Beschluss vom Oberlandesgericht Hamm - 4 Ws 202/20
Tenor
Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens, einschließlich der notwendigen Auslagen des Verurteilten, trägt die Landeskasse (entsprechend §§ 467 Abs. 1; 473 Abs. 1 StPO).
1
Gründe
2I.
3Mit dem angefochtenen Beschluss hat die 1. Strafkammer des Landgerichts Detmold, nach schriftlicher Anhörung des Verurteilten, die dem Verurteilten mit Urteil des Landgerichts Detmold vom 24.05.2019 gewährte Strafaussetzung zur Bewährung bzgl. der mit demselben Urteil wegen sexueller Nötigung verhängten Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten gem. § 56f Abs. 1 Nr. 1 StGB widerrufen.
4Gegen den Beschluss wendet sich der Verurteilte mit der sofortigen Beschwerde. Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, den angefochtenen Beschluss wegen Unzuständigkeit des Gerichtes des ersten Rechtszuges aufzuheben und die dem Verurteilten mit Urteil des Landgerichts Detmold vom 24.05.2019 gewährte Strafaussetzung zur Bewährung zu widerrufen.
5II.
6Die zulässige sofortige Beschwerde hat Erfolg.
71.
8Der angefochtene Beschluss war – wie von der Generalstaatsanwaltschaft beantragt - aufzuheben, da der Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung hier zu Unrecht nicht durch die (sog. „kleine“) Strafvollstreckungskammer gem. § 462a Abs. 1 StPO, sondern durch die zum Zeitpunkt ihrer Entscheidung nicht mehr zuständige erstinstanzliche Strafkammer erfolgte.
9Zunächst wurde zwar das Gericht des ersten Rechtszuges gem. § 462a Abs. 2 StPO mit der Prüfung des Widerrufs der Strafaussetzung befasst. Die Befassung der Strafkammer trat jedenfalls spätestens mit dem Eingang des Berufungsurteils vom 27.03.2020 aus dem Verfahren 21 Js 236/19 StA Detmold am 22.04.2020 ein. Die Berufung des Verurteilten, der vom Amtsgericht wegen Diebstahls in zwei Fällen und wegen Beleidigung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und neun Monaten verurteilt worden war, verwarf das Berufungsgericht mit der Maßgabe, dass die Gesamtfreiheitsstrafe auf ein Jahr und sechs Monate abgesenkt und die Unterbringung nach § 64 StGB angeordnet wurde. Das Berufungsurteil war zwar zu diesem Zeitpunkt noch nicht rechtskräftig, jedoch hatte der Verurteilte dort jedenfalls die Diebstahlstaten eingeräumt (vgl. Bl. 38 BewH), so dass bereits zu diesem Zeitpunkt ein Bewährungswiderruf ohne Verstoß gegen die Unschuldsvermutung aus Art. 6 Abs. 2 EMRK möglich gewesen wäre (vgl. nur: OLG Hamm, Beschl. v. 04.09.2020 – 4 Ws 158/220 – juris).
10Als dann am 19.06.2020 die Rechtskraft bzgl. der Verurteilung in dem Verfahren 21 Js 236/19 eintrat, befand sich der Verurteilte in Untersuchungshaft in der JVA Detmold. Mit Eintritt der Rechtskraft ging die Untersuchungshaft in Strafhaft über. Damit wurde die Zuständigkeit der Strafvollstreckungskammer begründet (vgl. OLG Hamm a.a.O.; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl., § 462a Rdn. 6). Dass der Verurteilte vor Antritt des Maßregelvollzugs in der LWL-Klinik Schloss Haldem in dem o.g. Verfahren am 04.09.2020 zwischenzeitlich noch in die JVA Bielefeld-Brackwede verlegt worden war, ändert an der einmal eingetreten Zuständigkeit der Strafvollstreckungskammer bei dem Landgericht Detmold nichts mehr (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O. Rdn. 13).
112.
12Der Senat sieht sich allerdings derzeit an eigener Sachentscheidung gehindert, so dass es mit bei der bloßen Aufhebung des angefochtenen Beschlusses sein Bewenden hat.
13Der Senat ist zwar als Beschwerdegericht vollumfänglich zu einer eigenen Sachentscheidung berufen (vgl. § 309 StPO). Er ist auch sowohl für Beschwerden gegen die Entscheidungen der Strafkammer, die vorliegend entschieden hat, wie auch für Beschwerden gegen Entscheidungen der Strafvollstreckungskammer Detmold zuständig. Damit könnte er eine solche eigene Sachentscheidung ohne Verletzung des Anspruchs des Verurteilten auf den gesetzlichen Richter treffen. Das ist dann, wenn statt der funktionell zuständigen kleinen Strafvollstreckungskammer die große Strafvollstreckungskammer entschieden hat, weitgehend anerkannt (OLG Celle NStZ-RR 2014, 63 LS) und gilt auch im Verhältnis von erstinstanzlichem Gericht zur Strafvollstreckungskammer (OLG Hamm, Beschl. v. 04.12.2012 – III – 2 Ws 372/12 = BeckRS 2013, 00747).
