Beschluss vom Landgericht Frankenthal (Pfalz) (1. Strafkammer) - 1 Qs 16/21

Tenor

1. Auf die sofortige Beschwerde des Angeklagten gegen den Beschluss des Amtsgerichts ... vom 07.12.2020 wird dieser aufgehoben.

2. Dem ehemals Angeklagten ... wird Rechtsanwalt ... als notwendiger Verteidiger gemäß § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO beigeordnet.

3. Die Staatskasse hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.

Gründe

I.

1

Unter dem 28.07.2020 erließ das Amtsgericht ... gegen den Angeklagten Strafbefehl wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis, welcher dem Verteidiger am 09.09.2020 zugestellt wurde. Mit Schriftsatz vom selben Tage legte der Verteidiger Einspruch ein und beantragte seine Beiordnung als Pflichtverteidiger, da sich der Angeklagte seit ... in Untersuchungshaft in anderer Sache (Haftbefehl des Amtsgerichts ... vom ...) befinde. Die Staatsanwaltschaft trat dem Beiordnungsantrag nicht entgegen. Mit Beschluss vom 07.12.2020 stellte das Amtsgericht ... das Verfahren gemäß § 154 Abs. 2 StPO vorläufig ein und lehnte mit weiterem Beschluss vom selben Tage die Pflichtverteidigerbeiordnung ab, da aufgrund der Verfahrenseinstellung eine Beiordnung nicht mehr in Betracht käme und die Beiordnung nicht dem Kosteninteresse des Angeklagten sowie seines Verteidigers diene. Der Beschluss wurde dem Angeklagten sowie seinem Verteidiger lediglich formlos übersandt.

2

Gegen den Beschluss wendet sich der Angeklagte mit Schriftsatz seines Wahlverteidigers vom 28.12.2020, eingegangen beim Amtsgericht am selben Tage. Der Beschwerde hat das Amtsgericht ... nicht abgeholfen.

II.

3

Das als sofortige Beschwerde auszulegende Begehren des Angeklagten ist statthaft, auch sonst zulässig und begründet.

4

Insbesondere ist die Beschwer des Angeklagten auch nicht dadurch entfallen, dass das Verfahren gemäß § 154 Abs. 2 StPO eingestellt wurde und eine Beiordnung rückwirkend erfolgen muss. Eine rückwirkende Pflichtverteidigerbeiordnung hat entgegen der überwiegenden bisherigen, zur alten Rechtslage geltenden Auffassung der Oberlandesgerichte dann zu erfolgen, wenn ein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegt, ein Antrag auf Beiordnung rechtzeitig gestellt war und das Erfordernis der Unverzüglichkeit der Bestellung nicht beachtet wurde (vgl. LG Frankenthal, Beschl. v. 16.06.20 - 7 Qs 114/20; LG Flensburg, Beschl. v. 09.12.2020 - II Qs 43/20; LG Mannheim, Beschl. v. 26.03.2020 - 7 Qs 11/20; zitiert nach beckonline). Dies gilt insbesondere mit Blick auf die Intention des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung (vgl. BT-Drucksache 19/13829 sowie 19/15151). Die auch vom Amtsgericht in seiner Beschwerdeentscheidung vertretene, auf die alte Gesetzeslage aufbauende Auffassung, die Pflichtverteidigerbestellung diene allein dem Zweck der Verfahrenssicherung und des Rechtsbeistandes in schwierigen Fällen, greift nicht mehr durch. Mit der Neuregelung der Normen zur Pflichtverteidigerbestellung erfolgte die Umsetzung des Art. 4 der PKH-Richtlinie, die das Kosteninteresse des Angeklagten nunmehr in den Schutzzweck aufnimmt (vgl. Meyer-Goßner / StPO, 63. A., § 142 / Rn.20). Letztlich würde die Versagung einer rückwirkenden Bestellung trotz rechtzeitigen Beiordnungsantrags dazu führen, dass der mittellose Beschuldigte auf Verteidigung - trotz Vorliegens der Voraussetzungen notwendiger Verteidigung - verzichten müsste, also nicht nur auf Kostenerstattung, da Rechtsanwälte in Kenntnis einer Versagung rückwirkender Bestellungen in der Endphase eines Verfahrens nicht mehr zur Übernahme der Verteidigung mittelloser Beschuldigter bereit wären (vgl. MüKo StPO, 1. A. 2014, § 141 / Rn. 9 unter Verweis auf die Rechtsprechung zahlreicher Landgerichte). Auch bei und nach einer Verfahrenseinstellung kann überdies der Zweck einer Pflichtverteidigerbestellung - im Bereich von Entscheidungen nach dem StrEG oder in Kostenfragen - grundsätzlich noch erreicht werden (vgl. LG Flensburg, Beschl. v. 09.12.2020 - II Qs 43/20 m. w. N.; zitiert nach beckonline). Im Ergebnis geht die Verzögerung der Bescheidung von Beiordnungsanträgen daher mit einer erheblichen Belastung des Beschuldigten einher, welche so nicht hinzunehmen ist (vgl. insgesamt LG Frankenthal, Beschl. v. 16.06.2020 - 7 Qs 114/20).

