Urteil vom Oberlandesgericht Rostock (4. Zivilsenat) - 4 U 69/12

Tenor

1. Auf die Berufung der Klägerin wird unter Zurückweisung ihres weitergehenden Rechtsmittels das Urteil des Landgerichts Schwerin vom 29.03.2012 – 4 O 233/11 – wie folgt geändert:

Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 430.688,62 EUR nebst Zinsen in Höhe von 8 %-Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 26.11.2007 sowie vorgerichtliche Anwaltskosten in Höhe von 4.140,00 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 %-Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 27.10.2011 zu zahlen.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

2.

Die Kosten des Rechtsstreits hat die Beklagte zu tragen.

3.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Der Beklagten wird nachgelassen, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 120 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 120 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

4.

Die Revision gegen dieses Urteil wird zugelassen.

Gründe

I.

1

Die Klägerin fordert als Auftragnehmerin von der beklagten Bundesrepublik Deutschland Entschädigung wegen Vorhaltekosten für eine mobile Stahlgleitwand aufgrund einer erheblichen Verzögerung im Vergabeverfahren sowie die Erstattung damit im Zusammenhang stehender vorgerichtlicher Anwaltskosten.

2

Die Klägerin unterbreitete der Beklagten nach öffentlicher Ausschreibung am 19.07.2004 (Anl. K 1 – AB 1 ff.) ein Angebot - betreffend den grundhaften Ausbau der Bundesautobahn A 19, RF Wittstock – Rostock, km 90,80 – km 104,250 - für Leistungen der Verkehrsführung und Verkehrssicherung in Höhe von insgesamt 1.076.416,75 EUR netto (= 1.248.643,43 EUR brutto), welches entsprechend der Ausschreibung unter der Position 00.03.0024 die Leistung "Stahlgleitwand von 14.800,00 m für 588 Tage vorhalten" zu einem Einheitspreis von 1.184,00 EUR netto/Tag und dementsprechend zu einem Gesamtbetrag von 696.192,00 EUR netto (K 2 - AB 58ff, 68) beinhaltete.

3

In der Ausschreibung (B 1 - GA I 45) heißt es u.a.: "Frist der Ausführung: September 2004 - April 2006. Vorbehaltlich der Zuschlagserteilung des Bauhauptloses".

4

Nach den der Ausschreibung zugrunde liegenden Besonderen Vertragsbedingungen (AB 5ff.) sollte die Ausführung der Arbeiten spätestens 12 Tage nach Zuschlagserteilung beginnen, insbesondere der Aufbau der Verkehrssicherung spätestens 36 Werktage nach Zuschlagserteilung erfolgen. Ziff. 8.4 der Besonderen Vertragsbedingungen enthält den Hinweis, dass die Ausschreibung vorbehaltlich der Beauftragung des Bauhauptloses erfolge und es aus diesem Grund zur Verzögerung der Zuschlagserteilung kommen könne.

5

Nach den Ausschreibungsbedingungen war die Klägerin an ihr Angebot bis zum Ende der Zuschlagsfrist am 02.09.2004 gebunden. Nach dem Submissionsergebnis vom 19.08.2004 (Anl. K 3 – AB 78) hatte die Klägerin das günstigste Angebot abgegeben. Hiervon hatte die Klägerin noch am selben Tag - unstreitig - Kenntnis erlangt (K 3 - AB 78).

6

Auf Bitten der Beklagten erklärte sich die Klägerin mit einer Verlängerung der Bindefrist zunächst bis zum 29.10.2004, dann bis zum 30.03.2005, weiter bis zum 30.06.2005, sodann bis zum 31.10.2005 und schließlich bis zum 31.03.2006 einverstanden. Die erbetenen Verlängerungen der Zuschlags- und Bindefrist begründete die Beklagte zunächst mit Verzögerungen "aufgrund der verwaltungstechnischen Bearbeitung" (K 4 - AB 79), anschließend jeweils mit einer "Verschiebung des Hauptbauloses" (K 6 - AB 82, K 8 - AB 85, K 10 - AB 98, K 13 - AB 93). Am 30.03.2006 erteilte die Beklagte der Klägerin den Zuschlag für das verfahrensgegenständliche Teillos über 1.186.211,26 EUR brutto nach Abzug eines Nachlasses in Höhe von 5% (K 14 - AB 96f.).

