliedstaaten ihren Steuerpflichtigen das Recht einräumen, sich u.a. bei Grundstücksumsätzen für eine Besteuerung zu entscheiden. Die Mitgliedstaaten legen dabei -wie in Deutschland- die Einzelheiten für die Inanspruchnahme des Wahlrechts fest.
44 
Die Rückgängigmachung eines Verzichts ist daher ohne die Beschränkung des § 9 Abs. 3 Satz 2 UStG bis zum Eintritt der materiellen Bestandskraft (Unabänderbarkeit) der Umsatzsteuerfestsetzung möglich (Sterzinger, Umsatzsteuerberater 2017, 268, unter IV.3.; zur Rechtslage vor Einführung des § 9 Abs. 3 Satz 2 UStG: BFH-Urteile vom 19. Dezember 2013 V R 6/12, BFHE 245, 71, BStBl II 2017, 837; vom 19. Dezember 2013 V R 7/12, BFHE 245, 80, BStBl II 2017, 841; a.A. Abschn. 9.2 Abs. 9 Satz 3 des Umsatzsteuer-Anwendungserlasses). Es kann offenbleiben, ob insoweit die Steuerfestsetzung beim leistenden Unternehmer und/oder beim Leistungsempfänger maßgebend ist (vgl. Schüler-Täsch in Sölch/Ringleb, UStG, § 9 Rz 90). Beide Steuerfestsetzungen waren im Zeitpunkt der Rückgängigmachung noch nach § 164 Abs. 2 Satz 1 AO änderbar. Die Umsatzsteuererklärung 2009 der Veräußerin vom 16. Juni 2010 stand mit der Zustimmung des Finanzamts vom 23. September 2010 ebenso einer Steuerfestsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung gleich (vgl. § 168 AO) wie die Umsatzsteuererklärung 2009 der Klägerin vom 15. Juli 2010. Die Vorbehalte der Nachprüfung waren im Zeitpunkt der Rückgängigmachung noch wirksam.
45 
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO. Die Regelung der vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 151 FGO i.V.m. § 708 Nr. 11 und §§ 709, 711 ZPO.
46 
4. Die Klägerin beantragte, die Zuziehung des Bevollmächtigten zum Vorverfahren für notwendig zu erklären. Dem Verfahren lag ein Sachverhalt zugrunde, der in rechtlicher Hinsicht nicht von vornherein als einfach zu beurteilen war. Die Klägerin durfte sich daher eines Rechtskundigen bedienen, um eine erfolgversprechende Rechtsverfolgung zu erreichen. Der Senat hält hiernach die Zuziehung des Bevollmächtigten für das Vorverfahren für notwendig (vgl. § 139 Abs. 3 Satz 3 FGO).
47 
5. Die Revision ist nach § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen.

Gründe

19 
Die fristgemäß erhobene Klage ist begründet. Der Umsatzsteuerbescheid 2011 vom 1. September 2015 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 26. Oktober 2018 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (vgl. § 100 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung -FGO-). Die Veräußerin hat den Verzicht auf die Steuerbefreiung wirksam rückgängig gemacht.
20 
1. Die Klage ist zulässig. Sie ist innerhalb der Klagefrist erhoben worden.
21 
a) Nach § 47 Abs. 1 FGO beträgt die Frist für die Erhebung der Anfechtungsklage einen Monat; sie beginnt mit der Bekanntgabe der Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf. Die Einspruchsentscheidung kann gemäß § 366 der Abgabenordnung (AO) i.V.m. § 122 Abs. 2 AO auch durch die Post übermittelt werden. Die Entscheidung gilt gemäß § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als bekannt gegeben, außer wenn sie nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist; im Zweifel hat die Behörde den Zugang des Verwaltungsaktes und den Zeitpunkt des Zugangs nachzuweisen (§ 122 Abs. 2 Halbs. 2 AO).
