Beschluss vom Oberlandesgericht Celle (5. Strafsenat) - 5 StS 1/20

Tenor

Der Antrag der Angeschuldigten vom 25. April 2020, ihr Rechtsanwalt A. als weiteren Pflichtverteidiger beizuordnen, wird abgelehnt.

Gründe

I.

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1. Die Generalstaatsanwaltschaft Celle legt in ihrer vom 3. April 2020 datierenden und am 8. April 2020 erhobenen Anklageschrift der Angeschuldigten zur Last, sich spätestens seit dem 8. Dezember 2014 in S. durch drei selbstständige Handlungen als Mitglied an der ausländischen terroristischen Vereinigung „Islamischer Staat“(IS) beteiligt und durch zwei dieser Handlungen zugleich über Kriegswaffen die tatsächliche Gewalt ausgeübt zu haben, ohne dass der Erwerb der tatsächlichen Gewalt auf einer Genehmigung nach dem Gesetz über die Kontrolle von Kriegswaffen beruht habe oder eine entsprechende Anzeige nach dem Gesetz über die Kontrolle von Kriegswaffen erstattet worden sei. Der Angeschuldigten werden die Verbrechenstatbestände des „§ 129b Abs. 1 Satz 1 und 2 i. V. m. § 129a Abs. 1 Nrn. 1 und 2 StGB, § 22a Abs. 1 Nr. 6 lit. a KrWaffKG i. V. m. Teil B Nr. 29 Buchstabe c der Anlage zum KrWaffKG“ zur Last gelegt.

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Konkret soll sich die Angeschuldigte als Anhängerin des salafistischen Islams spätestens im Dezember 2014 ihrer Ideologie folgend der ausländischen terroristischen Vereinigung „Islamischer Staat" (IS) angeschlossen haben, indem sie mit Unterstützung des Netzwerkes um die gesondert verfolgten „A. W.“, H. C. und B. S. u. a. zusammen mit ihrem ihr nach islamischem Recht angetrauten und vormals gesondert verfolgten Ehemann S. A. über die T. nach R./S. ausgereist sei, wobei die beiden dort zumindest bis einschließlich 2015 vom „IS“ für ihren Lebensunterhalt monatlich alimentiert worden seien und wobei die Angeschuldigte von S. aus die Ausreise mehrerer Frauen von D. in das Herrschaftsgebiet des „IS“ organisiert, dort die Heirat mit „IS“-Kämpfern vermittelt und ihre Verbundenheit zum „IS“ auch dadurch zum Ausdruck gebracht habe, dass sie ihren eigenen Ehemann als IS-Kämpfer in seinem bewaffneten Kampf, beispielsweise in K., dadurch gefördert habe, dass sie ihn zum Kampf aufgefordert und sich um die Haushaltsführung und die Erziehung der gemeinsamen Kinder im Sinne der „IS“-Ideologie gekümmert habe. Gegenüber Kommunikationspartnern in D. soll die Angeschuldigte die Situation im Gebiet des „IS“ gelobt und für eine Ausreise in das Gebiet der terroristischen Organisation gegenüber der Schwester von S. A., D. A., ab dem 07.01.2015 mittels diverser, im Einzelnen näher bezeichneten Textnachrichten geworben haben.

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2. Die Hauptverhandlung soll nach dem Antrag der Generalstaatsanwaltschaft im ersten Rechtszug vor dem hiesigen Oberlandesgericht stattfinden. Die Anklageschrift benennt als Beweismittel neben zahlreichen Urkunden und Augenscheinobjekten drei mit den Ermittlungen befasste (Landes)Polizeibeamte, drei weitere Polizeibeamte des BKA zur Struktur des IS sowie zehn nichtpolizeiliche Personen als Zeugen, sachverständige Zeugen bzw. Sachverständige sowie insgesamt sieben weitere Personen als Sachverständige; bei diesen handelt es sich in der Mehrzahl um Islamwissenschaftler sowie einen psychiatrischen Sachverständigen. Die Angeschuldigte sowie sämtliche Beweispersonen sind (nach Aktenlage) der deutschen Sprache ausreichend mächtig.

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Die dem Senat vorgelegten Akten umfassten vier. Bände Hauptakten, ein fünfter Band wurde zwischenzeitlich durch den Senat angelegt, fünf Sonderhefte betreffend “Erkenntnisse aus dem Verfahren gegen S. A.“ und damit Auszüge aus dem vormals gegen diesen gesondert geführten Ermittlungsverfahren, ein Sonderheft „Struktur IS“, ein Sonderheft „TKÜ“ und ein Sonderheft „Aktennachgänge“.

