Beschluss vom Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz (7. Kammer) - 7 TaBV 27/10
Tenor
Die Beschwerden des Betriebsrates und des Gesamtbetriebsrates gegen den Beschluss des Arbeitsgerichts Koblenz vom 24.03.2010, Az.: 2 BV 22/09 werden zurückgewiesen.
Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen.
Gründe
I.
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Die Beteiligten streiten um die Rechtswirksamkeit des Teilspruchs einer Einigungsstelle zu arbeitsschutzrechtlichen Unterweisungen.
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Die Beteiligte zu 1) ist ein Unternehmen, dass mit der Herstellung, dem Vertrieb sowie der Installation von Aufzügen, Fahrtritten und Fahrsteigen befasst ist und in der Unternehmenszentrale in Z sowie an 38 weiteren Standorten in Deutschland - darunter auch in der Niederlassung Y - insgesamt zirka 2.800,00 Arbeitnehmer beschäftigt (im Folgenden: Die Arbeitgeberin). Beteiligter zu 2) ist der für die Niederlassung Y gewählte Betriebsrat (im Folgenden: Der Betriebsrat) und Beteiligter zu 3) der für das Unternehmen zuständige Gesamtbetriebsrat (im Folgenden: Der Gesamtbetriebsrat).
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Am 17.12.2008 führten die Verhandlungen einer Einigungsstelle, an der neben der Einigungsstellenvorsitzenden und der Arbeitgeberin auch der Gesamtbetriebsrat im Auftrag der an den verschiedenen Niederlassungen der Arbeitgeberin gebildeten örtlichen Betriebsräte teilnahm, zu einem Teilspruch, der in eine Betriebsvereinbarung über Unterweisungen nach § 12 ArbSchG und hierzu erforderliche organisatorische Vorkehrungen umgesetzt wurde; wegen des Inhaltes dieser Betriebsvereinbarung wird auf Bl. 13 Rs. = Bl. 31 d.A. verwiesen. Vor dem Teilspruch war im Unternehmen der Arbeitgeberin noch keine Gefährdungsbeurteilung im Sinne von § 5 ArbSchG durchgeführt worden.
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Mit dem am 26.01.2009 beim Arbeitsgericht Berlin eingeleiteten Beschlussverfahren hat die Arbeitgeberin die Feststellung der Unwirksamkeit des Teilspruchs sowohl gegenüber dem Gesamtbetriebsrat als auch gegenüber 28 örtlichen Betriebsräten begehrt. Das Arbeitsgericht Berlin hat daraufhin den Rechtsstreit soweit Niederlassungen außerhalb von Z und die dort ansässigen Betriebsräte betroffen waren, an die für die jeweiligen Niederlassungen zuständigen Arbeitsgerichte verwiesen - im vorliegenden Fall ist eine Verweisung an das Arbeitsgericht Koblenz erfolgt.
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Die Arbeitgeberin hat im Wesentlichen geltend gemacht,
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der Teilspruch vom 17.12.2008 sei unwirksam, da eine Regelung der Unterweisung nicht erfolgen könne bevor eine Gefährdungsbeurteilung durchgeführt worden sei. Außerdem bestehe eine originäre Zuständigkeit des Gesamtbetriebsrates für den in dem Teilspruch geregelten Gegenstand, zumal eine unternehmenseinheitliche Organisation des Arbeitsschutzes erforderlich sei.
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Die Arbeitgeberin hat beantragt,
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festzustellen, dass der Teilspruch der beim Gesamtbetriebsrat gebildeten Einigungsstelle vom 17.12.2008 unwirksam ist.
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Der Betriebsrat und der Gesamtbetriebsrat haben beantragt,
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den Antrag zurückzuweisen.
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Der Betriebsrat und der Gesamtbetriebsrat haben die Auffassung vertreten,
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eine Unterweisung nach § 12 ArbSchG könne auch dann erfolgen, wenn eine Gefährdungsbeurteilung im Sinne von § 5 ArbSchG noch nicht vorliege, da die genannten gesetzlichen Regelungen voneinander unabhängig seien.