7

Auch bei der Vergabe des Bauhauptloses kam es zu zahlreichen, teilweise erheblichen Verzögerungen: So forderte die Beklagte nach Angebotseröffnung am 17.08.2004 von der auf dem ersten Rang befindlichen Bietergemeinschaft, erstmals am 13.10.2004, Aufklärung gem. § 24 VOB/A hinsichtlich der Angebotspreise, dem die Bietergemeinschaft am 11.11.2004 entsprach. Am 27.01.2005 forderte die Beklagte die Bietergemeinschaft zu einer weiteren Aufklärung ihres Angebots bis zum 18.02.2005 auf, wozu die Bietergemeinschaft am 14.02.2005 Stellung nahm. Erst am 17.01.2006 teilte die Beklagte der Bietergemeinschaft im Hauptbaulos gemäß § 13 VgV mit, dass ihr Angebot nicht für den Zuschlag vorgesehen sei, weshalb die Bietergemeinschaft am 20.01.2006 den Ausschluss ihres Angebots als vergaberechtswidrig rügte und am 27.01.2006 einen Nachprüfungsantrag stellte, der am 10.03.2006 von der Vergabekammer zurückgewiesen wurde.

8

Wegen der enormen Verzögerung im Vergabeverfahren hatte die Klägerin bereits im Jahr 2005 und damit vor Erteilung des Zuschlags am 30.03.2006 begonnen, die zur Ausführung vorgesehene Stahlgleitwand von 14,8 km sukzessive auf anderen Baustellen einzusetzen, und zwar eine Teilmenge von 3.032 m ab dem 21.04.2005, eine weitere Teilmenge von 5.376 m ab dem 22.07.2005 und eine weitere Teilmenge von 5.691 m ab dem 13.10.2005.

9

Bei Zuschlagserteilung sah sich die Klägerin daher gehalten, die benötigte Stahlgleitwand bei einem Nachunternehmer anzumieten. Mit Schreiben vom 13.04.2006 (K 15 - AB 98) zeigte die Klägerin Mehrkosten infolge der verspäteten Zuschlagserteilung an, welche sie mit Nachtragsangebot N 3.1 vom 22.11.2006 (K 16 - AB 101) auf 648.832,00 EUR netto bezifferte.

10

Entgegen der erfolgten Beauftragung, nämlich u.a. 14,8 km Stahlgleitwand für 588 Tage vorzuhalten, wurde die mobile Stahlgleitwand auf Weisung der Beklagten nur 333 Tage eingesetzt, da die Beklagte zum einen wegen der erheblichen Verzögerung in den Vergabeverfahren und zum anderen wegen der geforderten Fertigstellung des Autobahnteilstücks vor dem G 8-Gipfel in Heiligendamm die Baumaßnahme erheblich beschleunigte. Wegen der Verkürzung der Leistungszeit beanspruchte die Klägerin mit Nachtragsangebot N 4.1 den sich aus dem verkürzten Bauzeitraum ergebenden Differenzbetrag. Dieser ist Gegenstand des Parallelverfahrens 4 U 155/12.

11

Nach Ausführung ihrer Leistungen rechnete die Klägerin mit Schlussrechnung vom 11.10.2007 (K 18 - 108 ff.) unter Position N 3.1 Mehrkosten wegen Vorhaltens der Stahlgleitwand durch die wiederholte Verlängerung der Zuschlagsfrist entsprechend dem Nachtragsangebot N 3.1 und unter Position N 4.1 Mehrkosten wegen Verkürzung der Bauzeit ab. Ausweislich der bei der Klägerin am 26.11.2007 eingegangenen Schlusszahlungsmitteilung (K 18 - AB 107) leistete die Beklagte Schlusszahlung, jedoch unter Streichung der vorgenannten Positionen.

