Urteil vom Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht (7. Zivilsenat) - 7 U 180/21

Tenor

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Einzelrichters der 15. Zivilkammer des Landgerichts Lübeck vom 13.10.2021, Az. 15 O 184/21, abgeändert und die Klage abgewiesen.

Der Kläger hat die Kosten des Rechtsstreits in beiden Rechtszügen zu tragen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Dem Kläger wird nachgelassen, die Zwangsvollstreckung der Beklagten wegen der Kosten gegen Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 % des aufgrund dieses Urteils vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Gründe

I.

1

Mit Vertrag vom 01.12.2015 kaufte der Kläger von der Audi Zentrum H. GmbH zum Preis von brutto 39.000,00 € folgenden Gebrauchtwagen, deren Hersteller die Beklagte ist: Audi A8, 3.0 TDI Quattro mit Dieselmotor EA-897 oder EA-896 Generation 2; Modell 4 H 20 DA, Motorkennbuchstabe CDTA, 184 kW/250 PS, Erstzulassung: 23.12.2011, Automatikgetriebe AL551 mit vorgeschaltetem Getriebe-Warmlaufschaltprogramm (GWSP) und nachfolgendem DSP (dynamisches Schaltprogramm), Kilometerstand: 54.266. Das Fahrzeug unterliegt der Euronorm 5 (d.h. es erfolgt keine sog. Abgasnachbehandlung mittels SCR-Katalysators). Die Abgasrückführungsrate ist u.a. abhängig von der Außentemperatur (Thermofenster). Das Fahrzeug ist mit einem Dieselpartikelfilter (DPF) ausgestattet.

2

Nach Bekanntwerden des VW Diesel-Abgasskandals im Herbst 2015 stellte auch die Beklagte zunächst im Rahmen von internen Untersuchungen fest, dass sich bei dem streitgegenständlichen Fahrzeug „Unregelmäßigkeiten“ bei dem dynamischen Schaltprogramm (DSP) zeigten. Die sog. Getriebe-Warmlaufziffer zwischen Getriebe- und Motorsteuergerät war fehlerhaft nicht aktiv. Diesen Umstand teilte die Beklagte dem zuständigen KBA mit, das mit Anordnung vom 14.06.2017 (teilgeschwärzt) die Beseitigung dieser Auffälligkeiten bei der Schaltpunktsteuerung des Automatikgetriebes anordnete. Ausweislich des v.g. Bescheides sollten innerhalb von drei Monaten nach Freigabe der Rückrufaktion 90 % aller in Deutschland zugelassenen Fahrzeuge umgerüstet werden, außerdem sollte die Beklagte bis zum 16.6.2017 einen Zeitplan vorlegen. Unstreitig geht es bei dem Fahrzeug des Klägers nicht um den KBA-Rückrufbescheid vom 19.1.2018 (im Internet öffentlich zugänglich), der die sog. Aufheizstrategie als unzulässige Abschalteinrichtung zum Gegenstand hat und Fahrzeuge Audi A8, 3,0 ltr. Diesel, Euro 6 betrifft.

3

Zum Hintergrund des KBA-Bescheides vom 14.6.2017 hat die Beklagte Folgendes vorgetragen: Um in der künstlichen Situation eines Rollenprüfstandes keine falschen Messergebnisse zu bekommen, wurde bei dem streitgegenständlichen Fahrzeugtyp mit Automatikgetriebe regelmäßig nach dem Motorstart ein gesondertes „Getriebe-Warmlaufschaltprogramm“ aktiviert. Der nachfolgende Umstieg in das (normale) DSP (dynamisches Schaltprogramm) konnte erst durch Aktivierung der Austrittsbedingungen des Getriebe-Warmlaufschaltprogramms, z. B. durch Drehen des Lenkrades über einen bestimmten Lenkwinkeleinschlag oder Kickdown) erfolgen. Die Getriebe-Warmlaufziffer signalisiert, dass der Motor seine Idealtemperatur noch nicht erreicht hat. Das Getriebesteuergerät reagiert darauf durch Einleitung früherer Rückschaltungen (d.h. Herunterschalten in einen niedrigeren Gang) und somit temporär höheren Motordrehzahlen. Dies führt zu einer günstigeren Lastpunktverschiebung und in deren Folge auch zu niedrigeren Stickoxidemissionen. Nach dem Vortrag der Beklagten existiert dieser Fehler nur bei Automatikfahrzeugen der streitgegenständlichen Art und außerdem auch nicht in sämtlichen Fahrzeugen mit diesem Getriebetyp, sondern lediglich in wenigen bestimmten Ausnahmen. Es handle sich um einen bloßen Bedatungsfehler bzw. eine Konformitätsabweichung, aufgrund dessen die sog. Warmlaufziffer im vorliegenden Konzept nicht versendet wurde. Dieser Fehler existiere nicht in sämtlichen Fahrzeugtypen mit diesem Bedatungskonzept (betroffen seien nämlich auch Modelle der Abgasstufe Euro 6). Es sei in einer Massenproduktion nicht vollständig auszuschließen, dass es in seltenen Ausnahmefällen -wie hier- zu technischen Softwarefehlern kommen könne (Konformitätsabweichung). Mehr als 99 % der von der Beklagten zwischen 2016 und 2018 untersuchten Fahrzeuge würden die regulatorischen Anforderungen an die NOx-Emissionen im NEFZ in allen verbauten Getriebeschaltprogrammen einhalten. Unstreitig entwickelte die Beklagte für den streitgegenständlichen Fahrzeugtyp bereits im Laufe des Jahres 2017 ein Software-Update, das mit Bescheid vom 22.11.2017 vom KBA freigegeben wurde. In dem Freigabebescheid heißt es, dass die „neue Motorsteuerungssoftware in Verbindung mit einer neuen Getriebesteuerungssoftware überprüft worden sei“ und in der vorgelegten Dokumentation und Software „keine unzulässige Abschalteinrichtung festgestellt wurde“.