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Das Arbeitsgericht Koblenz hat mit Beschluss vom 24.03.2010 (Bl. 572 ff. d.A.) festgestellt, dass der Teilspruch der beim Gesamtbetriebsrat gebildeten Einigungsstelle vom 17.12.2008 unwirksam ist. Zur Begründung hat das Arbeitsgericht im Wesentlichen ausgeführt, es könne dahingestellt bleiben, ob eine originäre Zuständigkeit des Gesamtbetriebsrats nach § 50 Abs. 1 BetrVG vorliegend bestehe. Jedenfalls sei der Teilspruch vom 17.12.2008 schon deshalb unwirksam, weil hierin nur Regelungen zur Unterweisung nach § 12 ArbSchG getroffen worden seien, aber keine Regelungen zur Gefährdungsbeurteilung nach § 5 ArbSchG. Infolgedessen sei ein Verstoß gegen das zwingende gesetzliche Regelungssystem der §§ 5, 12 ArbSchG festzustellen. Die Kammer schließe sich den Ausführungen des LAG Berlin/Brandenburg in dessen Beschluss vom 19.02.2009 (Az.: 1 TaBV 1871/08) an.
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Wegen der weiteren Einzelheiten der Entscheidungsgründe des Arbeitsgerichts wird auf S. 4 ff. des Beschlusses vom 24.03.2010 (= Bl. 575 ff. d.A.) Bezug genommen.
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Der Betriebsrat und der Gesamtbetriebsrat, denen die Entscheidung des Arbeitsgerichts am 06.05.2010 zugestellt worden ist, haben am 03.06.2010 Beschwerde zum Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz eingelegt und am 13.07.2010 ihr Rechtsmittel begründet nachdem die Beschwerdebegründungsfrist bis zum 06.08.2010 verlängert worden war.
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Der Betriebsrat und der Gesamtbetriebsrat führen aus,
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entgegen der Auffassung des Arbeitsgerichts Koblenz setze eine Unterweisung nach § 12 ArbSchG nicht zwingend eine Gefährdungsbeurteilung gemäß § 5 ArbSchG voraus. Dies folge bereits daraus, dass nach § 12 ArbSchG eine Unterweisung unter anderem auch bei einer Einstellung stattzufinden habe. Wenn die Einstellung auf eine neu geschaffenen Arbeitsplatz erfolge, werde aber deutlich, dass eine Gefährdungsbeurteilung zuvor nicht durchgeführt worden sein könne.
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Darüber hinaus bestehe die gesetzliche Regelung zur Unterweisungspflicht länger als jene zur Gefährdungsbeurteilung. Hätte der Gesetzgeber gewollt, dass vor einer Unterweisung nach § 12 ArbSchG eine Gefährdungsbeurteilung durchgeführt werden müsse, so wäre dies bei Einführung der Gefährdungsbeurteilungsregelung am 07.08.1996 in das Gesetz aufgenommen worden.
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Es sei auch tatsächlich möglich, ohne vorausgegangene Gefährdungsbeurteilung eine Unterweisung durchzuführen, zumal Gefahren und Gefährdungen für die jeweiligen Arbeitsplätze, aufgrund der speziellen Arbeitsschutzregelungen wie z.B. der Bildschirmarbeitsverordnung, bekannt seien. Auch die gesetzliche Regelung in § 12 Abs. 1 Satz 3 ArbSchG zeige, dass eine Unterweisung ohne vorausgegangene Gefährdungsbeurteilung vorgenommen werden könne. Denn wenn dort von einer Anpassung der Unterweisung an die Gefährdungsentwicklung die Rede sei, zeige dies doch, dass vor der notwendigen Anpassung bereits eine Unterweisung vorgelegen haben müsse.
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Die Unterweisung müsse bei jeder Veränderung im Aufgabenbereich, der Einführung neuer Arbeitsmittel oder einen neuen Technologie erfolgen. Sie sei daher Bestandteil eines ständigen im Arbeitsschutzgesetz enthaltenen Verbesserungsprozesses, der aus den Modulen Unterweisung, Gefährdungsbeurteilung, erforderliche Maßnahmen und Wirksamkeitskontrolle bestehe. Dieser normative Veränderungsmechanismus sei vom Arbeitsgericht Koblenz nicht berücksichtigt worden.
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Es sei auch nicht Zweck der Gefährdungsbeurteilung, eine Unterweisung nach § 12 ArbSchG zu ermöglichen. Die Gefährdungspotenziale seien aus den umfangreichen Regelwerken der Berufsgenossenschaft und des Gesetzgebers bekannt. § 5 Abs. 1 ArbSchG habe lediglich die zentrale Aufgabe, erforderliche Maßnahmen des Gesundheitsschutzes durch eine Beurteilung der Arbeitsbedingungen zu ermitteln. So werde, wenn im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung zum Beispiel festgestellt werde, dass der verwendete Bildschirm nicht flimmerfrei sei, dieses Gerät durch ein neues ersetzt. Lediglich wenn sich im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung ergebe, dass bestimmte Kenntnisse der Beschäftigten hinsichtlich eines gesundheitsgerechten Verhaltens nicht oder nicht ausreichend vorhanden seien, werde eine zusätzliche Unterweisung erforderlich.
