Beschluss vom Landgericht Dessau-Roßlau (1. Zivilkammer) - 1 T 70/13
Tenor
Auf die sofortige Beschwerde des Antragstellers vom 27.02.2013 wird der den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe zurückweisende Beschluss des Amtsgerichts Zerbst vom 24.01.2013 – 6 C 226/12 – aufgehoben. Das Ausgangsgericht wird angewiesen, den Prozesskostenhilfeantrag vom 11.07.2012 nicht mit der Begründung zurückzuweisen, die Rechtsverfolgung des Antragstellers biete deshalb keine hinreichende Aussicht auf Erfolg, weil eine Räum- und Streupflicht der Antragsgegner nicht bestanden habe.
Gerichtskosten fallen nicht an. Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.
Gründe
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Die sofortige Beschwerde des Antragstellers vom 27.02.2013 gegen den die Bewilligung von Prozesskostenhilfe ablehnenden Beschluss des Amtsgerichts Zerbst vom 24.01.2013 ist zulässig; die Beschwerde ist gemäß §§ 567 Abs. 1 Nr. 1, 127 Abs. 2 S. 2 ZPO statthaft sowie form- und fristgerecht eingelegt worden (§§ 569 Abs. 1 S. 1 und 2, 127 Abs. 2 S. 3 ZPO).
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In der Sache hat das Rechtsmittel im tenorierten Umfang Erfolg, weil das Amtsgericht in dem im Stadium der PKH-Prüfung befindlichen Verfahren zu Unrecht die Erfolgsaussicht der Rechtsverfolgung mit der Begründung verneint hat, die Antragsgegner habe in dem vorgetragenen Unfallzeitpunkt (Nacht vom 24.12. auf den 25.12.2010, 02:30 Uhr morgens) keine Räum- und Streupflicht getroffen.
I.
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Seine Auffassung stützt das Amtsgericht im Wesentlichen auf folgende Erwägungen:
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Der Meinung des Antragstellers, weil auf dem Grundstück der Antragsgegner aufgrund des dortigen Betriebs einer Diskothek ein Personenverkehr eröffnet sei, bestehe für die Antragsgegner die Pflicht, auch zur Nachtzeit, wenn die Diskothek besucht werde, für eine angemessene Räumung und Streuung zu sorgen, sei nicht zu folgen. Denn – so die Überlegung des Amtsgerichts – wäre diese Auffassung des Antragstellers richtig, so hätte dies zur Folge, dass „alle Grundstückseigentümer, die ein Grundstück besitzen, welches am Zugang zu der in Rede stehenden Diskothek liegt, verpflichtet wären, auch nachts Räum- und Streuarbeiten durchzuführen, da die Diskothek ansonsten nicht gefahrlos begangen werden“ könne. Das könne nicht richtig sein, weil die Eigentümer der Anliegergrundstücke keinen Einfluss auf die Vermietung und Verpachtung an einen Diskothekenbetreiber hätten. Auch sei zu berücksichtigen, dass die satzungsmäßige Räum- und Streupflicht auf öffentlichen Straßen und Wegen nachts ruhe. Zwar sei den Betreibern von Restaurants und sonstigen Unterhaltungs- und Vergnügungseinrichtungen zuzumuten, Schnee- und Eisglätte „vor ihrem Objekt bis zum sicheren Erreichen der Straße und damit eines Fahrzeuges zu beseitigen“; eine Räum- und Streupflicht der Grundstückseigentümer der anliegenden Grundstücke bestehe jedoch nicht. Bei dem Besuch einer Diskothek in der Nacht habe jeder Besucher „sein eigenes Vergnügen gegen die eventuell vorhandenen Gefahren fehlender Räumung abzuwägen und gegebenenfalls auf den Genuss zu verzichten“. Im Übrigen könnten die Anforderungen an die Räum- und Streupflicht des privaten Grundstückseigentümers nicht über die „öffentlich-rechtliche Räum- und Streupflicht hinausgehen“. Letztere bestehe in der Nacht nicht.
II.
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Dem vermag das Beschwerdegericht aus tatsächlichen und rechtlichen Gründen nicht zu folgen.
