Urteil vom Landesarbeitsgericht Düsseldorf - 16 (17) Sa 890/97
Tenor
1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Wuppertal vom 16.04.1997 - 3 Ca 1038/97 - wird kostenpflichtig zurückgewiesen.
2. Streitwert: unverändert (456,58 DM).
3. Die Revision wird zugelassen.
1
T A T B E S T A N D :
2Die Parteien streiten über die Höhe einer Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall.
3Die Beklagte ist ein Unternehmen der Textilindustrie mit ca. 170 Arbeitnehmern. Der am 26.11.1937 geborene Kläger ist dort seit 1971 beschäftigt, zuletzt als Webmeister im Angestelltenverhältnis mit einem Bruttogehalt in Höhe von rund 5.740,-- pro Monat. Auf das Arbeitsverhältnis findet kraft beiderseitiger Organisationszugehörigkeit der Manteltarifvertrag für die Angestellten der rechtsrheinischen Textilindustrie (im folgenden: MTV) vom 09.02.1961, gültig ab 01.01.1961, Anwendung. § 7 Abs. 2 MTV enthält bezüglich der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall folgende Regelung (Bl. 66 d. A.):
4In Fällen unverschuldeter, mit Arbeitsunfähigkeit verbundener Krankheit oder während eines von einem Versicherungsträger bewilligten Heilverfahrens ist das Gehalt weiterzuzahlen, jedoch insgesamt nicht über die Dauer von 6 Wochen hinaus.
5Im Dezember 1996 war der Kläger an insgesamt 74 Arbeitsstunden arbeitsunfähig krank. Die Beklagte kürzte sein Gehalt für diesen Zeitraum um 20 %. Der Kürzungsbetrag beläuft sich auf rechnerisch unstreitig 456,58 DM brutto.
6Mit der am 26.02.1997 beim Arbeitsgericht Wuppertal eingegangenen Klage wendet sich der Kläger gegen die Kürzung, die er im Hinblick auf die vorbezeichnete Tarifregelung für unberechtigt hält. Er hat erstinstanzlich beantragt,
7die Beklagte zu verurteilen, an ihn 456,58 DM brutto nebst 4 % Zinsen aus dem sich ergebenden Nettobetrag seit Klagezustellung (05.03.1997) zu zahlen.
8Die Beklagte hat beantragt,
9die Klage abzuweisen.
10Sie hat dies mit der ab 01.10.1996 geltenden Fassung des § 4 Abs. 1 EFZG begründet. § 7 Abs. 2 MTV stehe dem nicht entgegen, da es sich insoweit um eine Tarifregelung mit deklaratorischem Charakter und nicht um eine vom Gesetz unabhängige und eigenständige Regelung mit konstitutivem Charakter handele. Wegen des erstinstanzlichen Parteivorbringens wird auf die beiderseitigen Schriftsätze verwiesen.
11Das Arbeitsgericht Wuppertal hat der Klage mit Urteil vom 16.04.1997 - 3 Ca 1038/97 -, auf dessen Entscheidungsgründe Bezug genommen wird, stattgegeben und die Berufung zugelassen. Mit der dagegen eingelegten Berufung verfolgt die Beklagte die erstinstanzlich beantragte Klageabweisung weiter und begründet dies mit Rechtsausführungen. Demgegenüber verteidigt der Kläger die erstinstanzliche Entscheidung und beantragt Zurückweisung der Berufung.
12Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der beiderseitigen Schriftsätze mit den jeweiligen Rechtsausführungen sowie auf den sonstigen Akteninhalt Bezug genommen.
13E N T S C H E I D U N G S G R Ü N D E :
14I.
15Die Berufung ist zulässig: Sie ist nach erfolgter Zulassung durch das Arbeitsgericht statthaft (§ 64 Abs. 1 u. 2 ArbGG) und zu den im Verhandlungsprotokoll näher bezeichneten Daten form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 66 Abs. 1 Satz 1, 64 Abs. 6 Satz 1 ArbGG, §§ 518, 519 ZPO).
16II.
17In der Sache hat sie jedoch keinen Erfolg. Auch nach Auffassung des Berufungsgerichts hat der Kläger einen Anspruch auf ungekürzte Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall.