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Wegen der weiteren Einzelheiten der Beschwerdebegründung wird auf den Schriftsatz des Betriebsrates und des Gesamtbetriebsrates vom 13.07.2010 (= Bl. 626 ff. d.A.) verwiesen.
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Der Betriebsrat und der Gesamtbetriebsrat beantragen,
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unter Abänderung des Beschlusses des Arbeitsgerichts Koblenz vom 24.03.2010, Az.: 2 BV 22/09 den Antrag zurückzuweisen.
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Die Arbeitgeberin beantragt,
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die Beschwerde zurückzuweisen.
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Die Arbeitgeberin führt aus,
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bereits aus der Gesetzesbegründung zu § 5 ArbSchG folge, dass eine Unterweisung nach § 12 ArbSchG zwingend einer vorhergehenden Gefährdungsbeurteilung bedürfe. Bevor der Arbeitgeber eine Unterweisung durchführe, müsse er zunächst klären, welche Informationen, Erläuterungen und Anweisungen erforderlich seien. Dies lasse sich aber erst aufgrund einer Beurteilung der Arbeitsbedingungen nach § 5 ArbSchG erkennen (BT-Ds 13/3540 S. 16).
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Darüber hinaus eröffne § 12 ArbSchG als Rahmenvorschrift dem Arbeitgeber einen Handlungsspielraum, bei dessen Ausfüllung dem Betriebsrat ein Mitbestimmungsrecht zustehe. Dieser Handlungsspielraum könne aber nur dann ausgefüllt werden, wenn vor der Unterweisung eine Gefährdungsbeurteilung stattgefunden habe.
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Entgegen der Auffassung des Betriebsrates und des Gesamtbetriebsrates seien keineswegs alle Gefährdungen bereits hinreichend aufgrund gesetzlicher oder berufsgenossenschaftlicher Schutzvorschriften bestimmbar. Diese könnten eine Gefährdungsbeurteilung, die zu den einzelnen konkreten Arbeitsplätzen einen Bezug habe, nicht ersetzen. Schutzvorschriften wie zum Beispiel die Bildschirmarbeitsverordnung seien abstrakt auf Gefährdungen bei der Bildschirmarbeit bezogen, ohne den konkreten Arbeitsplatz berücksichtigen zu können. Die Gegenseite verkenne zudem bei ihrer Argumentation auch, dass eine Gefährdungsbeurteilung nicht ausschließlich bei von Arbeitnehmern besetzten Arbeitsplätzen durchgeführt werden könne. Vielmehr könne auch bereits mit der Einrichtung des Arbeitsplatzes eine solche Beurteilung erfolgen, so dass auch bei der Einstellung eines Arbeitnehmers der zeitliche Vorrang der Gefährdungsbeurteilung vor der Unterweisung berücksichtigt werden könne.
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Auch dass die Unterweisung nach § 12 Abs. 1 Satz 3 ArbSchG an die Gefährdungsentwicklung angepasst sein müsse, sei letztlich ein weiteres Indiz für den zeitlichen Vorrang einer Gefährdungsbeurteilung. Denn aus dieser gesetzlichen Regelung folge, dass vor der Gefährdungsentwicklung bereits eine Gefährdungsausgangslage bestand; wenn aber eine Unterweisung bereits nach einer Gefährdungsentwicklung gesetzlich notwendig sei, müsse dies erst recht für die Gefährdungsausgangslage gelten.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten der Beschwerdeerwiderung wird auf den Schriftsatz der Arbeitgeberin vom 12.08.2010 (vgl. Bl. 662 ff. d.A.) verwiesen.
II.
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Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde ist gemäß §§ 87 ff., 66 ArbGG zulässig, in der Sache jedoch nicht begründet.
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Das Arbeitsgericht Koblenz hat in seinem Beschluss vom 24.03.2010 zu Recht festgestellt, dass der Teilspruch der beim Gesamtbetriebsrat gebildeten Einigungsstelle vom 17.12.2008 unwirksam ist. Der zulässige Feststellungsantrag der Arbeitgeberin ist nämlich begründet.