12

Gegen diese und andere Kürzungen der Schlussrechnung machte die Klägerin mit Schreiben vom 19.12.2007 einen Vorbehalt gemäß § 16 Nr. 3 VOB/B geltend (K 19 - AB 130). Auf Antrag der Klägerin vom 25.03.2008 haben die Parteien sodann zu den vorgenannten Schlussrechnungspositionen ein Schlichtungsverfahren gem. § 18 Nr. 2 Ziff. 2 VOB/B durchgeführt. Gegen den den Anspruch der Klägerin zurückweisenden Bescheid vom 22.07.2008 (K 24 - AB 139) legte die Klägerin am 08.09.2008 Einspruch ein (K 25 - AB 143), der mit Bescheid vom 08.12.2008 zurückgewiesen wurde (K 26 - AB 144). Mit Schreiben vom 09.07.2010 begründete die Klägerin nunmehr auf Grundlage eines baubetrieblichen Gutachtens ihren Anspruch erneut. Nach weiteren Vergleichsbemühungen lehnte die Beklagte mit Schreiben vom 28.02.2011 (K 34 - AB 197) eine außergerichtliche Einigung ab.

13

Die Klägerin verfolgt im Rahmen ihrer am 04.10.2011 beim Landgericht eingegangenen Zahlungsklage ihren Anspruch auf Ersatz von Vorhaltekosten auf privatsachverständiger Grundlage der K. ... Baumanagement GmbH (K 35 - AB 199 ff.) in Höhe von 431.783,60 EUR weiter. Sie hat mit Hilfe des für die Darlegung und Berechnung des Anspruchs eingeholten Privatgutachtens zunächst eine kalkulatorische Aufschlüsselung der Vertragspreise vorgenommen, da sie ihre Vertragspreise bei Angebotsabgabe aus Erfahrungswerten gebildet hatte. Für die streitgegenständliche Position 00.03.0024 ergeben sich nach Aufschlüsselung für die Vorhaltung Einzelkosten in Höhe von 1.029,57 EUR je Tag und darauf bezogene Allgemeine Geschäftskosten (8 %) in Höhe von 82,37 EUR, mithin 1.111,94 EUR je Tag für die Gesamtmenge von 14,8 km. Unter Zugrundelegung eines sich daraus ergebenden Preises je Tag/m in Höhe von 0,07513108 EUR und der infolge des sukzessiven anderweitigen Einsatzes ermittelten Vorhaltemenge und -dauer berechnet sie einen Vorhalteaufwand von 4.954.371 Meter Tage (14.800 m x 217 d + 11.768 m x 92 d + 6.389 m x 83 d + 698 m x 168 d), welche multipliziert mit den ermittelten Kosten von 0,07513108 EUR je Tag und Meter insgesamt 371.283,30 EUR netto und zzgl. 16 % MwSt einen Betrag von 430.688,62 EUR ergibt. Soweit die K. ... Baumanagement GmbH zu einem Gesamtbetrag von 431.783,60 EUR - die Klagesumme - gelangt (Differenz: 1.094,98 EUR) handelt es sich um einen offensichtlichen Rechenfehler.

14

Das Landgericht hat die Klage mit der Begründung abgewiesen, ein Schadensersatzanspruch gem. § 6 Nr. 6 VOB/B bestehe nicht, da die verzögerte Zuschlagserteilung nicht von der Beklagten zu vertreten sei. Auch ein Anspruch aus § 642 BGB komme nicht in Betracht, da vor Zuschlagserteilung kein Annahmeverzug der beklagten Seite vorliegen könne. Einem Anspruch aus § 311 Abs. 2 BGB fehle das hierfür erforderliche Verschulden der Beklagten. Einem Anspruch aus Geschäftsführung ohne Auftrag stehe entgegen, dass das Vorhalten der Stahlgleitwand mit derartigen Zusatzkosten nicht im Interesse der Beklagten gelegen haben könne.

15

Die Klägerin hat gegen das Urteil form- und fristgerecht Berufung eingelegt. In ihrer rechtzeitigen Berufungsbegründung hat sie im Wesentlichen ihr erstinstanzliches Vorbringen wiederholt und ergänzend zum Ablauf des Vergabeverfahrens im Hauptbaulos vorgetragen.

16

Die Klägerin beantragt,

17

unter Abänderung des angefochtenen Urteils des Landgerichts Schwerin, verkündet am 29.03.2012, die Beklagte zu verurteilen, an sie - die Klägerin - 431.783,60 EUR nebst Zinsen in Höhe von 8 %-Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 26.11.2007 sowie vorgerichtliche Anwaltskosten in Höhe von 4.140,00 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 %-Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

18

Die Beklagte beantragt,

19

die Berufung zurückzuweisen.