22 
b) Der erkennende Senat hat vorliegend keine vernünftigen Zweifel daran, dass die Einspruchsentscheidung am Freitag, den 26. Oktober 2018 zur Post gegeben worden ist. Hierfür spricht insbesondere der vom FA in der mündlichen Verhandlung detailliert geschilderte behördeninterne Ablauf bei der Versendung von Einspruchsentscheidungen und der mit einer Paraphe versehene Postaufgabevermerk auf der Einspruchsentscheidung, der diesen Tag nennt. Von einer weiteren Sachverhaltsaufklärung hat der Senat daher abgesehen. Die „Aufgabe zur Post“ erfasst auch die Einlieferung bei einem privaten Postdienstleister (Beschlüsse des Bundesfinanzhofs -BFH- vom 7. Dezember 2010 X B 212/09, BFH/NV 2011, 564; vom 18. April 2013 X B 47/12, BFH/NV 2013, 1218).
23 
c) Die Klägerin hat jedoch substantiiert Zweifel an der Dreitagesvermutung vorgetragen, die nicht ausgeräumt werden konnten.
24 
aa) Bestreitet der Steuerpflichtige nicht den Zugang des Schriftstücks überhaupt, sondern behauptet er -wie im Streitfall- lediglich, es nicht innerhalb des Dreitageszeitraums des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO erhalten zu haben, hat er sein Vorbringen im Rahmen des Möglichen zu substantiieren, um Zweifel an der Dreitagesvermutung zu begründen. Er muss Tatsachen vortragen, die den Schluss zulassen, dass ein anderer Geschehensablauf als der typische -Zugang binnen dreier Tage nach Aufgabe zur Post- ernstlich in Betracht zu ziehen ist. Es genügt nicht schon einfaches Bestreiten, um die gesetzliche Vermutung über den Zeitpunkt des Zugangs des Schriftstücks zu entkräften. Es müssen vielmehr Zweifel berechtigt sein, sei es nach den Umständen des Falles, sei es nach dem schlüssig oder jedenfalls vernünftig begründeten Vorbringen des Steuerpflichtigen (BFH-Urteil vom 3. Mai 2001 III R 56/98, BFH/NV 2001, 1365). Das Erfordernis eines substantiierten Tatsachenvortrags darf allerdings nicht dazu führen, dass die Regelung über die objektive Beweislast, die nach dem Gesetz die Behörde trifft, zu Lasten des Steuerpflichtigen umgekehrt wird (BFH-Urteil vom 11. Juli 2017 IX R 41/15, BFH/NV 2018, 185, Rz 18).
25 
Hat der Empfänger seinen Vortrag im Rahmen des ihm Möglichen substantiiert, hat das Finanzgericht (FG) die Frage, ob „Zweifel“ daran bestehen, dass ihm die Einspruchsentscheidung innerhalb der Dreitagesfrist zugegangen ist, „nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung“ zu beantworten (§ 96 Abs. 1 Satz 1 FGO). Dies schließt ein, dass die richterliche Überzeugung ihre Grundlage in dem Gesamtergebnis des Verfahrens haben muss. Das Gebot „freier“ Überzeugungsbildung verpflichtet damit das FG dazu, sich zunächst die geeigneten Grundlagen zu verschaffen, um sich darauf eine derartige Überzeugung bilden zu können. Hierzu gehört eine angemessene Aufklärung des maßgeblichen Sachverhalts (§ 76 FGO). Das Gericht darf insoweit Umstände, die zum Gegenstand des Verfahrens gehören, nicht ohne zureichenden Grund ausblenden. Der Zugang bleibt mithin Gegenstand der Sachaufklärungspflicht des FG (BFH-Urteil vom 14. Juni 2018 III R 27/17, BFHE 262, 193, BStBl II 2019, 16, Rz 10).
26 
bb) Für die Erschütterung der Zugangsfiktion reicht es zunächst aus, wenn der Empfänger darauf hinweist, dass die Zustellung von einem privaten Zustelldienst unter Zwischenschaltung eines weiteren Dienstleistungsunternehmens erfolgt ist, insbesondere bei einem auf einen Freitag fallenden Postaufgabetag. Es liegt dann im Verantwortungsbereich des Beklagten nachzuweisen, dass die Bekanntgabe innerhalb des Dreitageszeitraums des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO durch den privaten Postdienstleister mit jedenfalls gleich hoher Verlässlichkeit zu erwarten ist wie bei einer Versendung im Rahmen des Postuniversaldienstes (BFH-Urteil vom 14. Juni 2018 III R 27/17, BFHE 262, 193, BStBl II 2019, 16, Rz 14–16; nachfolgend Finanzgericht Münster, Urteil vom 15. Mai 2019  13 K 3280/18, nicht veröffentlicht, juris).