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Der Spruch einer Einigungsstelle erlangt, obwohl deren Ermessensausübung durch die Gerichte inhaltlich nur eingeschränkt überprüfbar ist, nur Rechtswirksamkeit, wenn er nicht gegen gesetzliche Vorschriften verstößt. Vorliegend steht dem Inhalt des Teilspruches der Einigungsstelle aber § 5 ArbSchG in Verbindung mit § 12 ArbSchG entgegen.
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Nach § 5 Abs. 1 ArbSchG hat der Arbeitgeber durch eine Beurteilung der für die Beschäftigten mit ihrer Arbeit verbundenen Gefährdungen zu ermitteln, welche Maßnahmen des Arbeitsschutzes erforderlich sind. Eine Gefährdung kann sich gemäß § 5 Abs. 3 Nr. 1 ArbSchG insbesondere ergeben durch die Gestaltung und Einrichtung der Arbeitsstätte und des Arbeitsplatzes.
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Nach § 12 Abs. 1 ArbSchG hat der Arbeitgeber die Beschäftigten über Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeit während ihrer Arbeitszeit ausreichend und angemessen zu unterweisen. Die Unterweisung umfasst Anweisungen und Erläuterungen, die eigens auf den Arbeitsplatz oder den Aufgabenbereich der Beschäftigten ausgerichtet sind. Die Unterweisung muss bei der Einstellung, bei Veränderungen im Aufgabenbereich, der Einführung neuer Arbeitsmittel oder einer neuen Technologie vor Aufnahme der Tätigkeit der Beschäftigten erfolgen. Die Unterweisung muss an die Gefährdungsentwicklung angepasst sein und erforderlichenfalls regelmäßig wiederholt werden.
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Diesen gesetzlichen Regelungen ist nach Überzeugung der Beschwerdekammer zu entnehmen, dass vor Durchführung einer Unterweisung zwingend eine Gefährdungsbeurteilung erforderlich ist. Das folgt zwar nicht aus einer vom Gesetzgeber ausdrücklich und eindeutig festgelegten Reihenfolge, jedoch aus der Auslegung der gesetzlichen Bestimmungen der §§ 5, 12 ArbSchG.
- 39
Bei der Gesetzesauslegung ist zunächst vom Wortlaut auszugehen, wobei der maßgebliche Sinn zu erforschen ist und nicht am Buchstaben gehaftet werden darf. Abzustellen ist auch auf den systematischen Gesetzeszusammenhang, weil dieser Anhaltspunkte für den wirklichen Willen des Gesetzgebers liefern und nur so Sinn und Zweck des Gesetzes zutreffend ermittelt werden kann. Des Weiteren können sich Anhaltspunkte für den wirklichen Willen des Gesetzgebers aus der Entstehungsgeschichte des Gesetzes ergeben.
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1. Der Wortlaut der §§ 5 und 12 ArbSchG weist verschiedene Anhaltspunkte auf, die darauf hinweisen, dass vor einer Unterweisung eine Gefährdungsbeurteilung durchgeführt werden muss.
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a) So muss nach dem Wortlaut des § 12 Abs. 1 Satz 4 ArbSchG die Unterweisung an die Gefährdungsentwicklung angepasst sein. Diese Regelung gilt uneingeschränkt ab dem Beginn der Gefährdungsentwicklung, also auch beim erstmaligen Auftreten der Gefährdung. Mithin ist ein Angepasstsein der Unterweisung an die Gefährdung (-sentwicklung) nur möglich, wenn die Gefährdung von Anfang an erst einmal festgestellt wurde und dann eine nachfolgende Anpassung der Unterweisung sich anschloss. Dabei ergibt sich eine Abfolge der unterschiedlichen arbeitsschutzrechtlichen Maßnahmen auch daraus, dass die Unterweisung angepasst "sein" muss - der Zustand der Anpassung ist aber nur möglich, wenn zuvor das Bezugsobjekt der Anpassung, hier die Gefährdung, festgestellt worden ist.
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Letzteres berücksichtigen die Beschwerdeführer nicht hinreichend, wenn sie darauf verweisen, dass eine Anpassung der Unterweisung nur möglich sei, wenn es auch zuvor bereits eine Unterweisung gegeben habe. Denn auch für diese vorausgegangene Unterweisung galt ja § 12 Abs. 1 Satz 4 ArbSchG, so dass die Gefährdungsentwicklung auch in der Vergangenheit immer vor der Unterweisung festgestellt worden sein muss.
