Urteil vom Oberlandesgericht Naumburg (1. Zivilsenat) - 1 U 117/15

Tenor

Auf die Berufung des Klägers wird das am 31. Juli 2015 verkündete Urteil des Landgerichts Halle aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Berufungsverfahrens, an das Landgericht Halle zurückverwiesen.

Kosten des Berufungsverfahrens werden nicht erhoben.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Beschluss:

Der Streitwert für den Berufungsrechtszug wird auf 5.838,87 EUR festgesetzt.

Gründe

I.

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Von der Bezugnahme auf die tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil mit Darstellung etwaiger Änderungen oder Ergänzungen wird gemäß §§ 540 II; 313a I 1 ZPO abgesehen.

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Die zulässige Berufung des Klägers führt auf seinen Antrag gemäß § 538 II 1 Nr. 1 ZPO zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung des Verfahrens an das Landgericht Halle. Das Urteil vom 31.7.2015 leidet an einer entscheidungserheblichen Verletzung von Prozessrecht (§ 513 I ZPO), wodurch die für eine Entscheidung in der Sache notwendige Beweisaufnahme unterlassen und jetzt aufwändig nachzuholen ist.

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1. Die Voraussetzungen des vom Kläger geltend gemachten Schadensersatzanspruchs wegen der Beschädigung seines Fahrzeuges sind im Wesentlichen zwischen den Parteien unstreitig. Der Beklagte wäre nach §§ 823 I; 249 I, II 1 BGB schadensersatzpflichtig. Er beruft sich auf einen Ausschluss seiner Verantwortlichkeit, weil er dem Kläger den Schaden in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit zugefügt haben will (§ 827 1 BGB). Am 9.10.2014 habe sich der Beklagte, unter einer schizoaffektiven Psychose leidend, im Wahn von Stimmen getrieben und zu vernünftigen Überlegungen unfähig, von überflüssigen Dingen trennen wollen. Dieser Einwand ist erheblich. Die Verantwortlichkeit eines Unzurechnungsfähigen entfällt im Falle des § 827 BGB vollständig zu Lasten des Geschädigten (Wagner, in: MünchKomm.-BGB, 6. Aufl., § 827 Rdn. 2).

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Als schadensverursachender Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit kommen sämtliche Geisteskrankheiten in Betracht, die die Freiheit der Willensbildung und Selbstbestimmung nach Art, Intensität und Ausmaß einer Bewusstlosigkeit vergleichbar ausschließen. Eine Minderung der Verstandes- und Willenskraft genügt nicht. Der Täter muss nicht mehr in der Lage sein, das Verhalten von vernünftigen Erwägungen leiten zu lassen, was insbesondere im Falle einer Wahnsymptomatik gegeben sein kann (Wagner, § 827 Rdn. 9; Staudinger/Jürgen Oechsler, Neubearb. 2014, § 827 Rdn. 6, 9, 16 m.w.N.). Wer sich darauf beruft, hat zu beweisen, sich zur Tatzeit in einem solchen Zustand befunden zu haben (BGH NJW 1988, 822, 823; Wagner, § 827 Rdn. 6, 14; Staudinger/Jürgen Oechsler, § 827 Rdn. 19; Spindler, in: BeckOK-BGB, Stand: 1.11.2013, § 827 Rdn. 3 m.w.N.; Reichold, in: jurisPK-BGB, 7. Aufl., § 827 Rdn. 9). Das Beweismaß ist insoweit nicht reduziert. Das Gericht muss vom Ausschluss der Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit überzeugt sein (Wagner, § 829 Rdn. 14).

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2. Das Landgericht hat ausgeführt, der Beklagte hafte nicht für den am 9.10.2014 verursachten Schaden, da er nach Überzeugung der Einzelrichterin deliktsunfähig gewesen sei. Er habe sich in einem die freie Willensbildung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befunden. Dies folge aus dem Attest des Chefarztes PD Dr. L. und der Oberärztin DM K. vom 12.12.2014 sowie aus dem vom Beklagten vorgelegten Gutachten des Sozialmedizinischen Dienstes H. zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit vom 4.3.2015. Das Attest vom 12.12.2014 dokumentiere den unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang zwischen der Schädigung des Klägers und der stationären Aufnahme in das psychiatrische Krankenhaus wegen einer schizoaffektiven Psychose in manischer Episode. Hinzu komme das am Schadenstag gezeigte äußerst ungewöhnliche Verhalten des Beklagten. Es liege auf der Hand, dass die gegen das Eigentum des Klägers gerichteten Handlungen von der Erkrankung geprägt gewesen seien. Auch das Gutachten des Sozialmedizinischen Dienstes bescheinige dem Beklagten eine demenzbedingte Fähigkeitsstörung, geistige Behinderung und psychische Erkrankung. Es bestehe Beaufsichtigungs- und Betreuungsbedarf. Für die vom Kläger behaupteten Gefälligkeitsbescheinigungen existierten keine Anhaltspunkte. Die Erhebung weiterer Beweise sei daher nicht notwendig.

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Dies hält den Angriffen der Berufung nicht stand.

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3. Der Kläger verweist zutreffend auf Kürze und Formulierung des Attestes vom 12.12.2014. Es findet sich dort ausdrücklich der Hinweis, dass die Frage der Schuldfähigkeit nur im Rahmen eines Gutachtens geklärt werden könne. Das Gutachten des Sozialmedizinischen Dienstes trifft daneben keine Aussage zur Deliktsfähigkeit und wurde als Pflegegutachten von einer Pflegekraft und gerade nicht von einem Facharzt verfasst. Hierauf gestützt durfte sich das Landgericht keine Überzeugung bilden. Soweit das angefochtene Urteil zu einem anderen Ergebnis gelangt, verstößt es gegen § 286 I 1 ZPO.

