Beschluss vom Oberlandesgericht Hamm - 11 U 9/22
Tenor
I.
Der Senat weist darauf hin, dass er beabsichtigt, die Berufung der Klägerin gegen das 10.11.2021 verkündete Urteil des Einzelrichters der 1. Zivilkammer des Landgerichts Siegen (Az.: 1 O 369/20) durch einstimmigen Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO als offensichtlich unbegründet zurückzuweisen.
II.
Der Klägerin wird Gelegenheit gegeben, binnen zwei Wochen nach Zugang dieses Beschlusses zu dem Hinweis Stellung zu nehmen oder mitzuteilen, ob die Berufung aus Kostengründen zurückgenommen wird.
1
Gründe:
2Die Berufung der Klägerin ist zulässig, hat aber nach einstimmiger Überzeugung des Senats in der Sache offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg (§ 522 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 ZPO). Die Rechtssache hat zudem weder grundsätzliche Bedeutung (§ 522 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 ZPO), noch erfordert die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Senats (§ 522 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 ZPO); auch eine mündliche Verhandlung vor dem Senat ist nicht geboten (§ 522 Abs. 2 S. 1. Nr. 4 ZPO).
3Die mit der Berufung gegen das angefochtene Urteil erhobenen Einwände tragen weder im Sinne des § 513 Abs. 1 ZPO die Feststellung, dass die Entscheidung auf einer Rechtsverletzung beruht (§ 546 ZPO), noch, dass nach § 529 ZPO zugrunde zu legende Tatsachen eine andere Entscheidung rechtfertigen.
4Das Landgericht hat die Klage zu Recht als unbegründet abgewiesen.
5Der Klägerin steht wegen des Sturzes, den sie am 00.00.20XX in A auf den für den Kraftfahrzeugverkehr gesperrten oberen Teilstück der B-Straße als Radfahrerin erlitten hat, keine Ansprüche gegen die Beklagte auf Zahlung von Schmerzensgeld und Schadensersatz aus § 839 Abs. 1 S. 1 BGB i.V.m. Art. 34 GG, §§ 9, 9a, 47 Abs. 1 StrWG NRW als der hier einzig ernsthaft in Betracht kommenden Anspruchsgrundlage zu. Denn wie das Landgericht im Ergebnis zutreffend angenommen hat, lässt sich auf der Grundlage des Klagevortrages bereits eine der Beklagten zur Last fallende Verkehrssicherungspflichtverletzung nicht feststellen.
6Allerdings lässt sich, wovon letztlich wohl auch das Landgericht ausgegangen, eine Verkehrssicherungspflichtverletzung nicht schon damit verneinen, dass es sich bei dem betreffenden Abschnitt der B-Straße um einen Wald- oder Feldweg handelt, dessen Benutzung gemäß §§ 14 BWaldG, 2 LFoG NRW, 57 LNatSchG NRW regelmäßig auf eigene Gefahr geschieht und bei dem der Sicherungspflichtige den Benutzer nur vor atypischen Gefahren zu schützen hat. Denn wie das Landgericht unter lit. B. I. 1.d) der Entscheidungsgründen seines angefochtenen Urteils zutreffend ausführt, bezieht sich § 57 LNatSchG NRW nur auf private, nicht aber auf im öffentlichen Eigentum stehende Wege, während die anderen beiden vorgenannten Bestimmungen nicht dem öffentlichen Verkehr gewidmete Wege erfassen.