181. Anspruchsgrundlage hierfür ist § 7 Abs. 2 MTV. Danach ist in Krankheitsfällen der vorliegenden Art das Gehalt weiterzuzahlen, jedoch insgesamt nicht über die Dauer von 6 Wochen hinaus . Der Wortlaut dieser Bestimmung für sich genommen ist aus der Sicht der erkennenden Kammer eindeutig. Er enthält eine Mußvorschrift und macht im Gegensatz zu § 4 Abs. 1 Satz 1 EFZG in der ab 01.10.1996 geltenden Fassung keine Einschränkungen bezüglich der Höhe des ab Krankheitsbeginn für die
19Dauer von maximal sechs Wochen weiterzuzahlenden bisherigen Gehalts. Die ungekürzte Gehaltsfortzahlung war von den Tarifvertragsparteien seinerzeit ersichtlich auch so gewollt. Die Regelung entsprach bei Tarifabschluß im Februar 1961 der bereits damals geltenden Rechtslage im Angestelltenbereich, nach der Angestellte gemäß den seinerzeitigen §§ 133 c GewO, 63 Abs. 1 Satz 1 HGB einen unabdingbaren Anspruch auf ungekürzte Gehaltsfortzahlung im Krankheitsfall für die Dauer von sechs Wochen hatten.
202. Nach Auffassung der erkennenden Kammer wird der bisherige Anspruch aus dem Tarifvertrag auf 100 %-ige Entgeltfortzahlung gemäß § 7 Abs. 2 MTV nicht durch die mit Wirkung vom 01.10.1996 in § 4 Abs. 1 Satz 1 EFZG erfolgte Absenkung auf 80 % des Gehalts geschmälert. Die unverändert fortbestehende Tarifregelung des § 7 Abs. 2 MTV hat insoweit Vorrang.
21a) Die mit detaillierten Rechtsausführungen begründete gegenteilige Meinung der Beklagten stützt sich im wesentlichen darauf, daß § 7 Abs. 2 MTV keine eigenständige Tarifnorm mit konstitutivem Charakter sei, sondern lediglich deklaratorischen Inhalt habe mit der Folge, daß die ab 01.10.1996 geltende gesetzliche Regelung zur Höhe der Entgeltfortzahlung Anwendung finde. Zu diesem Ergebnis führe eine Auslegung der hier maßgeblichen Tarifnorm nach den Auslegungskriterien, wie sie vom Bundesarbeitsgericht in ständiger Rechtsprechung (vgl. u. a. aus jüngster Zeit: BAG vom 29.01.1997 - 2 AZR 370/96 - AP Nr. 22 zu § 1 TVG Tarifverträge: Textilindustrie, zu II 3 b aa der Gründe m. w. Nachw. = NZA 1997, 726) angewandt würden und insbesondere zur ähnlich gelagerten Problematik des § 622 Abs. 2 BGB erfolgt seien (vgl. BAG vom 29.01.1997, a. a. O.; ferner BAG vom 05.10.1995 - 2 AZR 1028/94 - AP Nr. 48 zu § 622 BGB, zu II 2 der Gründe = NZA 1996, 539). Nach dieser Rechtsprechung ist
22bei Tarifverträgen jeweils durch Auslegung zu ermitteln, inwieweit die Tarifvertragsparteien eine selbständige, d. h. in ihrer normativen Wirkung von der außertariflichen Norm unabhängige eigenständige Regelung wollten. Dieser Wille müsse - so das Bundesarbeitsgericht - im Tarifvertrag einen hinreichend erkennbaren Ausdruck gefunden habe. Das sei regelmäßig anzunehmen, wenn die Tarifvertragsparteien eine im Gesetz nicht oder anders enthaltende Regelung treffen oder eine gesetzliche Regelung übernehmen, die sonst nicht für die betroffenen Arbeitsverhältnisses gelten würde. Für einen rein deklaratorischen Charakter der Übernahme spreche hingegen, wenn einschlägige gesetzliche Vorschriften wörtlich oder inhaltlich unverändert übernommen werden. In einem derartigen Fall sei bei Fehlen gegenteiliger Anhaltspunkte davon auszugehen, daß es den Tarifvertragsparteien bei der Übernahme des Gesetzestextes darum gegangen ist, im Tarifvertrag eine unvollständige Darstellung der Rechtslage zu vermeiden. Sie hätten dann die unveränderte gesetzliche Regelung im Interesse der Klarheit und Übersichtlichkeit deklaratorisch in den Tarifvertrag aufgenommen, um die Tarifgebundenen möglichst umfassend über die zu beachtenden Rechtsvorschriften zu unterrichten (BAG vom 05.10.1995 - 2 AZR 1028/94 - a. a. O.).