4

Im Rahmen des sog. Nationalen Forums Diesel (August 2017) hatten die Beklagte - wie auch andere deutsche Hersteller - zugesagt, das Emissionsverhalten verschiedener Fahrzeuge grundsätzlich zu verbessern. Diese Maßnahme erfolgte auf freiwilliger Basis. Auch für das streitgegenständliche Fahrzeug konnte - nach Angaben der Beklagten - eine Verbesserung des Emissionsverhaltens durch bessere Einstellung der Motorsteuerung erreicht werden. Beide Maßnahmen, d.h. sowohl das Update der Getriebesteuerungssoftware (gemäß Freigabebescheid vom 22.11.2017) sowie das freiwillige Update im Rahmen des Nationalen Forums Diesel sollten in der Folgezeit durch ein einheitliches Software-Update umgesetzt werden. Die Umsetzung der technischen Maßnahme begann - so die Beklagte - im November 2019 einheitlich für alle A 7 und A 8 3.0 l Aggregate, die von einem KBA-Rückruf betroffen waren. Die Halter wurden darüber mit Schreiben vom Januar 2020 informiert.

5

Sowohl im ersten Rechtszug als auch im zweiten Rechtszug hat die Beklagte zunächst die vom Gericht geforderte Vorlage des verpflichtenden KBA-Rückrufs wegen „berechtigter Geheimhaltungsinteressen“ verweigert. Erst auf die ausdrückliche Anordnung des Senats nach § 142 ZPO legte die Beklagte mit Schriftsatz vom 13.4.2022 den v.g. Rückrufbescheid des KBA vom 14.6.2017 vor. In dem Halteranschreiben vom Januar 2020 (Anlage K 2) heißt es, dass „aufgrund eines angeordneten KBA-Rückrufs“ für verschiedene Audi-Fahrzeuge ein Software-Update der Antriebssteuerung vorgenommen werden muss. Hintergrund sei, dass Unregelmäßigkeiten in der Antriebssteuerung dieser Fahrzeuge im Hinblick auf die Funktionsweise des Emissionsminderungssystems festgestellt wurden. Das KBA habe daraufhin die Entfernung dieser Unregelmäßigkeit angeordnet. Es sei beabsichtigt, die Umrüstung durch ein Software-Update im Rahmen eines Rückrufs umzusetzen. Dies habe auf die Nutzbarkeit oder Sicherheit des Fahrzeugs im Straßenverkehr keinen Einfluss.

6

Der Kläger ließ das Software-Update im Februar/März 2020 aufspielen.
Das Fahrzeug hat bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung (17.5.2022) 189.034 km gelaufen.

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Mit anwaltlichem Schreiben vom 27.11.2020 machte der Kläger seine Ansprüche gegen die Beklagte geltend. Die Klage wurde am 22.12.2020 eingereicht und am 10.02.2021 der Beklagten zugestellt. Am 31.08.2021 betrug der Kilometerstand des Fahrzeugs 172.000.