7Es fehlt vorliegend aber nach den insoweit geltenden allgemeinen Grundsätzen an einer haftungsbegründenden Verkehrssicherungspflichtverletzung der Beklagten. Nach diesen obliegt zwar der Beklagten gemäß §§ 9, 9a, 47 StrWG NRW als Träger der Straßenbaulast für die Gemeindestraßen grundsätzlich die hoheitlich ausgestaltete Verpflichtung, die von ihr unterhaltenden Verkehrsflächen von abhilfebedürftigen Gefahrenquellen freizuhalten. Die für die Sicherheit der in ihren Verantwortungsbereich fallenden Verkehrsflächen zuständigen Gebietskörperschaften haben deshalb im Rahmen des ihnen Zumutbaren nach Kräften darauf hinzuwirken, dass die Verkehrsteilnehmer in diesen Bereichen nicht zu Schaden kommen. Allerdings muss der Sicherungspflichtige nicht für alle denkbaren, auch entfernten Möglichkeiten eines Schadenseintritts Vorsorge treffen, da eine Sicherung, die jeden Unfall ausschließt, praktisch nicht erreichbar ist. Vielmehr bestimmt sich der Umfang der Verkehrssicherungspflicht danach, für welche Art von Verkehr eine Verkehrsfläche nach ihrem Befund unter Berücksichtigung der örtlichen Verhältnisse und der allgemeinen Verkehrsauffassung gewidmet ist und was ein vernünftiger Benutzer an Sicherheit erwarten darf. Dabei haben Verkehrsteilnehmer bzw. die Straßen- und Wegebenutzer die gegebenen Verhältnisse grundsätzlich so hinzunehmen und sich ihnen anzupassen, wie sie sich ihnen erkennbar darbieten, und mit typischen Gefahrenquellen zu rechnen. Ein Tätigwerden des Verkehrssicherungspflichtigen ist erst dann geboten, wenn sich für ein sachkundiges Urteil die nahe liegende Möglichkeit einer Rechtsgutsverletzung anderer ergibt (OLG Hamm, Urteil vom 13.01.2006, 9 U 143/05, zitiert nach juris Tz. 9 mit Verweis auf: OLG Hamm, Urteil vom 19.07.1996 zu 9 U 108/96, NZV 1997, S. 43; OLG Hamm, Urteil vom 25.05.2004 zu 9 U 43/04, NJW-RR 2005, S. S. 255, 256). Dies ist der Fall, wenn Gefahren bestehen, die auch für einen sorgfältigen Benutzer bei Beachtung der zu erwartenden Eigensorgfalt nicht oder nicht rechtzeitig erkennbar sind und auf die er sich nicht oder nicht rechtzeitig einzurichten vermag (vgl. dazu grundlegend: BGH, Urteil vom 21.06.1979 zu III ZR 58/78, VersR 1979, S. 1055; BGH, Urteil vom 11.12.1984 zu VI ZR 218/83, NJW 1985, S. 1076; OLG Hamm, Urteil vom 03.02.2009 zu 9 U 101/07, NJW-RR 2010, S. 33; OLG Hamm, a.a.O., NJW 2004, S. 255, 256; OLG Hamm, Urteil vom 09.11.2001 zu 9 U 252/98, NZV 2002, S. 129, 130; Zimmerling/Wingler in: Herberger/Martinek/Rüßmann/Weth/Würdinger, jurisPK-BGB, 9. Aufl., § 839 BGB Rdn. 511; im Anschluss: OLG Celle, Urteil vom 07.03.2001 zu 9 U 218/00, zitiert nach juris). Die Grenze zwischen abhilfebedürftigen Gefahren und von den Benutzern hinzunehmenden Erschwernissen wird dabei maßgeblich durch die sich im Rahmen des Vernünftigen haltenden Sicherheitserwartungen des Verkehrs bestimmt, wobei dem äußeren Erscheinungsbild der Verkehrsfläche und ihrer Verkehrsbedeutung maßgebliche Bedeutung beikommt (OLG Hamm, Urteil vom 13.01.2006 zu 9 U 143/05, NJW-RR 2006, S. 1100; OLG Hamm, a.a.O., NJW-RR 2005, S. 255, 256; Senatsbeschluss vom 11.04.2022, 11 U 49/22 – zitiert nach Juris Tz. 10).