20

Sie erhebt die Einrede der Verjährung und bestreitet, dass die Klägerin Stahlgleitwände aus dem eigenen Fundus vorgehalten, vielmehr von Anfang an eine Anmietung beabsichtigt habe. Sie ist der Auffassung, die Klage aus einer einzelnen Position der Schlussrechnung sei unzulässig. Im Übrigen würde sich der Anspruch wegen der verzögerten Vergabe und der in dem Parallelverfahren verfolgte Anspruch wegen der vorzeitigen Rücknahme der eingesetzten Stahlgleitwand ausschließen. Außerdem sei die Berechnung auf Grundlage des Gutachtens nicht nachvollziehbar, soweit dort ein anderer Angebotspreis zugrunde gelegt werde.

21

Der Senat hat zu der Behauptung der Klägerin, vor Zuschlagserteilung 14,8 km Stahlgleitwand aus dem eigenen Fundus bis zu dem terminlich benannten sukzessiven anderweitigen Einsatz vorgehalten zu haben, Beweis erhoben durch Vernehmung des Zeugen H. ... Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Sitzungsniederschrift vom 21.02.2017 Bezug genommen.

II.

22

Die zulässige Berufung ist - abgesehen von einem Betrag in Höhe von 1.094,98 EUR - begründet.

23

Der Klägerin steht infolge der verzögerten Vergabe und der daraus resultierenden Vorhaltung der mobilen Stahlgleitwand ein Anspruch in Anlehnung an die Grundsätze des § 642 BGB zu. Der werkvertragliche Entschädigungsanspruch nach § 642 BGB ist auf das bei öffentlicher Ausschreibung zwischen Auftraggeber und Bieter begründete vertragsähnliche Verhältnis für die Erfassung einer verschuldensunabhängigen Entschädigung des Auftragnehmers analog anzuwenden.

1.

24

a) Die analoge Anwendung der von einer Norm angeordneten Rechtsfolge auf Sachverhalte, die dieser Norm nicht unterfallen, bedarf einer besonderen Legitimation. Es muss eine vom Gesetzgeber unbeabsichtigt gelassene Lücke vorliegen, deren Planwidrigkeit aufgrund konkreter Umstände positiv festgestellt werden kann. Darüber hinaus ist erforderlich, dass der gesetzlich ungeregelte Fall nach Maßgabe des Gleichheitssatzes und zur Vermeidung von Wertungswidersprüchen nach der gleichen Rechtsfolge verlangt wie die gesetzessprachlich erfassten Fälle.

25

b) Eine Regelung zu einer verschuldensunabhängigen vorvertraglichen Haftung des Auftraggebers im Falle unterbliebener bzw. verzögerter Mitwirkung bei öffentlichen Ausschreibungen fehlt. Ob aufgrund der Entscheidung des EuGH vom 30. September 2010 (C - 314/09 - juris) der öffentliche Auftraggeber bei Verstößen gegen bieterschützende Normen des Vergaberechts verschuldensunabhängig haftet, hat der BGH in seiner Entscheidung vom 09. Juli 2011 (X ZR 143/10 - juris Rn. 13) offengelassen.

26

In seinen Entscheidungen zur Behandlung verzögerter Vergabeverfahren hat der BGH indes bereits Regeln zur sachgerechten Abstimmung von Vergabe- und Vertragsrecht entwickelt. So steht dem Auftragnehmer in Anlehnung an § 2 Nr. 5 VOB/B dann ein Mehrvergütungsanspruch zu, wenn infolge einer verzögerten Vergabe sich Bauzeit/Ausführungsfristen, mithin Leistungspflichten des Auftragnehmers ändern und dadurch Mehrkosten entstehen (so u.a. BGH, Urteil vom 11. Mai 2009 - VII ZR 11/08 -; BGH, Urteil vom 18. Dezember 2014 - VII ZR 60/14 -).

27

Dieser Mehrvergütungsanspruch in Anlehnung an die Grundsätze des § 2 Nr. 5 VOB/B 2002 erfasst indes nicht den Fall einer vorvertraglichen Behinderung infolge einer verzögerten Zuschlagserteilung.