27 
Die Klägerin hat im Streitfall auf entsprechende Umstände hingewiesen. Die Einspruchsentscheidung wurde zwecks Bekanntgabe der C, einem privaten Zustelldienst, übergeben. Die C wiederum hat die überregional zu befördernde Einspruchsentscheidung nicht selbst befördert, sondern an die Deutsche Post AG weitergeleitet. Hinzu kommt, dass der Postaufgabetag auf einen Freitag fällt, sich dadurch der Dreitageszeitraum über das Wochenende erstreckt. Unter diesen Umständen kann der Senat eine Verlängerung der Postlaufzeit um mindestens einen Tag nicht ausschließen. Dabei macht es keinen Unterschied, ob die C selbst mit der Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung beauftragt worden ist oder lediglich als Bote zur Überbringung der Briefe an die Deutsche Post AG fungierte, da die C so oder so als privater Zustelldienst in den Bekanntgabevorgang eingeschaltet war. In beiden Fällen besteht der neuralgische Punkt in der Übergabe von der C an die Deutsche Post AG.
28 
Das FA vermochte nicht nachzuweisen, dass die Bekanntgabe innerhalb des Dreitageszeitraums des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO durch den privaten Postdienstleister mit jedenfalls gleich hoher Verlässlichkeit zu erwarten ist wie bei einer Versendung im Rahmen des Postuniversaldienstes. Dieser Nachweis konnte schon für die konkrete hier streitige Einspruchsentscheidung nicht geführt werden. Die C erfasst die überregional zu befördernden Briefe und damit auch die hier streitige Einspruchsentscheidung weder bei der Abholung beim FA noch bei der Weiterleitung an die Deutsche Post AG. Aber auch die Deutsche Post AG dokumentiert bei einfachen Briefen nicht, welche Bearbeitungsstellen die Sendung durchläuft. Somit ist -zu Lasten des FA als der bekanntgebenden Stelle- völlig offen, ob die Einspruchsentscheidung noch am Aufgabetag (Freitag, den 26. Oktober 2018) von der C an die Deutsche Post AG übergeben worden ist.
29 
cc) Darüber hinaus hat die Klägerin hinreichend substantiiert Umstände dafür dargetan, dass die Einspruchsentscheidung -unabhängig von der Zwischenschaltung eines privaten Dienstleisters- tatsächlich erst nach Ablauf des Dreitageszeitraums zugegangen ist.
30 
Dabei genügt nicht jedes einfache Bestreiten des Zugangszeitpunkts, um die Zugangsvermutung außer Kraft zu setzen. Um einen atypisch langen Postlauf darlegen zu können, muss der Empfänger nach ständiger Rechtsprechung insbesondere den Briefumschlag aufbewahren, denn es besteht eine Obliegenheit zur Beweisvorsorge, wenn der Adressat einen atypisch langen Postlauf anhand des Poststempels oder des Bescheiddatums erkennen konnte (vgl. BFH-Beschlüsse vom 16. Mai 2007 V B 169/06, BFH/NV 2007, 1454; vom 1. Dezember 2010 VIII B 123/10, BFH/NV 2011, 410).