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Nach ständiger Rechtsprechung des BGH sind Pflichtadressaten bei der Verkehrssicherung von Hotelbetrieben, Gastwirtschaften, Diskotheken oder anderen Vergnügungs- und Freizeit- / Unterhaltungseinrichtungen die Eigentümer und Verpächter dieser Objekte, deren Verkehrssicherungspflicht sich auf Kontroll- und Überwachungspflichten verengen kann, wenn und soweit sie ihre Verkehrssicherungspflicht wirksam auf die Nutzer (Mieter, Pächter) der betreffenden Objekte übertragen haben. Inhaltlich gilt für die Verkehrssicherungspflicht beim Betrieb von Hotels, Gastwirtschaften oder Diskotheken im Grundsatz nichts anderes als für sonstige Eigentümer bzw. Besitzer von Gebäuden. Es besteht die Verantwortung dafür, dass die Gäste die zur Verfügung gestellten Räume, Flure, Treppen und Anlagen innerhalb der Lokalitäten ebenso ohne Gefahr für Leib, Leben und Eigentum nutzen können wie die Parkplätze, Zu- und Gehwege (vgl. zum Ganzen: Münchner Kommentar/Wagner, 5. Aufl., § 823 BGB, Rdn. 486). Was die inhaltlich-zeitliche Komponente der Sorgfaltspflicht angeht, ist der Gedankenansatz des Ausgangsgerichts, an die Räum- und Streupflicht könnten keine über die Anforderungen an die Räum- und Streupflicht von Grundstücksanliegern nach öffentlich-rechtlicher Satzung hinausgehende Anforderungen gestellt werden, unrichtig. Es gilt sich zu vergegenwärtigen, was der innere sachliche Grund für die Festlegung des zeitlichen Rahmens der Räum- und Streupflicht in kommunalen Straßenreinigungssatzungen (hier der Stadt Zerbst) ist. Entscheidender Anknüpfungspunkt der zeitlichen Rahmenbestimmungen in solcherart Satzungen ist die Überlegung, wann und zu welchen Zeitpunkten typischerweise ein nennenswerter Personenverkehr zu erwarten ist, der dann den eröffneten Gefahren ausgesetzt ist. Für öffentliche Straßen, Wege und Plätze ist ein solcher nicht unerheblicher Personenverkehr in der Nacht regelmäßig nicht zu erwarten. Die Uhrzeitangaben in der öffentlich-rechtlichen Straßenreinigungssatzung knüpfen an diesen Regelfall / Normalfall an und umgrenzen lebensnah die typischen Zeiträume des Personenverkehrs an Werk- und Feiertagen (für die Stadt Zerbst hat an Feiertagen nach nächtlichem Schneefall die Verkehrssicherung bis 09:00 Uhr am nächsten Morgen zu erfolgen). Geht es wie hier um den Betrieb von Hotels, Gastwirtschaften oder Diskotheken, so ist im Ausgangspunkt die gedankliche Herangehensweise genau die Gleiche. Zu hinterfragen ist, in welchem Zeitraum typischerweise der Publikumsverkehr solcher Einrichtungen den eröffneten Gefahren ausgesetzt ist. Das ist nach den Umständen des Einzelfalls zu bestimmen. Dabei betont der BGH in ständiger Rechtsprechung, dass insoweit nicht schematisch an die für öffentliche Straßen und Plätze anzunehmenden Zeitpunkte des Einsetzens und Abflauens des Verkehrs angeknüpft werden kann, sondern in jedem Einzelfall zu prüfen ist, wann der (einrichtungs- und publikumsbezogene) Verkehrsfluss stattfindet. Dem entsprechend richtet der BGH den Zeitraum der Verkehrssicherungspflicht eines Gastwirtes daran aus, wie sich die Öffnungszeiten von dessen gastronomischer Einrichtung gestalten. Unter Umständen kann sich die Verkehrssicherungspflicht dementsprechend bis in die späten Abendstunden hinein erstrecken (BGH, Urteil vom 02.10.1984 – VI ZR 125/83 – , juris-Rdn. 8). Der zeitliche Umfang der Verkehrssicherungspflicht des Betreibers eines Schwimmbades ist nach der Schließzeit des Schwimmbades (im konkreten Fall 21:00 Uhr) zuzüglich eines gewissen Zuschlages für die Verweildauer der letzten Besucher (im konkreten Fall plus eine Stunde) zu bestimmen (BGH, a. a. O., juris-Rdn. 9).