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3. Mit Schreiben vom 2. Dezember 2019 hat sich die Verteidigerin unter Vorlage einer vom 8. Januar 2019 datierenden Vollmacht für das hiesige Verfahren legitimiert. Durch Beschluss des Ermittlungsrichters des OLG Celle vom 4. Dezember 2019 ist die Verteidigerin der Angeschuldigten gemäß § 140 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 2, Nr. 4 StPO (a.F.) beigeordnet worden. Die Verteidigerin hat der Angeschuldigten in dieser Sache durchgängig und – soweit ersichtlich – einzig als Rechtsbeistand gedient. Sie hat in der Folge wiederholt und vollständige Akteneinsicht erhalten. Die Angeschuldigte war in dieser Sache am 3. Dezember 2019 aufgrund des Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Oberlandesgerichts Celle vom 27. November 2019 festgenommen worden und befindet sich seit diesem Zeitpunkt für das hiesige Verfahren ununterbrochen in Untersuchungshaft.

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Der Vorsitzende hatte sogleich nach Eingang der Akten mit deren Sichtung begonnen und, nachdem ihm bei vorläufiger Würdigung der Sach-und Rechtslage die Eröffnung des Hauptverfahrens naheliegend erschien, am 17. April 2020 mit dem psychiatrischen Sachverständigen bzw. dem Büro der Verteidigerin Kontakt aufgenommen, um mögliche Haupthandlungstermine in den Blick zu nehmen. Nachdem der Sachverständige durch sein Büro, wie im Vermerk des Vorsitzenden vom 17. April 2020 niedergelegt, erklärt hatte, aufgrund von Urlaub bzw. sonstigen beruflichen Verpflichtungen im Monat Juni 2020 praktisch nicht zur Verfügung zu stehen, hat der Vorsitzende der Verteidigerin im einzelnen benannte Termine, beginnend ab dem 29. Juni 2020, angeboten. Mit Schreiben vom 22. April 2020, ergänzt durch weiteres Schreiben vom 5. Mai 2020 hat die Verteidigerin von den konkret benannten insgesamt 27 möglichen Verhandlungstagen im Zeitraum von Juli bis Anfang November 2020 insgesamt 22 Termine bestätigt, auch den des nunmehr als Verhandlungsbeginn in den Blick genommenen 3. Juli 2020. Der Senat wird - vorbehaltlich der abschließenden Beratung über die Eröffnung des Hauptverfahrens – die Hauptverhandlung mit einer durchschnittlichen Verhandlungsfrequenz von mehr als einem Sitzungstag wöchentlich durchführen.

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4. Der Antrag auf Beiordnung von Rechtsanwalt A. wird damit begründet, es sollen mehr als 20 Verhandlungstage anberaumt werden und trotz aller Vorsichtsmaßnahmen bestehe die Möglichkeit, dass sich die Verteidigerin, die beruflich bundesweit unterwegs sei, mit Covid-19 infizierte. In diesem Fall müsste sie sich wochenlang in Quarantäne begeben, die meist auch behördlich angeordnet werde. Eine solche Maßnahme könne vier Wochen oder sogar noch länger andauern. Um das Verfahren nicht zu gefährden, welches zudem als Haftsache dem Beschleunigungsgrundsatz unterliege, halte sie es für geboten, der Angeschuldigten einen weiteren, von ihr benannten Pflichtverteidiger beizuordnen. Über den Hinweis auf ihre bundesweite Tätigkeit hinaus wird ein konkretes bzw. erhöhtes Infektionsrisiko von der Verteidigerin nicht dargelegt und ist auch nicht ersichtlich.

II.

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Der Antrag der Angeschuldigten ist unbegründet. Zur Sicherung der zügigen Durchführung des Verfahrens bedarf es der Beiordnung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers nicht.