31 
Im Streitfall haben die Prozessbevollmächtigten der Klägerin den Briefumschlag nach der Erfassung des Schriftstücks nicht aufbewahrt. Der vorgenannten Rechtsprechung ist jedoch zumindest unter den besonderen Umständen des Streitfalls nicht zu folgen. Das Datum auf dem Poststempel besagt zur Länge des Postlaufs und -erst recht- über den Tag des Zugangs nichts (Ratschow in Klein, AO, 14. Aufl., 2018, § 122 Rz 59a). Das Datum auf dem Poststempel könnte allenfalls dann zugunsten des Empfängers herangezogen werden, wenn es vom Bescheiddatum abweicht, insbesondere der Poststempel erst später aufgebracht worden ist. Aber auch wenn das Datum auf dem Poststempel mit dem Bescheiddatum übereinstimmt, kann daraus nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auf einen Zugang innerhalb des Dreitageszeitraums geschlossen werden. Im Streitfall kommt hinzu, dass der Stempel von Bediensteten des FA mithilfe einer Frankiermaschine aufgebracht wird, also weder von der C noch von der Deutschen Post AG. Ein (nicht mehr vorhandener) Briefumschlag, der vom Absender selbst abgestempelt wird, kann von vornherein kein Erfordernis für einen substantiierten Vortrag zu einem atypisch langen Postlauf sein. Durch ein solches Erfordernis würde die objektive Beweislast, die nach dem Gesetz die Behörde trifft, zu Lasten des Steuerpflichtigen umgekehrt.
32 
Vorliegend haben die Prozessbevollmächtigten der Klägerin durch die Eidesstattliche Versicherung ihrer Mitarbeiterin im Sekretariat (danach Zugang am Donnerstag, den 1. November 2018), durch den Eingangsstempel auf der Einspruchsentscheidung (danach ebenfalls Zugang am 1. November 2018) und den Eintrag im Fristenkontrollbuch (danach Zugang ebenfalls am 1. November 2018) die erforderlichen Zweifel begründet (vgl. Ratschow in Klein, AO, 14. Aufl., 2018, § 122 Rz 59a). Darüber hinaus haben die Prozessbevollmächtigten einen Ausdruck aus dem Dokumentenerfassungssystem von DATEV vorgelegt, der die vorstehenden Angaben ebenfalls stützt (danach Eingang und Erfassung ebenfalls am 1. November 2018).
33 
Der Senat teilt nach dem substantiierten Vortrag die Zweifel daran, dass der Brief mit der Einspruchsentscheidung bereits am Montag, den 29. Oktober 2018 zugegangen sein soll. Die Prozessbevollmächtigten haben zunächst überzeugend dargelegt, dass die „Fristerfassung und -berechnung“ im Fristenkontrollbuch nur deshalb den 29. November 2018 als Fristende nennt, weil die Frist hier lediglich vorsorglich und vorläufig anhand des Bescheiddatums (hier: 26. Oktober 2018) berechnet wird. Es kann insbesondere weiter ausgeschlossen werden, dass an diesem Montag (und am darauffolgenden Dienstag) das Büro -etwa zur Ausnutzung der Brückentage vor dem Feiertag am Mittwoch- nicht besetzt gewesen ist, da auch für diese Tage Posteingänge im Dokumentenerfassungssystem von DATEV notiert sind. Der Senat geht aufgrund der detaillierten und überzeugenden Schilderungen der Prozessbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung über die Praxis der täglich dreimaligen Briefkastenleerungen zudem davon aus, dass diese Handhabung auch am Montag, den 29. Oktober 2018 und am darauffolgenden Dienstag eingehalten worden ist. Danach erscheint es fernliegend, dass ein etwa noch am Montagabend in den Briefkasten eingelegter Brief erst am Donnerstag herausgeholt und im System der Prozessbevollmächtigten erfasst wird. Am Mittwoch, den 31. Oktober 2018 konnte die Einspruchsentscheidung ebenfalls nicht zugehen, da dieser Tag in Sachsen gesetzlicher Feiertag ist.
34 
d) Aufgrund der Erschütterung durch die Klägerin gilt die Zugangsvermutung nicht. Die Nichterweislichkeit eines Zugangs am Montag, den 29. Oktober 2018 geht gemäß § 122 Abs. 2 Halbs. 2 AO zu Lasten des FA. Der Senat geht aufgrund der Gesamtumstände von einer Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung am 1. November 2018 aus.
35 
Die einmonatige Klagefrist begann somit mit Ablauf des 1. November 2018 und endete gemäß § 54 Abs. 2 FGO i.V.m. § 222 Abs. 1 der Zivilprozessordnung (ZPO) und § 188 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) mit Ablauf des 1. Dezember 2018 und damit erst nach Klageerhebung (am 30. November 2018). Die Klage wäre auch dann noch fristgerecht erhoben worden, wenn die Einspruchsentscheidung am Dienstag, den 30. Oktober 2018 zugegangen wäre.