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Der Tatrichter ist in seiner Beweiswürdigung frei. Damit eine streitige Tatsachenbehauptung als bewiesen gilt, genügt die subjektive richterliche Überzeugung. Diese muss sich aber auf nachprüfbare objektive Tatsachen stützen. Das Gericht ist nicht berechtigt, nach Belieben zu urteilen. Vielmehr sind die Beweisergebnisse und der gesamte Inhalt der mündlichen Verhandlung zugrunde zu legen (BGH NJW 2014, 71, 72). Es kommt auf eine vollständige Würdigung der zur Verfügung stehenden Beweismittel an (Zöller/Greger, ZPO, 31. Aufl., § 286 Rdn. 2 m.w.N.). Dazu gehört, auch den nachteiligen Inhalt der von einer Partei vorgelegten Beweisurkunden zur Kenntnis zu nehmen (BGH MDR 1983, 1018). Das hat das Landgericht augenscheinlich nicht getan. Ansonsten hätte ihm nicht entgehen dürfen, dass die Ärzte des Psychiatriezentrums gerade keine Aussage zur Zurechnungsfähigkeit (dort genannt Schuldfähigkeit) treffen wollten. Das Gutachten zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit gemäß SGB XI ist von seinem Gegenstand und seinen Urhebern her von vornherein untauglich, irgendwelche belastbaren Aussagen dazu zu treffen, ob sich der Beklagte zum maßgeblichen Zeitpunkt der deliktischen Handlung (Wagner, § 827 Rdn. 10) nicht von rationalen Kriterien leiten lassen konnte.

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Es ist in eingeschränktem Umfange zwar möglich, aus dem Grad der objektiven Pflichtverletzung Rückschlüsse auf die innere Tatseite zu ziehen (Staudinger/Jürgen Oechsler, § 827 Rdn. 22a), hierzu bedarf es jedoch weiterer Umstände, die diesen Schluss nahe legen. Das schon erwähnt Attest liefert diese Tatsachen nicht. Aus ihm geht nicht hervor, welchen Einfluss die erwähnte Erkrankung des Beklagten auf die freie Willensbestimmung hatte. Wie bereits erwähnt, genügen bloße Minderungen oder Beeinträchtigungen nicht, um die Zurechnungsfähigkeit auszuschließen. Nahezu folgerichtig verweist das Attest dann auch ausdrücklich auf ein Gutachten, ohne das die Einzelrichterin zu keiner verfahrensfehlerfreien Überzeugung gelangen konnte. Eine eigene Sachkunde ist im Urteil nicht dargelegt.

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Den notwendigen Beweisantritt des Beklagten hatte das Landgericht bereits der Vorlage des Attestes und dem Verweis auf das sachverständige Zeugnis der behandelnden Ärzte zu entnehmen.

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4. Der Senat sieht ausnahmsweise davon ab, die notwendigen Beweise zu erheben und selbst in der Sache zu entscheiden. Der Verfahrensfehler des Landgerichts wiegt schwer, indem eine Sache, die offensichtlich sachverständiger Begleitung bedarf, ohne jede Beweisaufnahme entschieden wurde. Hierdurch entbehrt das Verfahren grundlegender tatsächlicher Feststellungen, die zu den Aufgaben der ersten Instanz gehören. Das Berufungsgericht soll sich nach den Vorstellungen der ZPO auf die Rechtsfehlerkontrolle und -korrektur beschränken. Dieser Aufgabe kann der Senat bereits jetzt nur mit Mühe genügen, weil er sich in erheblichem Umfang mit aufwändigen Beweisaufnahmen belastet sieht. Für die Parteien wäre es also nicht von Vorteil, würde sich das Berufungsgericht auch noch dieses Verfahrens annehmen. Im Gegenteil, mit erstmaligen Feststellungen der zweiten Instanz geht ihnen die Möglichkeit verloren, die tatsächlichen Grundlagen der Entscheidung nochmals durch eine zweite Tatsacheninstanz überprüfen zu lassen. Indem der Kläger den Antrag auf Zurückverweisung stellt, bringt er zum Ausdruck, gerade dies abwenden zu wollen.

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Der Senat sieht keinen Grund, dem nicht zu folgen. Es ist absehbar, dass nicht nur ein Gutachten einzuholen ist. Vielmehr werden zunächst die für den Sachverständigen notwendigen Anknüpfungstatsachen zu klären sein, insbesondere in welchem Zustand sich der Kläger am 9.10.2014 befand.

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5. Mit Blick auf das weitere Verfahren weist der Senat darauf hin, dass im Falle der Aufhebung des Vollstreckungsbescheides die damit ausstehende Sachentscheidung zu treffen, also die Klage abzuweisen ist (§§ 700 I; 342; 343 2 ZPO).

II.

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Aufhebende und zurückverweisende Urteile enthalten keine Kostenentscheidung. Sie sind jedoch für vorläufig vollstreckbar zu erklären.

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Die Niederschlagung der Kosten beruht auf § 21 I 1, II 1 GKG.

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Die Revision lässt der Senat nicht zu. Die Sache wirft keine entscheidungserheblichen Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung auf und weder die Fortbildung des Rechts noch die Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung verlangen nach einer Entscheidung des Revisionsgerichts.

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Der Streitwert ist nach §§ 47 I 1; 43 I; 48 I 1 GKG; § 3 ZPO festgesetzt.


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