Beschluss vom Oberlandesgericht Hamm - 1 Vollz(Ws) 340/16
Tenor
Die Rechtsbeschwerde wird zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zugelassen.
Der angefochtene Beschluss wird mit Ausnahme der Festsetzung des Geschäftswertes aufgehoben.
Es wird festgestellt, dass die Ablehnung des Antrags des Betroffenen auf Gewährung einer Ausführung nach § 53 Abs.1, Abs. 2 Nr.1 StVollzG NRW wegen Fluchtgefahr rechtsfehlerhaft erfolgt ist und damit rechtswidrig war.
Die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens und des Verfahrens erster Instanz sowie die dem Betroffenen in diesen Verfahren jeweils entstandenen notwendigen Auslagen werden der Landeskasse auferlegt.
1
Gründe:
2I.
3Der Betroffene verbüßt derzeit eine Freiheitsstrafe von acht Jahren und sechs Monaten wegen besonders schwerer räuberischer Erpressung. Er befindet sich seit dem 03.07.2014 in der Justizvollzugsanstalt Aachen. Das Strafende ist auf den 08.11.2020 notiert.
4Nach den Feststellungen der Strafvollstreckungskammer in dem angefochtenen Beschluss beantragte der Antragsteller am 26.09.2015 für den 04.12.2015 oder 07.12.2015 eine Ausführung zu seiner Mutter in E, da diese aufgrund ihres Gesundheitszustandes nicht mehr in der Lage sei, ihn zu besuchen. In der Vollzugskonferenz am 21.01.2016 entschied die Antragsgegnerin, die beantragte Ausführung abzulehnen, da ein aktuelles Attest zum Gesundheitszustand der Mutter nicht vorgelegt worden sei. Die Ablehnung wurde nach den Feststellungen der Strafvollstreckungskammer auf folgende weitere Erwägungen gestützt:
5„Die beantragte Ausführung sei daher als normale Ausführung zu prüfen, da eine lebensgefährliche Erkrankung naher Angehöriger nach § 55 StVollzG NRW nicht bekannt sei. Der Gefangene sei in einem Einzelhaftraum untergebracht, er sei ein Einzelgänger, der keine Kontakte zu den Mitgefangenen pflege. Auch Gespräche mit dem Bediensteten versuche er zu vermeiden, indem er wegschaue, wenn man ihn anspreche. Die meiste Zeit mache der Gefangene einen verwahrlosten und verwirrten Eindruck auf die Bediensteten, er sei in seiner Art nicht einschätzbar. Er vertrete hinsichtlich der abgeurteilten Straftat eine konsequente Leugnungshaltung. Die Fluchtgefahr sei nicht hinreichend sicher auszuschließen. Im Rahmen einer vorherigen Inhaftierung habe er versucht, aus der JVA Geldern auszubrechen. Darauf angesprochen habe er geäußert, lediglich den Beweis beschaffen zu wollen, dass eine Waffe, die er für die damalige Straftat benutzt habe, nicht „scharf“ gewesen sei. Der Gefangene habe bislang an keinen Behandlungsmaßnahmen in der Anstalt teilgenommen, auch bestehe nur sehr sporadischer Kontakt zu den Angehörigen des Gefangenen, sein soziales Umfeld könne nicht eingeschätzt werden. Es habe bis zum dritten Quartal eine erhöhte Fluchtgefahr bestanden. In der Anstalt sei der Gefangene bisher nicht negativ aufgefallen. Auch in der Voranstalt seien keine Auffälligkeiten festgehalten worden. Die Ausführung könne aufgrund der nicht gegebenen Notwendigkeit – es läge nach den Erkenntnissen keine lebensbedrohliche Erkrankung der Mutter vor – sowie der immer noch zu befürchtenden Fluchtgefahr aufgrund der konsequenten Leugnungshaltung und fehlenden Schuldeinsicht nicht genehmigt werden und werde daher abgelehnt.“
6Dieses Ergebnis der Vollzugskonferenz wurde dem Betroffenen mit einem ihm am 30.01.2016 ausgehändigten Bescheid vom 28.01.2016 mitgeteilt.