28

Insoweit weist die Beklagte zu Recht darauf hin, dass die Klägerin vorliegend keine wegen der Bauzeitverschiebung erhöhten Preise oder ähnliches geltend macht, sondern Entschädigung für das in Erwartung des Zuschlags erfolgte Vorhalten ihrer Leistung verlangt, konkret den nicht erfolgten anderweitigen Einsatz der vorgehaltenen Stahlgleitwand. Diese Behinderungskosten sind jedoch keine infolge der Leistungsverschiebung bedingten Mehrkosten, sondern resultieren allein aus dem für das Vergabeverfahren notwendigen "Standby" des Bestbieters innerhalb der Bindefrist. Dass Mehrvergütungsansprüche des Bieters infolge eines verzögerten Vergabeverfahrens auf verschiedenen Sachverhalten beruhen und unterschiedliche Streitgegenstände sein können, hat der BGH in seiner Entscheidung vom 22. Juli 2010 (VII ZR 213/08 - juris Rdn. 46) angedeutet, ohne indes die den Anspruch begründenden Voraussetzungen zu klären.

29

Nach Auffassung des Senats besteht insoweit eine planwidrige Regelungslücke, deren Schließung zur sachgerechten Abstimmung von Vergabe- und Vertragsrecht geboten erscheint.

30

c) In der Literatur wird die Frage, ob der öffentliche Auftraggeber aufgrund verzögerter Zuschlagserteilung entstandene vorvertragliche Behinderungskosten zu ersetzen hat, kontrovers diskutiert. Während Kau/Hänsel (NJW 2011, 1914, 1916) eine Haftung für nicht vom Auftraggeber zu vertretende Zuschlagsverzögerungen ausschließen, da diese zum allgemeinen "Lebensrisiko" eines jeden Unternehmers gehörten, der sich an einer öffentlichen Ausschreibung beteiligt, bejahen Kapellmann (NZBau 2009, 375) und Peters (NZBau 2010, 156, 158) einen Ersatz derartig entstandener Behinderungskosten.

31

d) Das infolge von Verzögerungen im Vergabeverfahren bedingte Vorhalten von Leistungen (Arbeitskraft, Gerät und Kapital) des Bestbieters entspricht indes dem vertraglichen Vorhalten der Leistung bei einem Annahmeverzug des Bestellers gemäß § 642 BGB. Denn die vorvertragliche Interessenlage der Beteiligten des Vergabeverfahrens entspricht im Wesentlichen der der Werkvertragsparteien: Bis zum Ablauf der Zuschlagsfrist ist der Bieter nicht nur preislich an sein Angebot gebunden, sondern er erklärt darüber hinaus, zu den in der Ausschreibung festgelegen Ausführungsterminen leistungsbereit zu sein. Bei einer wie vorliegend und auch sonst regelmäßig kurz nach Ablauf der Zuschlagsfrist beginnenden Ausführungszeit läuft der Bestbieter anderenfalls Gefahr, sofort mit den von ihm zu erbringenden Leistungen in Verzug zu geraten. Der öffentliche Auftraggeber hat ebenfalls ein Interesse, dass der Bieter entsprechend den Ausführungsterminen (oft kurzfristig) mit der Ausführung seiner Leistungen beginnt. Ihm allein obliegt die Einschätzung und Erklärung, ob er in der Lage und willens ist, zu den ausgeschriebenen Konditionen den Auftrag zu erteilen. Nur er kann einschätzen, ob Vergabereife der ausgeschriebenen Leistungen vorliegt. Mangelt es an der Vergabereife, so darf er (noch) nicht ausschreiben. Der Bestbieter hingegen darf grundsätzlich auf die ohne schuldhaftes Zögern zu erteilende Vergabe des öffentlichen Auftrags vertrauen.

32

Dass in Fällen einer verzögerten Vergabeentscheidung der Bestbieter allein das damit verbundene Verzögerungsrisiko tragen soll, ist angesichts der vergleichbaren Konstellation zu den von § 642 BGB erfassten Fällen ein Wertungswiderspruch. Allein der Umstand, dass sich das Verzögerungsrisiko vor dem durch Zuschlagserteilung wirksamen Vertragsschluss realisiert hat, sollte an der im Werkvertragsrecht vorgenommenen Risikozuweisung nichts ändern. Diese Risikozurechnung erscheint auch vor dem Hintergrund sachgerecht, dass es allein in der Entscheidung des öffentlichen Auftraggebers liegt, ob er bei einer erheblichen Verzögerung im Vergabeverfahren gem. § 17 Abs. 1 Nr. 3 VOB/A wegen "anderer schwerwiegender Gründe", die u.a. in einer zur Unwirtschaftlichkeit der Vergabe führenden und erforderlich gewordenen Mehrvergütung wegen Verzögerung des Vergabeverfahrens liegen kann (vgl. Ingenstau/Korbion/Portz, VOB, 19. Aufl., § 17 VOB/A Rn. 33), neu ausschreibt oder das Kostenrisiko zu tragen bereit ist.