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1. Gemäß § 144 Abs. 1 StPO, eingeführt mit Wirkung zum 13. Dezember 2019 durch das Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung vom 10. Dezember 2019 (BGBl. I S. 2128), können in Fällen der notwendigen Verteidigung einem Beschuldigten zu seinem gewählten oder gemäß § 141 StPO bestellten Verteidiger „bis zu zwei weitere Pflichtverteidiger zusätzlich“ bestellt werden, „wenn dies zur Sicherung der zügigen Durchführung des Verfahrens, insbesondere wegen dessen Umfang oder Schwierigkeit, erforderlich ist.“

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a) Aus ihrem insoweit eindeutigen Wortlaut ergibt sich, dass Prämisse und zentrale Voraussetzung dieser Norm – neben den weiteren Voraussetzungen des Falles einer notwendigen Verteidigung und der bereits erfolgten Beauftragung bzw. Bestellung eines Verteidigers – ist, dass die Beiordnung eines weiteren Pflichtverteidigers zur Sicherung der zügigen Durchführung des Verfahrens erforderlich sein muss. Der Beiordnung muss mithin nicht nur eine die weitere Durchführung des Verfahrens sichernde Wirkung zukommen, sie muss vielmehr zum Zeitpunkt ihrer Anordnung auch erforderlich sein. Dem – insoweit auch hier maßgeblichen – allgemeinem Sprachgebrauch folgend bedeutet dies, die Beiordnung eines weiteren Pflichtverteidigers muss zur Sicherung der weiteren Durchführung des Verfahrens wenn auch nicht unerlässlich, so aber doch zumindest notwendig sein. Eine die Durchführung des Verfahrens beschleunigende Wirkung muss der Beiordnung, wie die Verwendung des Adjektivs „zügig“ vermuten lassen könnte, hingegen nicht zukommen. Der Gesetzgeber dürfte hier vielmehr seiner Hoffnung Ausdruck verliehen haben, dass durch die Beiordnung das Verfahren auch weiterhin „zügig“ durchgeführt werden kann. Soweit der Gesetzgeber beispielhaft „Umfang oder Schwierigkeit“ des Verfahrens anführt, hat er sich ersichtlich eines Regelbeispiels bedient und dabei einen der Hauptanwendungsfälle benannt, in welchem die Beiordnung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers in Frage kommt.

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b) Die Umstände, die einer zügigen Durchführung des Verfahrens entgegenstehen können und denen durch die Beiordnung eines solch zusätzlichen Verteidigers entgegengewirkt werden kann bzw. gegen die das Verfahren abgesichert werden soll, sind vielgestaltet und dürften aus diesem Grunde nicht abschließend aufgeführt worden sein. Sie können sich sowohl aus den tatsächlichen und rechtlichen Besonderheiten bzw. „Umfang oder Schwierigkeit“ als auch unabhängig hiervon alternativ oder gar auch kumulativ aus der Person des bereits gewählten bzw. nach § 141 StPO bestellten Verteidigers ergeben. Letzteres ergibt unmittelbar aus den Materialien des zum Gesetz gewordenen Entwurf zu § 144 StPO. So wird in der Begründung der Bundesregierung betreffend den Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung ausgeführt, eine Erforderlichkeit könne sich aus Gründen in der Person des Verteidigers wie bspw. (s)einer Krankheit ergeben (BT-Drs. 19/13829, S. 49). Diese Auffassung ist mit dem Wortlaut der Norm vereinbar. Der Gesetzgeber hat in § 144 Abs. 1 StPO zudem ersichtlich zwei Fälle geregelt, einen schlichten und einen qualifizierten Fall. Im qualifizierten Fall schien ihm die Bestellung nur eines weiteren Pflichtverteidigers nicht ausreichend, vielmehr die Bestellung von „zwei Pflichtverteidigern zusätzlich“ geboten.

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aa) Für den Fall, dass mit der Beiordnung einer Gefährdung der zügigen Durchführung der Hauptverhandlung, wie hier der geltend gemachten Möglichkeit der Erkrankung der Verteidigerin begegnet werden soll, folgt aus der Tatsache der Erforderlichkeit der Beiordnung, dass diese Gefahr entsprechend der im Verwaltungsrecht geltenden Abgrenzung von Gefahrenlagen grundsätzlich nicht nur abstrakt, sondern konkret sein muss. Es reicht mithin regelmäßig nicht aus, wenn es sich um eine nach allgemeiner Lebenserfahrung nur mögliche Sachlage handelt, es muss vielmehr eine hinreichende Wahrscheinlichkeit bestehen, dass sich die Gefahr in absehbarer Zeit auch verwirklicht. Nur in einem solchen Fall wäre die Beiordnung auch erforderlich bzw. notwendig.