7Am 23.02.2016 beantragte der Antragsteller erneut eine Ausführung zu seiner Mutter in das Altenwohnheim in E, da sie zu 100 % schwerbehindert sei und ihn daher seit fast drei Jahren nicht mehr habe besuchen können. Er könne diese Behauptung nicht durch Atteste belegen, da er keine Möglichkeit habe, diese zu erhalten. Die zuständige Abteilungsleitung könne aber den Zustand seiner Mutter telefonisch erfragen. Dieser Antrag wurde am 24.02.2016 unter Bezugnahme auf die Entscheidung vom 28.01.2016 abgelehnt mit der Begründung, dass aufgrund der Kürze der Zeit keine neuen Erkenntnisse gewonnen worden seien.
8Hiergegen wandte sich der Betroffene mit seinem Antrag auf gerichtliche Entscheidung vom 27.02.2016, mit dem er die Ablehnung der beantragten Ausführung als ermessensfehlerhaft beanstandete und ausführte, die besondere Bedeutung der familiären Beziehung zu seiner Mutter sei nicht berücksichtigt worden. Mit jedem Monat, der vergehe, ohne dass er seine Mutter besuchen könne, steige die Gefahr, dass sie sterben werde, bevor er sie nochmals sehen werde.
9Ende März 2016 verstarb die Mutter des Betroffenen.
10Dieser beantragte daraufhin (sinngemäß) festzustellen, dass die Ablehnung der Gewährung der Ausführung rechtswidrig gewesen sei, sowie die Bestimmung eines Ausführungstermins durch das Gericht, da er das Grab seiner Mutter besuchen wolle. Zur Begründung führte er aus, wenn die Anstaltsleitung sich nach seinem Antrag vom 23.02.2016 telefonisch in dem Altenwohnheim nach dem Gesundheitszustand seiner Mutter erkundigt hätte, hätte sie erfahren, dass diese damals im Sterben gelegen habe. Er habe diesen Umstand am 29.03.2016 auch selbst mitgeteilt. Ausführungen aus der Justizvollzugsanstalt seien bereits erfolgt. Denn er sei bereits mehrfach ohne Handfesseln zu ärztlichen Behandlungen in eine Augenklinik und zu einem auswärtigen Arzt ausgeführt worden.
11Die Strafvollstreckungskammer hat mit dem angefochtenen Beschluss den Antrag des Betroffenen, festzustellen, dass die Ablehnung der Gewährung der Ausführung rechtswidrig gewesen sei, als unbegründet verworfen.
12Die Strafvollstreckungskammer ist zu Gunsten des Betroffenen davon ausgegangen, dass er seinen Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Ablehnung seines Antrags auf Ausführung zu seiner kranken Mutter weiterverfolgen wolle. Zwar habe er zusätzlich die Bestimmung eines Termins zur Ausführung an das Grab seiner Mutter beantragt. Ein solcher Antrag sei aber nicht Gegenstand des Antrags vom 23.02.2016 gewesen und mit diesem – allein bereits aufgrund der verschiedenen Modalitäten einer Ausführung in ein Pflegeheim und einer solchen auf einen Friedhof – auch keineswegs deckungsgleich. Ein entsprechender Verpflichtungsantrag mit diesem Inhalt wäre unzulässig, da mangels eines entsprechenden Antrags des Betroffenen gegenüber der Antragsgegnerin eine Entscheidung dieser hierüber, die Gegenstand eines gerichtlichen Überprüfungsverfahrens gemäß § 109 ff. StVollzG sein könnte, noch nicht ergangen sei.
13Die Ablehnung des Antrags des Betroffenen auf Ausführung zu seiner kranken Mutter ist nach Ansicht der Strafvollstreckungskammer durch die Antragsgegnerin ermessensfehlerfrei abgelehnt worden. Der Antrag des Betroffenen auf Gewährung einer Ausführung zu seiner kranken Mutter sei zu Recht nicht nach § 55 Abs. 1 StVollzG beschieden worden. Die Krankheit eines nahen Angehörigen müsse, um einen wichtigen Anlass im Sinne des § 55 Abs. 1 S. 2 StVollzG NRW darzustellen, lebensgefährlich sein. Für sie müsse zudem ein akuter Anlass bestehen. Eine solche lebensgefährliche und akute Erkrankung seiner Mutter habe der Antragsteller in seinem Antrag vom 23.02.2016 aber nicht dargelegt, sondern vielmehr erklärt, dass diese zu 100 % schwerbehindert sei und ihn deshalb seit drei Jahren nicht habe besuchen können. Dem Antragsteller habe es aber oblegen, die Tatsachen für den wichtigen Anlass darzulegen.