33

Vorliegend hat die Beklagte trotz der erheblichen Verzögerungen im Vergabeverfahren von einer Neuausschreibung abgesehen.

2.

34

Nach der durchgeführten Beweisaufnahme steht zur Überzeugung des Senats fest, dass die Klägerin 14,8 km mobile Stahlgleitwand aus dem eigenen Fundus entsprechend den Ausschreibungsspezifika nach dem Submissionsergebnis in berechtigter Erwartung des Zuschlags vorgehalten hat, um zeitnah nach dem avisierten Zuschlagstermin am 02.09.2004 ihre vertraglichen Leistungen termingerecht erbringen zu können.

35

Der für die Klägerin seinerzeit verantwortlich handelnde Zeuge H. ... hat dies im Rahmen seiner Vernehmung nachvollziehbar und ohne Widersprüche erklärt. Dem steht insbesondere die Erklärung des Zeugen, die Reservierung des Materials "zu 100 %" sei erst mit dem Eröffnungstermin erfolgt, nicht entgegen. Streitgegenständlich sind Behinderungskosten, die nach dem Submissionstermin am 19.08.2004, nämlich nach dem ausgeschriebenen Zuschlagstermin am 02.09.2004 entstanden sind.

3.

36

Einer in Anlehnung an § 6 Nr. 1 S. 1 VOB/B erforderlichen Behinderungsanzeige bedurfte es vorliegend nicht. Die Beklagte selbst hat im Rahmen ihrer Bitten um Verlängerung der Bindefrist die in ihrem Verantwortungsbereich liegende Behinderung mitgeteilt.

4.

37

Die von der Klägerin vorgenommene Berechnung des Anspruchs auf Grundlage der baubetrieblichen Stellungnahme der K. ... Baumanagement GmbH (Anlage K 35 - AB 199 ff.) beinhaltet auch die nach § 642 BGB zu entschädigenden Positionen.

38

a) Die Klägerin macht auf (nachträglicher) kalkulativer Grundlage Vorhaltekosten und Allgemeine Geschäftskosten zuzüglich Mehrwertsteuer geltend. Die Positionen Wagnis und Gewinn berücksichtigt sie im Hinblick auf die Rechtsprechung des BGH (Urteil vom 21. Oktober 1999 - VII ZR 185/98 - juris Rn. 26) nicht. Der Entschädigungsanspruch umfasst auch die Allgemeinen Geschäftskosten, da der Auftragnehmer diese Kosten in der Regel nicht ersparen kann (vgl. Ingenstau/Korbion/Düring, aaO, § 6 Abs. 6 VOB/B, Rn. 60 mit weiteren Literatur- und auch Rechtsprechungsnachweisen).

39

b) Durchgreifende Angriffe der Beklagten bezüglich der Berechnung des Klageanspruchs auf Grundlage der baubetrieblichen Stellungnahme sind nicht erkennbar. Der Vortrag der Klägerin hierzu ist plausibel (§ 287 ZPO).

40

Insbesondere ergibt sich auch aus der Gutachtenanlage hinreichend nachvollziehbar die (nachträgliche) kalkulatorische Aufschlüsselung der dem Angebot zugrunde liegenden Preise, die entgegen der Behauptung der Beklagten sehr wohl mit dem Angebotspreis übereinstimmen. Der von der Beklagten behauptete Angebotspreis von insgesamt 1.049.280,19 EUR netto beruht offensichtlich auf einem von ihr zugrunde gelegten, indes im Jahr 2004 noch nicht geltenden Mehrwertsteuersatz von 19 % (bis 31.12.2006: 16 %), worauf der Senat in der mündlichen Verhandlung vom 21.02.2017 hingewiesen hat. Im Weiteren hat die Beklagte nicht (substantiiert) vorgetragen, dass die angesetzten Prozentsätze/Zuschläge bei den einzelnen Kostenbestandteilen unzutreffend seien. Substantiierter Vortrag hierzu sollte der Beklagten indes angesichts der bei ihr anzunehmenden fachlichen Kompetenz und der ihr aus dieser und anderen Ausschreibungen bekannten Kalkulationen von Vertragspreisen möglich sein.