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In diesem Sinne sind der Inhalt und der zeitliche Umfang der Verkehrssicherungspflicht des Eigentümers eines Grundstücks, auf dem der Betrieb einer Diskothek stattfindet, an den Besonderheiten des Diskothekenbetriebes auszurichten. Maßgeblich sind v. a. die Öffnungszeiten, in denen der besondere Publikumsverkehr einer Diskothek stattfindet. Ferner sind (vgl. Münchner Kommentar/Wagner, 5. Aufl., § 823 BGB, Rdn. 487) die Besonderheiten des Publikums, das von der Einrichtung adressiert und angelockt wird, zu beachten (beschwingte, nicht selten auch alkoholisierte und deshalb nicht dieselbe Eigenvorsorge walten lassende Besucher wie etwa jene Besucher, die eine Privatwohnung aufsuchen). Wenn der Antragsteller um 02:30 Uhr morgens die Diskothek „J.“ auf dem Gewerbegrundstück ….verließ und nach eigenem Vorbringen ca. 20 m vom Diskothekengebäude entfernt auf einem nicht von Schnee und Eis geräumten Gehweg zwischen dem Diskothekengebäude und der öffentlichen Straße ….stürzte, so geschah dies zu einer Uhrzeit, zu der die Betreiber der Diskothek (immer noch) einen regulären Publikumsverkehr in und vor der von ihnen betriebenen Diskothek begründet hatten. Der Antragsteller war also Teil des diskothekentypischen Publikumsverkehrs. Diesem Publikum gegenüber waren die Eigentümer und Verpächter des Grundstücks, auf dem der Antragsteller gestürzt war, zur Verkehrssicherung verpflichtet. Demgegenüber kann der Ansicht des Amtsgerichts, wer nachts sein Vergnügen in einer Diskothek suche, müsse gegebenenfalls auch mit „eventuell vorhandenen Gefahren“ wegen fehlender Räumung rechnen und „leben“, nicht gefolgt werden. Diese Sichtweise lässt außer Betracht, dass es sich um einen Publikumsverkehr handelt, der von Eigentümer- bzw. Vermieterseite wie auch von Seiten der mietenden Diskothekenbetreiber gewollt und eröffnet ist. Der vom Amtsgericht angestellte Vergleich mit dem Nutzer eines öffentlichen Gehweges, der tief in der Nacht auf selbigen stürzt, verkennt diesen Gesichtspunkt. Auch ist die Sorge des Amtsgerichts, die Bejahung einer Räum- und Streupflicht auf dem Grundstück der Antragsgegner könnte die Bejahung von Räum- und Streupflichten auch der Anlieger öffentlicher Straßen, die auf dem Weg zur Diskothek liegen, nach sich ziehen, offensichtlich unbegründet.
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Im Übrigen waren sich offenbar auch (zu Recht) die Antragsgegner ihrer Verkehrssicherungspflicht auf ihrem Grundstück bewusst. Das belegt die E-Mail des Antragsgegners zu 2.) vom 10.01.2011 (Anlage K 18), denn dort wird ausgeführt, dass „für das Schneeräumen auf dem Gehweg und für Flächen auf unserem Gelände, für die nicht die Mieter zuständig sind“, ein Hausmeister verantwortlich sei. Nach dem vom Antragsteller vorgetragenen Sturzort (ca. 20 m vom Diskothekengebäude entfernt) und nach § 17 Ziff. 1. des Mietvertrages zwischen der Antragsgegnerin zu 1.) und den Diskothekenbetreibern war für diesen Bereich die Verkehrssicherungspflicht einschließlich der Räum- und Streupflicht nicht auf die Diskothekenbetreiber übertragen, so dass sich die Frage einer eventuellen Verengung der Räum- und Streupflicht der Antragsgegner auf eine bloße Kontroll- und Überwachungspflicht nicht stellt.
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Nach alledem durfte das Amtsgericht die hinreichende Erfolgsaussicht der beabsichtigten Rechtsverfolgung nicht mit der Begründung verneinen, eine Räum- und Streupflicht habe im vorgetragenen Sturzzeitpunkt nicht bestanden. Daher hat das Beschwerdegericht von § 572 Abs. 3 ZPO i. V. m. 563 Abs. 2 ZPO analog Gebrauch gemacht.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 127 Abs. 4 ZPO.
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Referenzen
- ZPO § 569 Frist und Form 1x
- 6 C 226/12 1x (nicht zugeordnet)
- ZPO § 127 Entscheidungen 3x
- VI ZR 125/83 1x (nicht zugeordnet)
- ZPO § 2 Bedeutung des Wertes 1x
- BGB § 823 Schadensersatzpflicht 2x
- ZPO § 567 Sofortige Beschwerde; Anschlussbeschwerde 1x
- ZPO § 572 Gang des Beschwerdeverfahrens 1x