36 
2. Die Klage ist auch begründet. Die Veräußerin hat den Verzicht auf die Steuerbefreiung wirksam rückgängig gemacht.
37 
a) Ändern sich bei einem Wirtschaftsgut, das -wie hier- nur einmalig zur Ausführung eines Umsatzes verwendet wird, die für den ursprünglichen Vorsteuerabzug maßgebenden Verhältnisse, ist eine Berichtigung des Vorsteuerabzugs vorzunehmen (§ 15a Abs. 2 Satz 1 UStG). Die Berichtigung ist für den Besteuerungszeitraum vorzunehmen, in dem das Wirtschaftsgut verwendet wird (§ 15a Abs. 2 Satz 2 UStG).
38 
b) Im Streitfall haben sich die Verhältnisse für den Vorsteuerabzug nicht geändert. Sowohl der Erwerb als auch die Veräußerung des Grundstücks sind steuerfrei. Die Veräußerin hat ihren Verzicht auf die Steuerbefreiung für die Grundstückslieferung wirksam rückgängig gemacht. Die Rückgängigmachung des Verzichts im Jahr 2012 wirkt auf das Jahr der Ausführung des Umsatzes (hier: 2009) zurück.
39 
Nach § 4 Nr. 9 Buchst. a UStG sind Umsätze, die unter das Grunderwerbsteuergesetz fallen, steuerfrei. Der Unternehmer kann gemäß § 9 Abs. 1 UStG u.a. einen solchen Umsatz als steuerpflichtig behandeln, wenn der Umsatz an einen anderen Unternehmer für dessen Unternehmen ausgeführt wird. Der Verzicht auf die Steuerbefreiung ist gemäß § 9 Abs. 3 Satz 1 UStG bei Lieferungen von Grundstücken im Zwangsversteigerungsverfahren durch den Vollstreckungsschuldner an den Ersteher bis zur Aufforderung zur Abgabe von Geboten im Versteigerungstermin zulässig. Bei anderen Umsätzen im Sinne von § 4 Nr. 9 Buchst. a UStG kann der Verzicht auf die Steuerbefreiung nur in dem gemäß § 311b Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs notariell zu beurkundenden Vertrag erklärt werden (§ 9 Abs. 3 Satz 2 UStG).
40 
Der Verzicht auf eine Steuerbefreiung kann, obwohl in § 9 UStG nicht ausdrücklich vorgesehen, rückgängig gemacht werden (arg. § 14c Abs. 1 Satz 3 UStG und BFH-Entscheidungen vom 25. Januar 1979 V R 53/72, BFHE 127, 238, BStBl II 1979, 394; vom 1. Februar 2001 V R 23/00, BFHE 194, 493, BStBl II 2003, 673; vom 10. Dezember 2009 XI R 7/08, BFH/NV 2010, 1497; vom 3. April 2013 V B 64/12, BFH/NV 2013, 1135).
41 
Der Rückgängigmachung des Verzichts steht vorliegend § 9 Abs. 3 Satz 2 UStG nicht entgegen. Nach dessen Wortlaut ist nur der Verzicht auf die Steuerbefreiung (formal und zeitlich) begrenzt (vgl. dazu BFH-Urteil vom 21. Oktober 2015 XI R 40/13, BFHE 251, 474, BStBl II 2017, 852, mit kritischer Anmerkung von Wäger, Umsatzsteuerrundschau 2016, 125, unter IV.12.), nicht jedoch die Rückgängigmachung. Der Grundsatz, der Verzicht und sein Rückgängigmachen als actus contrarius seien gleich zu behandeln (vgl. zur Rechtslage vor Einführung des § 9 Abs. 3 Satz 2 UStG: BFH-Urteile vom 19. Dezember 2013 V R 6/12, BFHE 245, 71, BStBl II 2017, 837; vom 19. Dezember 2013 V R 7/12, BFHE 245, 80, BStBl II 2017, 841), gilt angesichts des eindeutigen Wortlauts des § 9 Abs. 3 Satz 2 UStG jedenfalls nicht für das Erfordernis, die Rückgängigmachung in der (erstmaligen) notariellen Beurkundung des Grundstücksgeschäfts zu erklären. Es liegt in der Natur der Sache, dass die Rückgängigmachung dem Verzicht -als Reaktion der Parteien auf die geänderten Verhältnisse bei der Verwendung des Grundstücks- zeitlich nachfolgt und nicht zugleich im erstmaligen Grundstückskaufvertrag beurkundet sein kann. Folgte man dem FA, wäre die Rückgängigmachung des Verzichts faktisch ausgeschlossen.