5.

41

Entgegen der Auffassung der Beklagten ist der geltend gemachte werkvertragliche Anspruch nicht verjährt. Die für diesen Anspruch geltende dreijährige Verjährungsfrist ist insbesondere infolge des Schlichtungsverfahrens gem. § 18 Nr. 2 Ziff. 2 VOB/B und infolge der von Juli 2010 bis Februar 2011 geführten Verhandlungen über den klägerischen Anspruch gemäß § 203 BGB gehemmt gewesen.

42

a) Angesichts der vereinbarten Geltung der VOB/B und der zunächst als Nachtrag angemeldeten Forderung ist davon auszugehen, dass die Parteien stillschweigend eine Vereinbarung dahingehend getroffen haben, dass sie die Erstellung einer Schlussrechnung als Voraussetzung für die Fälligkeit der Forderung angesehen haben (vgl. hierzu BGH, Urteil vom 06. Oktober 1988 - VII ZR 367/87 -, juris Rn. 18). Damit wäre aufgrund der Schlussrechnungslegung am 11.10.2007 - ohne Hemmungstatbestände - Verjährungsende der 31.12.2010.

43

b) Der Hemmungstatbestand des § 18 Nr. 2 VOB/B aufgrund der Durchführung des Schlichtungsverfahrens ist für den geltend gemachten werkvertraglichen Anspruch gegeben. Die Hemmung trat ab Eingang des Antrages auf Durchführung des Verfahrens ein und endete drei Monate nach Zugang des Bescheides.

44

Das an das W. ... ministerium gerichtete Schreiben der Klägerin vom 25.03.2008 (K 21 - AB 135) auf Durchführung des Verfahrens ist unstreitig am 08.04.2008 beim Landesamt für Straßenbau und Verkehr eingegangen.

45

Der ablehnende Bescheid der Beklagten vom 22.07.2008 (K 24 - AB 139) ist der Klägerin unstreitig am 24.07.2008 zugegangen, damit endete die Hemmung am 24.10.2008. Die Hemmung umfasst somit den Zeitraum vom 08.04.2008 bis zum 24.10.2008, mithin 6 Monate und 16 Tage.

46

Die Verfahrensbevollmächtigten der Klägerin haben sich u.a. bezüglich der streitgegenständlichen Forderung mit Schreiben vom 09.07.2010 (K 27 - AB 146) erneut an die Beklagte gewandt. Die bis zum Schreiben der Anwälte der Klägerin vom 17.02.2011 (AB 192) hierzu geführte Korrespondenz ist als Verhandeln im Sinne von § 203 BGB zu werten. Sowohl die von den Beteiligten in ihren Schreiben gewählten Überschriften (Verfahren nach § 18 Nr. 2 VOB/B) als auch die von der Beklagten erforderten Nachweise für den geltend gemachten Anspruch lassen die Annahme zu, dass sich die Parteien in Verhandlungen gemäß § 203 BGB befunden haben.

47

Der Begriff der Verhandlungen ist hierbei weit auszulegen. Es genügt, dass der Gläubiger zu erkennen gibt, dass er einen Anspruch geltend macht und worauf er ihn im Kern stützt. Anschließend genügt jeder Meinungsaustausch über den Anspruch oder seine tatsächliche Grundlage, es sei denn, der Schuldner lehnt sofort erkennbar Verhandlungen ab (Palandt/Ellenberger, BGB, 76. Auflage, § 203 Rn. 2).

48

Nach diesen Maßstäben war infolge von Verhandlungen der Parteien die Verjährung im Zeitraum von Juli 2010 bis Februar 2011, mithin für mindestens 7 Monate gehemmt.

49

Infolge eines insgesamt anzunehmenden Hemmungzeitraums von (mindestens) 6 Monaten + 16 Tagen (ohne Einspruch gegen den ablehnenden Bescheid und Zurückweisung des Einspruchs) und (mindestens) weiteren 7 Monaten (Verhandlungen gem. § 203 BGB) war der Anspruch zum Zeitpunkt der Klageerhebung am 04.10.2011 noch nicht verjährt.