23b) Ob diese zu tariflichen Kündigungsfristen im Zusammenhang mit § 622 Abs. 2 BGB geltende Rechtsprechung - ihre Richtigkeit unterstellt - auch auf Fälle der tariflichen Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall übertragbar ist, erscheint zumindest zweifelhaft (vgl. hierzu auch Rieble, RdA 1997, 134, 139 unter III 1). Mit der Regelung über eine ungekürzte Gehaltsfortzahlung in § 7 Abs. 2 MTV haben die Tarifvertragsparteien eine Bestimmung aufgenommen, die inhaltlich der Regelung über eine ungekürzte Gehaltsfortzahlung unter anderem in den damaligen §§ 133 c GewO, 63 Abs. 1 HGB, 616 Abs. 2 BGB entsprach. Es kann angenommen werden, daß beide Tarifvertragspartner sich der seinerzeit bestehenden Verpflichtung zur ungekürzten Gehaltsfortzahlung bewußt waren und mit der Aufnahme der Regelung in § 7 Abs. 2 MTV der
24bestehenden Rechtslage Rechnung tragen wollten. Es kann weiter angenommen werden, daß die Tarifvertragsparteien das bestätigen wollten, was bereits gesetzlich galt, nämlich die ungekürzte Gehaltsfortzahlung in Höhe von 100 %. Auch die Beklagte geht in den Rechtsausführungen ihrer Berufungsbegründung hiervon aus. Eine spätere Absenkung der Entgeltfortzahlung durch den Gesetzgeber im außertariflichen Bereich auf 80 % oder auf andere Prozentsätze stand bei Abschluß des Tarifvertrags im Jahre 1961 und auch in späteren Jahren erkennbar nicht zu Debatte. Wenn nun die Tarifvertragspartner die damals gesetzlich bestehende Verpflichtung zur ungekürzten Entgeltfortzahlung, von der sie beide übereinstimmend ausgingen, in ihr Tarifwerk aufnahmen, sei es - wie die Beklagte meint - auch nur aus Gründen der Vervollständigung, dann stellt sich die Frage, ob bei einer späteren Absenkung der Entgeltfortzahlung durch den Gesetzgeber von einem ebenfalls bereits damals bestehenden Willen der Tarifvertragsparteien ausgegangen werden kann, daß in diesem Fall stets das jeweilige Gesetz und damit auch tariflich die gesetzliche Absenkung gelten sollte. Nach Auffassung der erkennenden Kammer ist diese Frage zu verneinen. Zumindest für die gewerkschaftliche Seite kann nicht deren Wille unterstellt werden, die damals auch tariflich übereinstimmend zugrundegelegte Entgeltfortzahlung in Höhe von 100 % im Falle ihrer Verschlechterung durch den Gesetzgeber aufzugeben und die Absenkung als nunmehr geltende Tarifregelung anzusehen. Für die Annahme derartiger Umstände bedürfte es entsprechender Anhaltspunkte im Tarifvertrag, an denen es hier fehlt. Vielmehr gilt, daß die Tarifvertragsparteien das, was sie mit der ungekürzten Gehaltsfortzahlung in § 7 Abs. 2 MTV niedergelegt haben, auch so gemeint haben. Daß eine damals nicht absehbare und später erfolgte gesetzliche Absenkung der Entgeltfortzahlung die im Tarifvertrag niedergelegte Regelung ebenfalls erfassen sollte, kann mangels näherer Anhaltspunkte nicht unterstellt werden. Hierfür hätte es näherer Hinweise der Tarifvertragsparteien bedurft, die der Tarifvertrag indessen nicht enthält. Übernimmt ein Tarifvertrag eine gesetzliche Arbeitsbedingung inhalts- oder wortgleich, so ist nach Meinung der erkennenden Kammer - anders als
25die vom Bundesarbeitsgericht zur Problematik der Kündigungsfristen geäußerte Auffassung - im Zweifel eine eigenständige Tarifregelung gewollt, die von Bestand und Inhalt der gesetzlichen Regelung grundsätzlich unabhängig sein soll. Die Aufnahme in die Tarifurkunde belegt den Regelungswillen der Tarifvertragsparteien, ohne diesen Regelungswillen nochmals gesondert dokumentieren zu müssen (Rieble, RdA 1997, 134, 141; im Ergebnis ebenso Giesen, RdA 1997, 193, 200 ff.). Erst im Tarifvertrag zusätzlich enthaltende Hinweise vermögen diese im Zweifel geltende Auslegungsregel im Einzelfall nicht zur Anwendung zu bringen und auf den deklaratorischen Charakter einer Tarifnorm schließen lassen. Derartige Hinweise fehlen im hier anzuwendenden Tarifvertrag. Es muß den Tarifvertragsparteien überlassen bleiben, ob und gegebenenfalls welche Konsequenzen sie aus der veränderten Gesetzeslage für ihren Bereich treffen.