42 
Der Zweck des § 9 Abs. 3 Satz 2 UStG, den Leistungsempfänger vor einem nachträglichen Verzicht des leistenden Unternehmers, durch den eine nachträgliche Steuerschuld beim Leistungsempfänger entstehen würde, zu schützen (vgl. BR-Drucks. 583/10, S. 13), trifft auf die Rückgängigmachung eines Verzichts nicht zu, da gerade zur Steuerfreiheit zurückgekehrt wird. Die Initiative für eine Rückgängigmachung wird -wie der Streitfall zeigt- oftmals vom Leistungsempfänger selbst ausgehen.
43 
Das Unionsrecht macht für den Zeitpunkt der Rückgängigmachung des Verzichts keine Vorgaben. Nach Art. 137 der Mehrwertsteuersystemrichtlinie können die Mitgliedstaaten ihren Steuerpflichtigen das Recht einräumen, sich u.a. bei Grundstücksumsätzen für eine Besteuerung zu entscheiden. Die Mitgliedstaaten legen dabei -wie in Deutschland- die Einzelheiten für die Inanspruchnahme des Wahlrechts fest.
44 
Die Rückgängigmachung eines Verzichts ist daher ohne die Beschränkung des § 9 Abs. 3 Satz 2 UStG bis zum Eintritt der materiellen Bestandskraft (Unabänderbarkeit) der Umsatzsteuerfestsetzung möglich (Sterzinger, Umsatzsteuerberater 2017, 268, unter IV.3.; zur Rechtslage vor Einführung des § 9 Abs. 3 Satz 2 UStG: BFH-Urteile vom 19. Dezember 2013 V R 6/12, BFHE 245, 71, BStBl II 2017, 837; vom 19. Dezember 2013 V R 7/12, BFHE 245, 80, BStBl II 2017, 841; a.A. Abschn. 9.2 Abs. 9 Satz 3 des Umsatzsteuer-Anwendungserlasses). Es kann offenbleiben, ob insoweit die Steuerfestsetzung beim leistenden Unternehmer und/oder beim Leistungsempfänger maßgebend ist (vgl. Schüler-Täsch in Sölch/Ringleb, UStG, § 9 Rz 90). Beide Steuerfestsetzungen waren im Zeitpunkt der Rückgängigmachung noch nach § 164 Abs. 2 Satz 1 AO änderbar. Die Umsatzsteuererklärung 2009 der Veräußerin vom 16. Juni 2010 stand mit der Zustimmung des Finanzamts vom 23. September 2010 ebenso einer Steuerfestsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung gleich (vgl. § 168 AO) wie die Umsatzsteuererklärung 2009 der Klägerin vom 15. Juli 2010. Die Vorbehalte der Nachprüfung waren im Zeitpunkt der Rückgängigmachung noch wirksam.
45 
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO. Die Regelung der vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 151 FGO i.V.m. § 708 Nr. 11 und §§ 709, 711 ZPO.
46 
4. Die Klägerin beantragte, die Zuziehung des Bevollmächtigten zum Vorverfahren für notwendig zu erklären. Dem Verfahren lag ein Sachverhalt zugrunde, der in rechtlicher Hinsicht nicht von vornherein als einfach zu beurteilen war. Die Klägerin durfte sich daher eines Rechtskundigen bedienen, um eine erfolgversprechende Rechtsverfolgung zu erreichen. Der Senat hält hiernach die Zuziehung des Bevollmächtigten für das Vorverfahren für notwendig (vgl. § 139 Abs. 3 Satz 3 FGO).
47 
5. Die Revision ist nach § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen.

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