8

Der Kläger hat die Ansicht vertreten, die Motorsteuerungssoftware seines Fahrzeugs verfüge über unzulässige Abschalteinrichtungen. Wegen derartiger Einrichtungen habe das KBA einen Rückrufbescheid erlassen. Das Fahrzeug verfüge über eine sensorische Prüfstandserkennung und nur im Rahmen des NEFZ werde die Abgasrückführung bis zur vollständigen Abschaltung reduziert. Nach 1.200 Sekunden werde die Abgasrückführung deaktiviert. Um diese Abschalteinrichtungen zu verdecken, sei auch das On-Board-Diagnosesystem (OBD) manipuliert worden. Die Abschalteinrichtungen seien nicht aus den Antragsunterlagen für die belgische Typgenehmigungsbehörde (belgische SNCH) erkennbar gewesen. Nach Bekanntwerden der Softwareproblematik habe das Fahrzeug erheblich an Wert verloren. Das Update sei mit nachteiligen Folgen für das Fahrzeug verbunden. Er habe das Fahrzeug seinerzeit wegen der Sicherheit, der Technik und Umweltfreundlichkeit gekauft. Er hat erklärt, sein „Fahrzeug habe jetzt, nach dem Update, auch eine ganz andere eigene Fahreigenschaften entwickelt“ . Er sei enttäuscht, dass sein Fahrzeug auch von dem Dieselabgasskandal betroffen sei. Er habe extra einen kleineren Motor gewählt, weil er sicher und sauber fahren wollte. Die mögliche Gesamtlaufleistung betrage mindestens 300.000 km.

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Ursprünglich hat der Kläger beantragt, die Beklagte zu verurteilen, an ihn 23.494,21 € Zug um Zug gegen Herausgabe und Übereignung des streitgegenständlichen Fahrzeugs zu zahlen.

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Zuletzt hat der Kläger beantragt,

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1. die Beklagte zu verurteilen, an ihn 20.314,65 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz auf 23.494,21 € seit dem 14.12.2020 bis zum 28.04.2021, auf 21.584,79 € seit dem 29.04.2021 bis 31.08.2021 und auf 20.314,65 € seit dem 01.09.2021 zu zahlen, Zug um Zug gegen Übergabe und Übereignung des Fahrzeugs Audi A 8 mit der Fahrzeugidentifikationsnummer: …,

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2. festzustellen, dass sich die Beklagte mit der Annahme dieses Fahrzeugs seit dem 14.12.2020 in Annahmeverzug befindet,

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3. die Beklagte zu verurteilen, an die X Versicherungs-AG, … zur Schadensnummer: …, vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 532,20 € (netto) zuzüglich der gesetzlichen Umsatzsteuer sowie Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

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Die Beklagte hat beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Sie hat behauptet, dass KBA habe den Rückruf nicht wegen einer manipulierten Motorsteuerungssoftware, sondern wegen einer technischen Konformitätsabweichung hinsichtlich der Getriebe-Schaltpunktsteuerung erlassen, welche in bestimmten Fahrsituationen zu einer Erhöhung der Stickoxidemissionen führen könne. Dabei handle es sich lediglich um einen Bedatungsfehler und nicht - wie auch vom KBA angenommen - um eine unzulässige Abschalteinrichtung. Eine solche liege bei Getriebesachverhalten nicht vor. Das Thermofenster sei zum Schutz des Motors erforderlich gewesen. Der Einsatz von Thermofenstern sei Industriestandard gewesen. Die mögliche Gesamtlaufleistung läge bei 250.000 km.

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Mit dem angefochtenen Urteil hat das Landgericht die Beklagte verurteilt, an den Kläger 20.314,65 € sowie Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz auf 23.494,21 € seit dem 14.12.2020 bis zum 28.04.2021, auf 21.584,79 € seit dem 29.04.2021 bis zum 31.08.2021 und auf 20.314,65 € seit dem 01.09.2021 zu zahlen, Zug um Zug gegen Übergabe und Übereignung des Fahrzeugs Audi A 8 mit der Fahrzeugidentifikationsnummer: … sowie festgestellt, dass sich die Beklagte mit der Annahme des Fahrzeugs in Annahmeverzug befindet. Ferner hat das Landgericht festgestellt, dass sich der Rechtsstreit in Höhe von 1.909,42 € erledigt hat und die Beklagte verurteilt, an die Rechtsschutzversicherung die beantragten vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten zu zahlen. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt des angefochtenen Urteils Bezug genommen