14Die Antragsgegnerin habe auch ermessensfehlerfrei eine Ausführung nach § 53 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 StVollzG NRW abgelehnt. Lockerungen hätten keinen Selbstzweck sondern stünden in einem behandlerischen Kontext. Das Ausmaß des Ermessensspielraums der Vollzugsbehörde hänge entscheidend davon ab, wie wichtig die Lockerungsmaßnahmen für die Erreichung des Resozialisierungsziels im konkreten Einzelfall seien. Aus diesem Grund sei nicht zu beanstanden, dass die Antragsgegnerin in ihrer Entscheidung vom 24.02.2016 davon ausgegangen sei, dass ein solcher behandlerischer Kontext bei dem Betroffenen wegen seiner Leugnungszeitung und der Nichtteilnahme an den in der Anstalt gebotenen Behandlungsmethoden nicht hergestellt werden könne.
15Gegen diese Entscheidung richtet sich die Rechtsbeschwerde des Betroffenen, mit der eine Verletzung formellen und materiellen Rechts gerügt wird.
16Das Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen hält die Rechtsbeschwerde mangels eines Zulassungsgrundes für unzulässig.
17II.
18Die Rechtsbeschwerde war auf die Sachrüge gemäß § 116 Abs. 1 StVollzG zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zuzulassen und hat mit der Sachrüge auch Erfolg.
19Zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfolgt die Zulassung der Rechtsbeschwerde, wenn vermieden werden soll, dass schwer erträgliche Unterschiede in der Rechtsprechung entstehen oder fortbestehen, wobei es darauf ankommt, welche Bedeutung die angefochtene Entscheidung für die Rechtsprechung im Ganzen hat.
20Im vorliegenden Verfahren hat die Strafvollstreckungskammer verkannt, dass nach ständiger Rechtsprechung des Senats für die Versagung von Lockerungen das Bestehen einer Flucht- oder Missbrauchsgefahr im Sinne des § 53 Abs. 1 StVollzG NRW bzw. des § 11 Abs. 2 positiv festgestellt werden muss (vgl. Senatsbeschluss vom 29.09.2015 - III -1 Vollz (Ws) 411/15, betreffend das Vorliegen einer Missbrauchsgefahr, juris; Senatsbeschluss vom 04.11.2014 - III-1 Vollz (Ws) 475/15, betreffend das Vorliegen von Fluchtgefahr, juris). Eine Leugnungshaltung des Betroffenen sowie eine mangelnde Bereitschaft zur Mitarbeit bei seiner Behandlung reichen für sich allein zur Feststellung einer Fluchtgefahr nicht aus. Ebenso wenig genügt es, dass eine Fluchtgefahr nicht hinreichend sicher auszuschließen ist, wie in dem Bescheid der Antragsgegnerin vom 21.01.2016 ausgeführt worden ist. Die Erwähnung eines Ausbruchsversuches des Betroffenen während einer früheren Inhaftierung ermöglicht schon mangels einer konkreten zeitlichen Angabe, wann dieser erfolgt sein soll, keine Überprüfung dahingehend, ob hieraus ermessensfehlerfrei Rückschlüsse auf eine heute noch bestehende Fluchtgefahr gezogen werden können. Die Antragsgegnerin hat jedenfalls letztlich im Ergebnis die Ablehnung der Ausführung auf die „immer noch zu befürchtende Fluchtgefahr aufgrund der konsequenten Leugnungshaltung und fehlenden Schuldeinsicht“ gestützt.
21Hinzu kommt, dass der Antragsteller ausschließlich die Gewährung einer Ausführung und damit einer unselbstständigen Lockerung beantragt hat. Angesichts dessen hätte es, was hier aber nicht der Fall ist, der positiven Feststellung einer bestehenden Fluchtgefahr gerade in Bezug auf diese Lockerungsform bedurft.