5

Die Voraussetzungen für eine rückwirkende Beiordnung sind vorliegend gegeben, sodass die Kammer als Beschwerdegericht gemäß § 309 Abs. 2 StPO diese Entscheidung selbst vorgenommen hat. Zum Zeitpunkt der Antragstellung lag ein Fall der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO vor. In welchem Verfahren die Untersuchungshaft vollzogen wird, ist - was durch die Neuregelung in § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO ausdrücklich klargestellt worden ist - ohne Belang (BeckOK-Graf / StPO, 38. Edition, § 140 / Rn. 12 m.w.N.). Der Beiordnungsantrag war auch rechtzeitig - und zwar mit Einspruchseinlegung gegen den Strafbefehl - mit Schriftsatz vom 09.09.2020 gestellt worden. Über diesen Antrag hat das Amtsgericht nicht unverzüglich im Sinne des § 141 Abs. 1 S. 1 StPO und damit nicht rechtzeitig entschieden. Zwar bedeutet eine unverzügliche Bestellung in diesem Zusammenhang nicht, dass sie sofort zu erfolgen hat, allerdings so rechtzeitig, dass die Verteidigungsrechte gewahrt werden (BT-Drucksache 19/13829, S.37). Zwischen der Antragsstellung und der Entscheidung des Amtsgerichts vom 07.12.2020 sind vorliegend drei Monate vergangen. Dieser Zeitablauf ist allein justizinternen Vorgängen geschuldet, auf welche der Angeklagte keinerlei Einfluss hatte. Bereits mit Beantragung der Beiordnung hatte der Verteidiger durch Übersendung einer Haftdatenübersicht das Aktenzeichen des Verfahrens mitgeteilt, welches letztlich auch zur Verfahrenseinstellung nach § 154 Abs. 2 StPO im hiesigen Verfahren führte, sodass von ihm zu vertretene Hinderungsgründe nicht ersichtlich sind. Selbst wenn die Zugrundelegung einer Frist von ein bis zwei Wochen für eine rechtzeitige Entscheidung im Sinne einer Unverzüglichkeit (so zu § 141 Abs. 4 S. 4 StPO a. F. anerkannt - vgl. u.a. OLG Hamm, Beschl. v. 19. 10. 2010 - 3 RVs 87/10; LG Bochum, Beschl. v. 18.9.2020 - II-10 Qs-36 Js 596/19 - 6/20; zitiert nach beckonline) überspannt erscheint, ist nach Auffassung der Kammer jedenfalls ein Zeitraum von drei Monaten im hiesigen Verfahren nicht mehr vertretbar.

6

Letztlich steht auch die Ausnahmeregelung des § 141 Abs. 2 S. 3 StPO im vorliegenden Fall der Beiordnung nicht entgegen, da dieser für die Fälle der notwendigen Verteidigung nach § 141 Abs. 1 S. 1 StPO ausdrücklich nicht, sondern nur für die in § 141 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 und 3 StPO genannten Fälle gilt (BeckOK-Graf / StPO, 38. Edition, § 141 / Rn. 22). Nach alledem war der Beschluss des Amtsgerichts aufzuheben und die Beiordnung rückwirkend vorzunehmen.

7

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 467 StPO analog.

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