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bb) Soll sich die Erforderlichkeit der Sicherung hingegen aus „Umfang oder Schwierigkeit“ des Verfahrens ergeben, kann bei der Auslegung dieser unbestimmten Rechtsbegriffe nicht auf die ober- bzw. höchstrichterliche Rechtsprechung zu § 140 Abs. 2 StPO (vgl. zu dieser KK-StPO/Willnow, 8. Aufl., § 140 Rn. 20 ff. m.w.N. auf die Rspr.) zurückgegriffen werden, wonach die „Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage“ die Beiordnung eines Verteidigers gebieten kann. Für einen Rückgriff könnte jedenfalls auf den ersten Blick sprechen, dass sich der Gesetzgeber bei der Konzeption des § 144 Abs. 1 StPO und dessen Voraussetzungen, wonach in einem Verfahren die Bestellung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers nach pflichtgemäßen Ermessen „insbesondere wegen dessen Umfang oder Schwierigkeit“ in Betracht kommen kann, offenbar an der Regelung über die notwendige Verteidigung und deren Generalklausel in § 140 Abs. 2 StPO (der Begriff findet in der alten wie in der neuen Fassung dieser Vorschrift Verwendung) orientiert hat. Dies ergibt sich zum einen aus dem direkten, am Wortlaut orientierten Vergleich der tatbestandlichen Voraussetzungen beider Normen. Beide eröffnen im Falle des „Umfangs oder (der) Schwierigkeit“ des Verfahrens, so § 144 Abs. 1 StPO, bzw. der „Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage“, so § 140 Abs. 2 StPO, die Bestellung eines Pflichtverteidigers. Zum anderen ergibt sich die Orientierung des Gesetzgebers an § 140 Abs. 2 StPO aus den Materialen. Im Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung vom 9. Oktober 2019 wird u.a. ausgeführt, nicht zuletzt könne wegen der „Schwierigkeit der Sache“ (vgl. BT-Drucksache 19/13829, a.a.O.) - und damit wegen eines bereits von § 140 Abs. 2 StPO erfassten Grundes - die Mitwirkung eines einzigen Verteidigers nicht ausreichen, mithin die Beiordnung eines weiteren Verteidigers geboten sein. Entscheidend ist indes und spricht gegen einen isolierten Rückgriff auf die zu § 140 Abs. 2 StPO ergangenen und diesbezüglich auch weiter gültige Rechtsprechung, dass § 140 Abs. 2 StPO die erstmalige, § 144 Abs. 1 StPO hingegen die darüberhinausgehende Möglichkeit der Bestellung eines zweiten bzw. gar dritten Verteidigers eröffnet und allein aus diesem Grunde der Begriff „Umfang oder Schwierigkeit“ des Verfahrens in § 144 Abs. 1 StPO anders auszulegen ist als der der „Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage“ in § 140 Abs. 2 StPO. Hierfür spricht auch, dass durch die Verwendung des Adverbs „insbesondere“ in § 144 Abs. 1 StPO hier nur solche Fälle des „Umfangs oder Schwierigkeit“ einschlägig sein sollen, die der weiterhin „zügigen Durchführung“ des Verfahrens entgegenstehen könnten.

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2. Ausgehend von dem vorstehend aufgezeigten Regelungsgehalt des § 144 Abs. 1 StPO gilt für den hier zu entscheidenden Fall Folgendes:

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a) Zwar handelt es sich um einen Fall der notwendigen Verteidigung gemäß § 140 Abs. 1 Nr. 1, 2 und 5 StPO (i.d.F. des Gesetzes v. 10. Dezember 2019). Auch ist der Angeschuldigten mit Rechtsanwältin … gemäß § 141 StPO bereits eine Verteidigerin bestellt worden. Indes sind die weiteren Voraussetzungen des § 144 Abs. 1 StPO nicht erfüllt. Die Sicherung der zügigen Durchführung des Verfahrens, insbesondere dessen Umfang oder Schwierigkeit, erfordert die Bestellung – auch nur – eines weiteren Pflichtverteidigers nicht. Bereits nach der vor Inkrafttreten des § 144 StPO die Zulässigkeit der Beiordnung eines weiteren Pflichtverteidigers als Sicherungsverteidiger bejahenden Rechtsprechung war eine solche Bestellung nur in eng begrenzten Ausnahmefällen in Betracht ziehen (vgl. zu dieser Rspr. BeckOK-StPO/Krawczyk, 36. Edition, § 144 Rn. 1 m.w.N.). Ein solcher Fall war nur gegeben, wenn hierfür etwa wegen des besonderen Umfangs oder der Schwierigkeit der Sache ein „unabweisbares Bedürfnis“ bestand, um eine sachgerechte Wahrnehmung der Rechte des Angeklagten und einen ordnungsgemäßen Verfahrensverlauf zu gewährleisten. Ein solches unabweisbares Bedürfnis bei einer besonderen Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage war ferner angenommen worden, wenn sich die Hauptverhandlung über einen längeren Zeitraum erstreckte und zu ihrer ordnungsgemäßen Durchführung sichergestellt werden musste, dass auch bei dem vorübergehenden Ausfall eines Verteidigers weiterverhandelt werden kann, oder der Verfahrensstoff so außergewöhnlich umfangreich schien, dass er nur bei arbeitsteiligem Zusammenwirken zweier Verteidiger beherrscht werden konnte (vgl. etwa KG, Beschluss vom 6. Juli 2016 - 2 Ws 176/16 – BeckRS 2016, 111377). Eben diese Rechtsprechung hatte der Gesetzgeber im Blick, als er „die Umsetzung der PKH-Richtlinie [(gemeint ist hier die Richtlinie (EU) 2016/1919 über Prozesskostenhilfe für Verdächtige und beschuldigte Personen in Strafverfahren)] zum Anlass (nahm), Voraussetzungen und Dauer der Bestellung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers (…) gesetzlich zu regeln“ (so BT-Drucksache 19/13829 a.a.O.). Auf die bisherige ober- bzw. höchstrichterliche Rechtsprechung bezüglich der Voraussetzungen für die Beiordnung eines sogenannten Sicherungsverteidigers kann somit bei der Auslegung des § 144 Abs. 2 StPO weitestgehend zurückgegriffen werden.

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b) Ein solcher Ausnahmefall liegt hier indes nicht vor, die „Sicherung der zügigen Durchführung des Verfahrens“ und insbesondere dessen „Umfang oder Schwierigkeit“ gebieten die Beiordnung von Rechtsanwalt A. nicht.

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aa) Soweit die Verteidigerin vorbringt, sie könnte im Laufe des Verfahrens bzw. während der Hauptverhandlung an dem Corona-Virus erkranken und in diesem Fall könnte Rechtsanwalt A. die Verteidigung der Angeschuldigten übernehmen, hätte dessen Beiordnung als zusätzlicher Pflichtverteidiger tatsächlich eine sichernde Wirkung bzw. wäre geeignet, der von der Verteidigerin aufgezeigten Gefahr zu begegnen. Diese Gefahr ist indes lediglich eine abstrakte. Die Verteidigerin zeigt hier – auch unter Berücksichtigung ihrer bundesweiten Reisetätigkeit – das allgemeine Infektionsrisiko auf, dem sie wie sämtliche anderen Verfahrensbeteiligten ausgesetzt ist. Die Gefahr ihrer Erkrankung ist indes nicht konkret und damit die beantragte Beiordnung von Rechtsanwalt A. nicht erforderlich bzw. notwendig, es besteht entsprechend der vorstehend dargestellten Rechtsprechung kein „unabweisbares Bedürfnis“ (so KG a.a.O.) für die Beiordnung von Rechtsanwalt A. Für den Fall, dass sich die Verteidigerin etwa aufgrund einer entsprechenden Verdachtslage der üblichen, regelmäßig lediglich zweiwöchigen Quarantäne unterziehen müsste, könnte das Verfahren entsprechend § 229 Abs. 1 StPO durch den Vorsitzenden sogar für bis zu drei Wochen unterbrochen werden. Dem steht nicht entgegen, dass es sich vorliegend um eine Haftsache handelt und die Verteidigerin zutreffend darauf hingewiesen hat, dass dieses dem besonderen Beschleunigungsgebot unterliegt. Wie jedes Strafverfahren unterliegen auch Haftsachen verfahrensimmanent Risiken, die zu Verfahrensverzögerungen führen könnten. Die Existenz derartiger Risiken gebietet indes nicht die Beiordnung eines weiteren, zusätzlichen Pflichtverteidigers. Dies gilt uneingeschränkt in Fällen wie dem vorliegenden, wenn es sich lediglich um ein abstraktes Risiko bzw. eine abstrakte Gefahr handelt. Dass die Verteidigerin tatsächlich an dem Corona-Virus erkrankt, ist im Hinblick auf die kontinuierlich sinkenden Zahlen der täglichen Neuinfektionen zudem unwahrscheinlich. Der Senat würde die Hauptverhandlung zudem unter Beachtung der Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts und damit unter Gewährleistung eines erhöhten Infektionsschutzes durchführen.