263. Ein weiteres kommt hinzu: Durch die ab 01.10.1996 geltende gesetzliche Absenkung der Entgeltfortzahlung und durch die den Tarifvertragsparteien eröffnete Möglichkeit, dem Gesetzgeber zu folgen, ist nachträglich eine Situation entstanden, die den Tarifvertragsparteien bis dahin nicht zur Verfügung stand. Diese Situation ist der Entstehung nachträglicher tariflicher Regelungslücken vergleichbar.
27a) Im Bereich der nachträglichen Regelungslücken tariflicher Bestimmungen ist jedoch anerkannt, daß eine richterliche Schließung solcher Regelungslücken stets voraussetzt, daß hinreichende und vor allem sichere Anhaltspunkte für eine vermutete Leistungsbestimmung durch die Tarifvertragsparteien gegeben sind oder daß nur eine ganz bestimmte Regelung billigem Ermessen entspricht. Bestehen hingegen keine sicheren Anhaltspunkte dafür, welche Regelung die Tarifvertragsparteien bei damaliger Kenntnis der - späteren - Situation getroffen hätten, und sind verschiedene Re-
28gelungen denkbar, die billigem Ermessen entsprechen, kann ein mutmaßlicher Wille der Tarifvertragsparteien nicht festgestellt werden. Eine Ausfüllung der Tariflücke durch die Gerichte ist dann nicht möglich. Die Gerichte für Arbeitssachen sind nicht
29befugt, in die Gestaltungsfreiheit der Tarifvertragsparteien korrigierend und ergänzend einzugreifen und eine Aufgabe zu übernehmen, die nach Art. 9 Abs. 3 GG allein den Tarifvertragsparteien zugewiesen ist (vgl. u. a. BAG vom 23.09.1981 - 4 AZR 569/79 - AP Nr. 19 zu § 611 BGB Lehrer, Dozenten).
30b) Eine vergleichbare Situation ist im vorliegenden Fall gegeben. Es sind keine sicheren Anhaltspunkte dafür ersichtlich, wie die Tarifvertragsparteien, die bei Schaffung der Regelung des § 7 Abs. 2 MTV übereinstimmend eine Gehaltsfortzahlung in ungekürzter Höhe bejaht haben, die Regelung getroffen hätten, wenn die ab 01.10.1996 bestehende Situation bereits damals bestanden hätte. Insbesondere gäbe es mehrere denkbare Regelungen, die billigem Ermessen entsprächen. Eine von der derzeitigen Tarifbestimmung des § 7 Abs. 2 MTV abweichende Regelung durch ergänzende Auslegung, die zu einer Absenkung der bisher ungekürzten Gehaltsfortzahlung auf nunmehr auf 80 % in Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 1 EFZG führen würde, wäre nach Auffassung der erkennenden Kammer ein unzulässiger Eingriff in die Tarifautonomie. Zutreffend hat es das Bundesarbeitsgericht beispielsweise abgelehnt, eine nachträgliche Regelungslücke zu schließen, die dadurch entstanden war, daß ein tariflich vorgesehener Krankengeldzuschuß nach einer Gesetzesänderung sozialversicherungspflichtig geworden war (vgl. BAG vom 10.12.1986 - 5 AZR 517/85 - AP Nr. 1 zu § 42 MTB II, zu I 3 der Gründe). Diese Situation ist auf den vorliegenden Fall übertragbar. Es bleibt den Tarifvertragsparteien vorbehalten, ob sie die langjährig festgeschriebene Gehaltsfortzahlung in ungekürzter Höhe, von der sie in § 7 Abs. 2 MTV bislang übereinstimmend auch ausgegangen waren, der veränderten Situation des § 4 Abs. 1 Satz 1 EFZG anpassen.
31III.
32Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO. Der Streitwert blieb unverändert. Die Zulassung der Revision beruht auf § 72 Abs. 2 ArbGG.
33R E C H T S M I T T E L B E L E H R U N G :
34Gegen dieses Urteil kann von der Beklagten
35REVISION
36eingelegt werden.
37Für den Kläger ist gegen dieses Urteil kein Rechtsmittel gegeben.
38Die Revision muß
39innerhalb einer Notfrist von einem Monat
40nach der Zustellung dieses Urteils schriftlich beim
41Bundesarbeitsgericht,
42Graf-Bernadotte-Platz 5,
4334119 Kassel,
44eingelegt werden.
45Die Revision ist gleichzeitig oder
46innerhalb eines Monats nach ihrer Einlegung
47schriftlich zu begründen.
48Die Revisionsschrift und die Revisionsbegründung müssen von einem bei einem deutschen Gericht zugelassenen Rechtsanwalt unterzeichnet sein.
49gez.: Dr. Kaup gez.: Ropertz gez.: Haas
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