8Ausgehend von diesen Grundsätzen lässt sich vorliegend bereits auf der Grundlage des Klagevorbringens eine schuldhafte Verkehrssicherungspflichtverletzung der Beklagten nicht feststellen. Insoweit ist nämlich zu berücksichtigen, dass dem oberen Abschnitt der B-Straße, auf dem sich der Unfall der Klägerin ereignet hat, seit seiner spätestens Ende der 90-ziger Jahre angeordneten Sperrung für den Kraftfahrzeugverkehr nur noch eine ganz untergeordnete Verkehrsbedeutung zukommt. Seitdem ist das obere Teilstück der B-Straße nur noch für den Fußgänger- und Fahrradverkehr eröffnet, wobei das Verkehrsaufkommen an Fahrrädern nach der Aussage des Zeugen C, dass dort normalerweise nicht viele Fahrräder durchfahren würden, eher gering ist. Die seitdem nur noch ganz untergeordnete Verkehrsbedeutung des oberen Abschnitts der B-Straße spiegelt sich auch in dessen heutigem Erscheinungsbild, wie es auf den zu den Akten gereichten Lichtbildern dokumentiert ist, wieder. Ausweislich der Lichtbilder Blatt 150 bis 153 der Akten verengt sich die B-Straße bereits wenige Meter nach dem in Höhe der D-Straße aufgestellten Verkehrszeichens 260 zu einen schmalen Feld- bzw. Waldweg, dessen Untergrund ganz überwiegend nur aus losem Geröll und Grasbewuchs besteht. Ausweislich des oberen Lichtbildes Bl. 138 der Akten findet sich vor der Unfallstelle der Klägerin auf dem ansonsten grasbewachsenen Weg nur noch ein schmaler unbewachsener Streifen. Damit kommt dem oberen Teil der B-Straße aber sowohl im Hinblick auf seine tatsächliche Nutzung als auch nach seinem äußeren Erscheinungsbild allein noch die Bedeutung eines als Abkürzungsstrecke dienenden örtlichen Feld- bzw. Waldweges zu. Die von der Klägerin auf Seite 4 der Berufungsbegründung angeführten Entscheidungen des BGH, OLG Frankfurt, OLG München und OLG Köln rechtfertigen keine hiervon abweichende Beurteilung, weil sie sich sämtlich allein mit der Frage befassen, unter welchen Voraussetzungen ein Weg als Feld- und Waldweg i.S.d. § 8 Abs. 1 Nr. 2 StVO einzuordnen ist. Dies hat aber nichts mit der Frage zu tun, in welchem Umfang für einen nach seiner Verkehrsbedeutung und seinem äußerem Erscheinungsbild als Feld- bzw. Waldweg einzustufenden öffentlichen Verkehrsweg von dem Verkehrssicherungspflichtigen ein Tätigwerden zum Schutz der Benutzer zu erwarten ist. Insoweit ist vielmehr maßgeblich, dass der Benutzer eines solchen, sich für ihn als örtliche Abkürzungsstrecke darstellenden Wald- oder Feldweg von vornherein nur eine eingeschränkte Sicherheitserwartung an den Zustand des Weges haben kann und er insbesondere nicht davon ausgehen kann, diesen durchgängig als Radfahrer ohne zwischenzeitliches Absteigen befahren zu können. Denn nach den örtlichen Gegebenheiten ist bei einem solchen unbefestigten und im Wesentlichen aus losen Geröll und Grasüberwuchs bestehenden Weg ohne weiteres mit Unebenheiten und weiteren Hindernissen wie etwa durch den Fahrradverkehr geschaffene Spurrillen zu rechnen und sind in Konsequenz dessen auch an die Verkehrssicherungspflichten für den Weg nur geringe Anforderungen zu stellen (so auch: OLG Naumburg, Urteil vom 14.07.2006, 10 U 24/06 – Rz. 39 ff. juris, für einen in einem Naturpark gelegenen unbefestigten Radweg; LG Heidelberg; Urteil vom 14.12.1988, 3 O 147/99, VersR 1989, 970, für einen unbefestigten durch Feld und Wald führenden Gemeindeverbindungsweg).