22Hierzu hat der Senat mit Beschluss vom 25.02.2016 (III-1 Vollz (Ws) 28/16) folgendes ausgeführt:
23„Für das weitere Verfahren weist der Senat darauf hin, dass die Versagung von Lockerungen in der Vollzugsplanfortschreibung nur dann frei von Ermessensfehlern und verhältnismäßig ist, wenn die Gründe hierfür nicht pauschal, sondern lockerungsbezogen abgefasst sind (vgl. BVerfG, Beschluss vom 04.05.2015 - 2 BvR 1753/14 -, juris; OLG Koblenz, Beschluss vom 31.01.2014 – 2 Ws 689/13 (Vollz), BeckRS 19279, jeweils m.w.N.). Die Kammer wird zu prüfen haben, ob die Vollzugsbehörde auch nachvollziehbare Ausführungen dazu gemacht hat, inwiefern negative Umstände in der Persönlichkeit und Entwicklung des Betroffenen jegliche Lockerungsformen, also auch Begleitausgänge bis zu 24 Stunden im Sinne des § 53 Abs. 2 Nr. 1 StVollzG NRW, ausschließen. Denn die bei dieser Lockerungsform vorgesehene Aufsicht einer begleitenden Person hat gerade den Sinn, Flucht- und Missbrauchsgefahren entgegenzuwirken (vgl. OLG Koblenz a.a.O. unter Verweis auf: BVerfG, 2 BvR 865/11 vom 20.06.2012, NStZ-RR 2012, 387 für Ausführungen nach § 11 Abs. 1 Nr. 2 StVollzG).“
24Die Strafvollstreckungskammer hat die unzureichende Begründung der Fluchtgefahr durch die Antragsgegnerin, die im Widerspruch zu der oben zitierten ständigen Senatsrechtsprechung steht, nicht beanstandet. Dieser Umstand birgt angesichts der erheblichen Bedeutung der Sache für den Betroffenen die Gefahr schwer erträglicher Abweichungen innerhalb der Rechtsprechung.
25Die Einheitlichkeit der Rechtsprechung ist zudem dadurch gefährdet, dass das Landgericht im Rahmen seiner Entscheidungsfindung die Grenzen des § 115 Abs. 5 StVollzG nicht hinreichend beachtet hat, indem es die fehlerhaften Ermessenserwägungen der Antragsgegnerin nicht nur nicht beanstandet, sondern zudem durch eigene ersetzt hat. Denn die Strafvollstreckungskammer hat sich mit dem von der Antragsgegnerin als maßgeblich angeführten Ablehnungsgrund der Fluchtgefahr überhaupt nicht befasst, sondern allein auf abgestellt, dass die Ablehnung des Antrags des Betroffenen deshalb nicht zu beanstanden sei, weil die Antragsgegnerin bei ihrer Entscheidung davon ausgegangen sei, dass der erforderliche behandlerische Kontext zwischen der von dem Betroffenen beantragten Lockerung und dem angestrebten konkreten Resozialisierungsziel wegen der Leugnungshaltung und Nichtteilnahme des Betroffenen an den in der Anstalt angebotenen Behandlungsmethoden nicht hergestellt werden könne. Das Gericht darf sein Ermessen aber nicht an die Stelle des der Anstalt zustehenden Ermessens setzen (vgl. Senatsbeschluss vom 13.11.1990, 1 Vollz(Ws) 70/90 – juris; Kamann/Spaniol in Feest/Lesting, Strafvollzugsgesetz, 6. Aufl., § 115 Rn 42 m.w.N.).
26Unter Zugrundelegung der obigen Ausführungen beruhte die Ablehnung des Antrags des Betroffenen auf Gewährung einer Ausführung zu seiner Mutter auf rechtsfehlerhaften Erwägungen und war somit rechtswidrig. Der angefochtene Beschluss war daher aufzuheben. Weil die Sache in Ansehung der von der Strafvollstreckungskammer zu treffenden Entscheidung gemäß § 119 Abs. 4 S. 2 StVollzG spruchreif ist und für eine (erneute) Entscheidung der Antragsgegnerin aufgrund des Todes der Mutter des Betroffenen und der dadurch eingetretenen Erledigung des Antrags des Betroffenen kein Raum mehr ist, konnte der Senat außerdem in der Sache selbst entscheiden und hat dem Feststellungsantrag des Betroffenen stattgegeben.
27III.
28Die Kostenentscheidung beruht auf § 121 Abs. 4 StVollzG i. V. m. einer entsprechenden Anwendung des § 476 Abs. 1 StPO.
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