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bb) Die Beiordnung von Rechtsanwalt A. ist insbesondere auch im Hinblick auf „Umfang oder Schwierigkeit“ des Verfahrens nicht geboten. Gegenstand des sich gegen die – einzige - Angeschuldigte richtenden Verfahrens ist entsprechend den vorstehenden Darlegungen unter I.1. kein besonders umfangreiches bzw. in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht schwieriges Verfahren. Die Angeschuldigte ist darüber hinaus ebenso wie wohl sämtliche der mutmaßlich zu hörenden Zeugen nach Aktenlage der deutschen Sprache mächtig. In tatsächlicher Hinsicht basiert der Tatvorwurf im Wesentlichen auf den Aussagen von circa acht nichtpolizeilichen Zeugen sowie auf der verschrifteten WhatsApp-Kommunikation zwischen mutmaßlich der Angeschuldigten bzw. deren verstorbenen Ehemann mit Verwandten, insoweit mithin auf Urkunden bzw. Augenscheinbeweis. Verhältnismäßig „kompakt“ - jedenfalls für ein Staatsschutzverfahren - ist auch der oben unter I. 2. dargelegte Aktenumfang von nunmehr fünf Bänden Hauptakten und verhältnismäßig wenigen Sonderheften. Hinsichtlich der Dauer der Hauptverhandlung existiert weder von Gesetzes wegen noch nach der bisherigen Rechtsprechung eine starre Grenze dergestalt, dass ab einer bestimmten Anzahl von Verhandlungstagen die Beiordnung eines zweiten Pflichtverteidigers in der Regel erforderlich ist. Die Beiordnung eines zweiten Pflichtverteidigers als Sicherungsverteidiger im Fall von außergewöhnlich langen Hauptverhandlungen beruhte jedenfalls nach der bisherigen Rechtsprechung auf der Erfahrung, dass sich bei derart außergewöhnlich langen Hauptverhandlungen die Wahrscheinlichkeit erhöht, ein Verteidiger könnte durch Erkrankung für einen längeren Zeitraum als durch Unterbrechungen überbrückbar ausfallen (KG a.a.O.; OLG Brandenburg v. 19. März 2003 - 1 - Ws 27/03, OLG-NL 200 3,261). Im Hinblick auf die Neuregelung durch § 144 StPO dürften Fälle dieser Art nur noch anzunehmen sein, wenn sich die absehbare Dauer der Hauptverhandlung über einen so langen Zeitraum erstreckt, dass eine Verhinderung des Verteidigers - jedenfalls unter Berücksichtigung der Besonderheiten des jeweils zu beurteilenden Einzelfalls - konkret zu besorgen ist. Dies ist wie vorstehend dargelegt nicht der Fall.

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Schließlich bliebe dem Senat in dem unwahrscheinlichen Fall, dass die Verteidigerin an dem Corona-Virus erkranken sollte immer noch die Möglichkeit zu reagieren und der Angeschuldigten sodann einen weiteren Pflichtverteidiger zu bestellen. Diese Möglichkeit einer Pflichtverteidigerbestellung während der laufenden Hauptverhandlung sieht § 145 StPO Abs. 1 StPO ausdrücklich vor (ebenso KG a.a.O.). Eine solche Beiordnung wäre geeignet, einen vorübergehenden krankheitsbedingten Ausfall der Pflichtverteidigerin jedenfalls mit solchen wenigen und kurzen Verhandlungstagen zu überbrücken, die einerseits noch eine materielle Förderung des Verfahrens gewährleisten, anderseits indes auch dem Umstand Rechnung tragen würden, dass an diesen Tagen ein/e Verteidiger/in tätig würde, der bzw. die den Verfahrensstand nicht so vollständig überblickt, wie dies durch die seit dem 8. Januar 2019 beauftragte und zwischenzeitlich beigeordnete Verteidigerin der Fall ist.

III.

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Gegen diese Entscheidung ist die sofortige Beschwerde statthaft, §§ 304 Abs. 5, 144 Abs. 2 Satz 2 StPO i.V.m. § 142 Abs. 7 StPO.

 


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