9Entgegen der Ansicht der Klägerin trifft die Beklagte vorliegend auch nicht etwa deshalb eine gesteigerte Verkehrssicherungspflicht für den oberen Abschnitt der B-Straße, weil sie mit dem in ihrem Auftrag vor Jahrzehnten vom Zeugen E aufgeschütteten Erdhügel in unzulässiger Weise eine Gefahrenstelle geschaffen hat. Insoweit vermag der Senat bereits nicht zu erkennen, dass die Beklagte mit der Erdhügel in unzulässiger Weise eine Verkehrsanordnung getroffen hätte. Denn die verkehrsrechtliche Beschränkung, dass der obere Abschnitt der B-Straße nicht mehr dem Kraftfahrzeugverkehr eröffnet ist, wurde vorliegend nicht mit dem Erdhügel, sondern mit dem Verkehrszeichen 260 getroffen. Mit dem Erdhügel hat die Beklagte den oberen Abschnitt der B-Straße lediglich in tatsächlicher Hinsicht an seine eingeschränkte Verkehrseröffnung angepasst und rückgebaut. Unabhängig davon ist aber auch allein mit dem Aufschütten des Erdhügels noch keine Gefahrenstelle für den Radfahrverkehr geschaffen worden. Diese ist vielmehr erst später durch die im Laufe der Zeit seitlich des Erdhügels in den Boden eingefahrene Spurrille entstanden, an deren Rand die Klägerin mit dem Pedal ihres Fahrrades hängengeblieben sein will.
10Zur Beseitigung der mit der Spurrille entstandenen Gefahrenstelle war die Beklagte vorliegend aber deshalb nicht verpflichtet, weil diese für den durchschnittlichen Wegebenutzer bei Einhaltung der von ihm zu erwartenden Eigensorgfalt rechtzeitig zu erkennen und zu beherrschen gewesen ist. Auf dem von der Beklagten zu den Akten gereichten oberen Lichtbild Blatt 138 der Akten, das in der damaligen Fahrtrichtung der Klägerin aufgenommen ist, sind der Erdhügel und die rechts von ihm gelegene Spurrille bereits aus größerer Entfernung deutlich zu erkennen, so dass die Klägerin beide bei Einhaltung der von ihr zu erwartenden Eigensorgfalt rechtzeitig hätte erkennen können. Dass die Klägerin vorliegend den Erdhügel und die Spurrille möglicherweise deshalb nicht rechtzeitig wahrgenommen hat, weil sie zum Unfallzeitpunkt dicht hinter ihrem Ehemann herfuhr, ist der Beklagten nicht anzulasten, weil die Klägerin wegen der auch von ihr als Radfahrerin zu beachtenden Verkehrsvorschriften der §§ 3 und 4 StVO dazu verpflichtet gewesen wäre, einen solchen Abstand zu ihrem Ehemann einzuhalten, dass sie jederzeit innerhalb der für sie übersehbaren Strecke mit ihrem Fahrrad anhalten kann. Bei Einhaltung eines solchermaßen ausreichenden Abstandes zu ihrem Ehemann hätte die Klägerin die neben den Erdhügel gelegene Spurrille auch gefahrlos passieren können. Insoweit hätte für sie nämlich die Möglichkeit bestanden, ihr Fahrrad vor Erreichen der nur ca. 2 m langen Spurrille noch einmal kurz zu beschleunigen, um diese anschließend wie ihr vorausfahrender Ehemann ohne Pedalumdrehungen zu durchrollen. Jedenfalls aber hätte die Klägerin, die nach ihren Angaben gegenüber dem Landgericht vor dem Unfallgeschehen nur 6 bis 10 km schnell gefahren ist, bei Einhaltung eines ausreichenden Abstandes zu ihrem Ehemann ihr Fahrrad rechtzeitig vor dem Erdhügel zu Stehen bringen und anschließend an den Erdhügel vorbeischieben können.
11Damit erweist sich die Berufung der Klägerin als offensichtlich unbegründet.
12Die Berufung ist nach Erlass des Hinweisbeschlusses zurückgenommen worden.
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Referenzen
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- §§ 9, 9a, 47 StrWG 3x (nicht zugeordnet)
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- 9 U 101/07 1x (nicht zugeordnet)
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- 11 U 49/22 1x (nicht zugeordnet)
- 9 U 218/00 1x (nicht zugeordnet)
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