6.

50

Eine Abhängigkeit (Ausschluss oder Kompensation) zwischen dem hier geltend gemachten Entschädigungsanspruch wegen verzögerter Vergabe und dem im Parallelverfahren 4 U 155/12 verfolgten Anspruch wegen des auf Weisung der Beklagten vorzeitig erfolgten Abbaus der Stahlgleitwand besteht ebenfalls nicht.

51

Wer wegen Annahmeverzugs des Bestellers seine Leistungen nicht erbringen kann, sondern Geräte, Arbeitskraft und Kapital vorhält und deshalb auch andere Aufträge nicht generieren bzw. ausführen kann, behält gleichwohl seinen Vergütungsanspruch wegen der beauftragten Leistungen. Werden diese Leistungen später gekündigt (siehe Parallelverfahren 4 U 155/12), führt dies grundsätzlich nicht zum Wegfall der Vergütung. Der Anspruch auf Entschädigung nach § 642 BGB tritt neben den Vergütungsanspruch des Unternehmers und ist insbesondere nicht mit diesem zu verrechnen (Staudinger/Peters/Jacoby, 2014, BGB, § 642 Rn. 27).

7.

52

Entgegen der Auffassung der Beklagten ist die isolierte klageweise Geltendmachung der mit Schlussrechnungsposition N 3.1 beanspruchten Behinderungskosten zulässig. Es handelt sich um einen eigenständigen Anspruch mit eigener Grundlage, der unabhängig von der Schlussrechnung geltend gemacht werden kann.

8.

53

Der Senat hat bereits im Beschluss vom 21.03.2016 ausgeführt, dass die Klägerin angesichts des Submissionsergebnisses auch auf Erteilung des Zuschlags vertrauen durfte. Die Beklagte hat hierzu nur allgemeine Ausführungen entgegengehalten, die eine andere Annahme nicht rechtfertigen.

9.

54

Wegen der von der Klägerin zu beanspruchenden Entschädigung stehen ihr auch die für deren Durchsetzung angefallenen außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten zu. Denn die Beklagte befand sich zum Zeitpunkt der Mandatierung bereits in Zahlungsverzug.

55

Anknüpfungspunkt für den Verzug der Beklagten ist hierbei - entgegen der Auffassung der Beklagten - nicht die Abrechnung des streitgegenständlichen Anspruchs auf Grundlage der baubetrieblichen Stellungnahme der K. ... Management GmbH vom 16.06.2011 (K 35), sondern die Geltendmachung im Rahmen der Schlussrechnung vom 11.10.2007 unter Bezugnahme auf die Aufstellung der Kosten im Nachtragsangebot N 3.1. Denn es kommt nicht auf die Richtigkeit der (Be-)Rechnung an. Entscheidend ist, dem Auftraggeber eine sachliche Prüfung des Anspruchs zu ermöglichen, was vorliegend hinsichtlich der beanspruchten Behinderungskosten wegen der verzögerten Zuschlagserteilung zu bejahen ist (K 16 - AB 101f.).

10.

56

Der Zinsanspruch rechtfertigt sich aus §§ 286 Abs. 2 Nr. 3, 288 Abs. 2 BGB. Mit der in der Schlusszahlungsmitteilung erfolgten Streichung der von der Klägerin beanspruchten Entschädigung von Vorhaltekosten hat die Beklagte die Erfüllung der Forderung ernsthaft und endgültig verweigert. Die von den Parteien erst nach Durchführung des Schlichtungsverfahrens als Verhandlungen gemäß § 203 BGB zu wertende Korrespondenz führt zu keiner abweichenden Beurteilung dieses verzugsbegründenden Umstands.

11.

57

Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 2 Nr. 1 ZPO.

58

Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 708 Nr. 10, 711, 709 ZPO.

12.

59

Im Hinblick auf die bislang nicht geklärte Rechtsfrage, ob und ggf. auf welcher Grundlage und in welchem Umfang infolge verzögerter Vergabeverfahren vorvertraglich entstandene Vorhaltekosten des Bestbieters zu erstatten sind, war die Revision gemäß § 543 Abs. 2 Ziff. 2 ZPO zur Fortbildung des Rechts zuzulassen.

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