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b) Nach dem Wortlaut von § 5 Abs. 1 ArbSchG hat der Arbeitgeber die für die Beschäftigten mit ihrer Arbeit verbundenen Gefahren zu ermitteln. Er darf sich demnach, entgegen der Auffassung der Beschwerdeführer, nicht darauf beschränken, die an einem Arbeitsplatz möglicherweise auftretenden Gefahren aus berufsgenossenschaftlichen oder gesetzlichen Arbeitsschutzregelungen, wie zum Beispiel der Bildschirmarbeitsverordnung abstrakt zu ermitteln und seine Unterweisung allein hiernach auszurichten. Vielmehr sind auch die für die Beschäftigten mit ihrer individuellen Arbeit verbundenen konkreten Gefahren festzustellen, unabhängig davon, ob diese in der Arbeitsschutzregelung bereits generell und abstrakt erfasst sind oder nicht. Wenn aber die individuellen und konkreten Gefährdungen zu ermitteln sind, müssen diese auch zum Gegenstand einer Unterweisung werden. Nur dann erfüllt § 5 ArbSchG seinen praktischen Zweck und ist sinnvoller Bestandteil des Zusammenspiels der von der Beschwerdeführern angesprochenen verschiedenen Module des Arbeitsschutzes.
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c) Aus dem Wortlaut von § 5 Abs. 3 Nr. 1 ArbSchG in Verbindung mit § 12 Abs. 1 Satz 3 ArbSchG folgt - entgegen der Auffassung der Beschwerdeführer - nichts anderes. Soweit dort einerseits definiert ist, dass sich eine Gefährdung insbesondere auch aus der Einrichtung des Arbeitsplatzes ergeben kann und andererseits die Unterweisung bei der Einstellung eines Arbeitnehmers erfolgen muss, kann nicht für den Fall der Erstbesetzung eines neu eingerichteten Arbeitsplatzes gefolgert werden, dass ohne vorausgegangene Gefährdungsbeurteilung der neu eingestellte Arbeitnehmer erstmals beim Arbeitsantritt zu unterweisen ist. Diese Unterweisungspflicht besteht zwar, setzt aber auch hier voraus, dass die von dem konkreten Arbeitsplatz ausgehende Gefährdung zuvor beurteilt worden ist. Dies kann auch geschehen, ohne dass ein Arbeitnehmer an dem Arbeitsplatz tatsächlich arbeitet. Ginge man - wie dies die Beschwerdeführer offenbar tun - davon aus, dass ein Arbeitnehmer zunächst einmal tätig werden muss, damit die an dem Arbeitsplatz auftretenden Gefährdungen beurteilt werden können, würde dies zu einer unverantwortlichen Gefährdung dieses Arbeitnehmers führen. Denn dieser wäre lediglich anhand von Rechtsvorschriften über abstrakt mögliche Gefährdungen an dem Arbeitsplatz unterwiesen worden, nicht aber über konkrete Gefährdungen. Die Unverantwortlichkeit eines solchen Vorgehens zeigt sich um so mehr in einem Unternehmen wie jenem der Arbeitgeberin, in dem keineswegs nur Bildschirmarbeitsplätze eingerichtet sind, sondern ein Produktions- und Installationsbereich existiert, wo Arbeitnehmer Aufzüge, Fahrtreppen und Fahrsteige produzieren und montieren. Diese Tätigkeiten enthalten ein erheblich höheres Gefährdungspotenzial als es in einem Schreibbüro auftritt.
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2. Der systematische Zusammenhang zwischen §§ 5 und 12 ArbSchG gebietet es zunächst eine Gefährdungsbeurteilung und erst anschließend eine Unterweisung der Arbeitnehmer durchzuführen. Denn eine Unterweisung über Sicherheit und Gesundheitsschutz ist schlichtweg nur praktikabel, wenn zuvor die an einem Arbeitsplatz konkret auftretenden Gefährdungen festgestellt worden sind.
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Hiervon geht im Übrigen auch das Bundesarbeitsgericht in seiner bisherigen Rechtsprechung aus; so hat es in seinem Urteil vom 12.08.2008 (Az.: 9 AZR 1117/06 = AP Nr. 29 zu § 618 BGB) festgestellt, dass durch die Gefährdungsbeurteilung im Vorfeld Gefährdungen ermittelt werden, denen gegebenenfalls durch entsprechende Maßnahmen zu begegnen ist. Die Gefährdungsbeurteilung sei das zentrale Element des technischen Arbeitsschutzes. Mit ihr fange der Schutz der Gesundheit als der körperlichen und geistig-psychischen Integrität des Arbeitnehmers an. Die Unterweisung müsse an die Gefährdungsentwicklung angepasst sein, setze also eine Gefährdungsbeurteilung voraus (vgl. Rdnr. 22 f. und 25 des zitierten Urteiles).