14Es liegt auch ein Widerrufsgrund gem. § 56f Abs. 1 Nr. 1 StGB vor, da der Verurteilte am 11.06.2019, also zeitlich zwischen der Entscheidung über die Strafaussetzung zur Bewährung im Urteil des Landgerichts Detmold vom 24.05.2019 und dem Eintritt der Rechtskraft dieser Entscheidung am 08.07.2019 (§ 56f Abs. 1 S. 2 StGB), neue Straftaten begangen hat. Hierbei handelte es sich um zwei Diebstahlstaten und eine Beleidigung. Wegen dieser neuen, von ihm eingestandenen Straftaten wurde er rechtskräftig zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt und seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet.
15Indes kann der Senat derzeit nicht abschließend entscheiden, ob mildere Maßnahmen als der Widerruf (§ 56f Abs. 2 StGB) ausreichen. Der Verurteilte ist zwar vielfach vorbestraft. Sein BZR-Auszug weist insgesamt 18 Eintragungen aus den letzten 25 Jahren auf. Hinzu kommt die Verurteilung wegen der nunmehr zum Widerruf führenden Taten. Bei deren Begehung stand er erneut unter dem Einfluss berauschender Mittel, was auch bei der Begehung der Anlasstat der Fall war. Die neuen Taten hat er zudem nur wenige Wochen nach der in vorliegender Sache eingeräumten Bewährungschance begangen. Alles dies spricht zunächst dafür, dass ein Widerruf unvermeidlich sein könnte.
16Allerdings gibt der vom Senat eingeholte Bericht der Maßregelvollzugseinrichtung vom 09.11.2020 Anlass zu der Annahme, der Verurteilte werde nach erfolgreicher Therapie auch ohne Widerruf zu einem straffreien Leben in der Lage sein (vgl. Fischer, StGB, 67. Aufl., § 56f Rdn. 14). Angesichts der in dem Bericht mitgeteilten Umstände und der Einschätzung der Maßregelvollzugseinrichtung hält der Senat eine weitere Sachverhaltsaufklärung nach weiterer Beobachtung des Therapieverlaufs für geboten. Würde der Senat zum ggw. Zeitpunkt einen Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung vornehmen, weil er sich zur Zeit noch keine hinreichende Gewissheit über den (weiteren) Therapieerfolg verschaffen kann, so würde damit letztlich der in § 67 StGB zum Ausdruck kommende Gedanke, dass Maßregelvollzug und Freiheitsstrafe so zueinander in Beziehung gesetzt werden sollen, dass möglichst nach erfolgreicher Therapie keine Rückkehr mehr in den Strafvollzug erfolgt (was den Therapieerfolg gefährden könnte; vgl. nur: Schöch in LK-StGB, 12. Aufl., § 67 Rdn. 7), sondern eine Entlassung in Freiheit, unterlaufen. Es bestünde im Falle eines Widerrufs die Gefahr, dass in Anwendung des § 44b Abs. 1 StrVollStrO nach (ggf. erfolgreichem) Maßregelvollzug dann die Strafe aus dem vorliegenden Verfahren vollstreckt würde. Eine Unterbrechung des Maßregelvollzuges zur Vollstreckung der Strafe aus dem vorliegenden Verfahren erscheint dem Senat angesichts der bereits erreichten Therapiefortschritte ebenfalls nicht sinnvoll.
17Der Verurteilte zeigt sich nach dem o.g. Bericht im Maßregelvollzug sozial angemessen und therapiemotiviert, was umso höher zu bewerten ist, als er bereits wegen Untersuchungs- und Organisationshaft mehr als den anrechnungsfähigen Teil der Freiheitsstrafe an Freiheitsentziehung erlitten hat. Er ist bereits in einem halboffenen Bereich der Maßregelvollzugsanstalt untergebracht. Weitere Lockerungen sind geplant. Die Maßregelvollzugseinrichtung geht davon aus, dass derzeit noch Suchtmittelrückfälle in Freiheit drohen und entsprechende Kriminalität, auch Beschaffungskriminalität nicht ausgeschlossen werden könne. Hinweise auf ein akutes Rückfallrisiko gebe es nicht. Dieses sei eher mittelfristig gegeben. Die Behandlungsprognose sei (vorsichtig) günstig.
18Vor dem Hintergrund, dass die Anlasstat als Sexualdelikt nach ihrer Kriminalitätsart für den Verurteilten ein „Ausreißer“ war und unter Alkohol- und Kokaineinfluss verübt wurde, liegen starke Anhaltspunkte dafür vor, dass bei einer regulären Weiterführung des Maßregelvollzuges hier das Rückfallrisiko des Verurteilten soweit gemindert ist, dass zusammen mit einer etwaigen Verlängerung der Bewährungszeit und etwaiger Weisungen nach § 56c StGB (etwa zur Abgabe eines regelmäßigen Drogenscreenings, Alkohol- und Drogenkonsumverbot o. ä.) von einem Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung abzusehen ist. Damit würde der Therapieerfolg durch nachfolgenden Strafvollzug in der hiesigen Sache dann auch nicht mehr gefährdet.
19Allerdings ist die Dauer des bisherigen Maßregelvollzuges von gut zwei Monaten noch zu kurz, um insoweit eine abschließende Aussage treffen zu können. Die Sache wird daher nunmehr der zuständigen Strafvollstreckungskammer vorzulegen und von dieser (je nach Sachlage womöglich nach Einholung eines Sachverständigengutachtens) zu entscheiden sein.
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Referenzen
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- StPO § 462a Zuständigkeit der Strafvollstreckungskammer und des erstinstanzlichen Gerichts 2x
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