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Der von den Beschwerdeführern erhobene Einwand, der Gesetzgeber habe eine zeitliche Reihenfolge nicht festgelegt, obwohl er, trotz bereits bestehender gesetzlicher Unterweisungspflicht, am 07.08.1996 die Verpflichtung zur Gefährdungsbeurteilung mit der Einführung des Arbeitsschutzgesetzes gesetzlich geregelt habe, greift nicht durch. Denn auch bevor die Gefährdungsbeurteilung gesetzlich normiert wurde, war sie der Sache nach vor Durchführung einer sachgerechten und effektiven Unterweisung erforderlich. Dass sie später als Teil des Arbeitsschutzgesetzes ausdrücklich normiert wurde, zeigt allein, welch hohen Stellenwert der Gesetzgeber dieser Maßnahme beimisst, nicht aber, dass sie vor Einführung des Arbeitsschutzgesetzes nicht erforderlich gewesen wäre.
III.
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Die Entstehungsgeschichte der §§ 5, 12 ArbSchG spricht ebenfalls für einen zeitlichen Vorrang der Gefährdungsbeurteilung vor der Unterweisung. Während des Gesetzgebungsverfahrens wurde in der Bundestagsdrucksache 13/3540 folgendes zu § 5 (vgl. S. 16 f. der Drucksache) dokumentiert:
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"Welche Schutzmaßnahmen erforderlich sind, lässt sich erst aufgrund einer Beurteilung der Arbeitsbedingungen erkennen. Dazu gehört, dass eine Gefährdung als solche erkannt und hinsichtlich ihrer Schwere (Art und Umfang des möglichen Schadens) bewertet wird."
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Und zu § 12 ArbSchG heißt es dort (vgl. S. 19 der Drucksache):
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"Damit Beschäftigte eine Gesundheitsgefährdung erkennen und entsprechend vorgesehene Maßnahme auch handeln können, müssen sie auf die individuelle Arbeitssituation zugeschnittene Informationen, Erläuterungen und Anweisungen erhalten."
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Auch die Gesetzesmaterialien bestätigen somit, dass erst die Beurteilung der Arbeitsbedingungen die Grundlage für anschließende Schutzmaßnahmen bildet und darüber hinaus, dass sich die Unterweisung an der individuellen Arbeitssituation, also nicht ausschließlich an dem Inhalt von zwangsläufig generellen Arbeitsschutzregelungen, auszurichten hat. Mithin eröffnet erst die Gefährdungsbeurteilung die Möglichkeit einer am individuellen Arbeitsplatz orientierten Unterweisung.
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Dem Teilspruch vom 17.12.2008 ist eine Gefährdungsbeurteilung nicht vorausgegangen. Für die dort enthaltenen Unterweisungsregelungen fehlt es mithin an einer wesentlichen, gesetzlich vorgesehenen Grundlage. Dies führt unter Beachtung der auch auf Gesetze anwendbaren Grundsätze aus § 139 BGB zur Gesamtnichtigkeit des Teilspruchs, da die ansonsten hierin enthaltenen Regelungen keinen eigenständigen sinnvollen Regelungsgehalt aufweisen.
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Es kommt daher im Übrigen für die Wirksamkeit des Teilspruchs der Einigungsstelle nicht darauf an, ob der Regelungsgegenstand - worüber vor allem erstinstanzlich gestritten wurde - nicht in die originäre Zuständigkeit des Gesamtbetriebsrates aus § 50 Abs. 1 Satz 1 BetrVG fällt. Denn hieraus könnte sich allenfalls ein weiterer Unwirksamkeitsgrund ergeben.
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Nach alledem war die Beschwerde zurückzuweisen.
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Die Rechtsbeschwerde wurde unter Beachtung von §§ 92 Abs. 1, 72 Abs. 2 ArbGG zugelassen, da die hier entschiedene Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung ist. Sie liegt im Übrigen auch bundesweit verschiedenen Arbeitsgerichten und Landesarbeitsgerichten zur Beantwortung vor, darüber hinaus auch bereits dem Bundesarbeitsgericht unter dem Aktenzeichen 1 ABR 49/10.
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