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Dagegen richtet sich die Berufung der Beklagten. Tatsächlich sei in dem Fahrzeug ein Motor des Typs EA-896 Generation 2 verbaut. Das streitgegenständliche Fahrzeug habe nichts mit dem Inverkehrbringen des mit der Umschaltlogik ausgestatteten Aggregats vom Typ EA-189 zu tun. Es sei lediglich von einem Rückrufbescheid wegen einer „technischen Konformitätsabweichung“ betroffen. Dies begründe keine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung im Sinne von § 826 BGB. Das KBA habe für den hier streitgegenständlichen Fahrzeugtyp bestätigt, dass keine unzulässigen Abschalteinrichtungen festgestellt wurde (vgl. amtliche KBA-Auskunft vom 22.01.2021 an das Landgericht Ingolstadt z.d. Az. 61 O 182/20; amtliche Auskunft des KBA vom 02.03.2021 an das Landgericht Ingolstadt zu dem Az. 61 O 864/20; amtliche Auskunft des KBA von 10.3.2021 an das Landgericht Ingolstadt zu dem Aktenzeichen 81 O 2654/19; amtliche Auskunft des KBA vom 27.4.2021 an das Landgericht Osnabrück, Aktenzeichen 1O1247/20)

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In der KBA-Auskunft vom 22.01.2021 heißt es:

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„...Es ist nicht sichergestellt, dass die Euro-5-Grenzwerte für Stickoxid in jedem der Schaltprogramme unter Typprüfbedingungen eingehalten werden. Dies wird als Konformitätsabweichung bewertet, da die so gebauten Fahrzeuge vom typgenehmigten Zustand abweichen. Die betreffenden Fahrzeuge werden zurückgerufen. Unzulässige Abschalteinrichtungen wurden für das betroffene Fahrzeug nicht festgestellt...

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Die bei den betroffenen Fahrzeugen vorliegende Erhöhung der Stickoxidemissionen im Rahmen der Typprüfung wird nicht durch eine unzulässige Strategie zur Verminderung der Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems verursacht, da die grundlegenden Kennfelder der Steuerung der Abgasrückführung (AGR) sich im gesamten Betriebsbereich des Motors gleich verhalten....

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Die unterschiedlichen Schaltpunkte, die je nach vorliegendem Schaltprogramm durch die Getriebesteuerung unterschiedlich angewählt werden, führen jedoch zu einer Lastpunktverschiebung im Betriebsbereich des Motors hin zu höheren Lasten (Einspritzmengen) und somit der vom Hersteller für diesen Betriebspunkt vorgesehenen AGR-Rate. Die AGR-Rate vermindert sich prinzipbedingt mit höherer Last. Damit der Motor das höhere angeforderte Drehmoment liefern kann, muss mehr Kraftstoff eingespritzt werden. Um diese größere Kraftstoffmenge zu verbrennen, benötigt der Motor mehr Frischluft, sodass aufgrund der notwendigen größeren Frischluftmenge weniger rückgeführtes Abgas in die Zylinder hineinpasst. Die gesteigerte Kraftstoffmenge führt gleichzeitig zu höheren Temperaturen im Zylinder und die Stickoxidemissionen steigen folglich. Diese AGR-Minderung entspricht keiner Abschalteinrichtung, da weiterhin die physisch maximal mögliche Menge an AGR gefahren wird.

23

Zudem ist die Schaltpunktsteuerung des automatischen Getriebes nicht Teil des Emissionskontrollsystems, da es die Emissionsstrategien des Emissionskontrollsystems (Schaltstrategien der AGR) nicht berührt.

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Den gleichen o.a. Effekt würde ein frühzeitiges Hochschalten durch den Fahrer eines Fahrzeugs mit manuellem Schaltgetriebe erzeugen. Die Schaltpunkte im Rahmen der Typprüfung im NEFZ für manuelle Getriebe sind allerdings gesetzlich festgelegt, sodass das Auftreten dieses Falls bei gültigen Tests für Fahrzeuge mit Handschaltgetriebe ausgeschlossen ist bzw. ein „falsches“ Schalten zum ungültig werden des durchgeführten Tests führen würde. Die Schaltung von automatischen Getrieben im Prüfstandstest ist hingegen nicht reglementiert und erfolgt nach der vom Hersteller vorgesehenen Schaltstrategie.

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Da die Schaltpunktsteuerung des automatischen Getriebes kein Teil des Emissionskontrollsystems ist, liegt schon aus formalen Gründen hier keine Abschalteinrichtung gem. Art. 3 Ziffer 10 der VO (EG) 715/2007 vor“.

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Im Übrigen sei - so die Beklagte - weder ein entsprechender Schädigungsvorsatz noch die erforderliche Kausalität festzustellen. Dem Kläger sei es nämlich darauf angekommen, ein leistungsstarkes Fahrzeug (250 PS) zu erwerben. Es sei nicht nachvollziehbar, inwieweit das Emissionsverhalten der entscheidende Faktor für den Abschluss des Kaufvertrages beim Kläger gewesen sein soll. Annahmeverzug scheide schon deshalb aus, weil der Kläger der Beklagten die ihr im Fall des Rücktritts obliegende Leistung zu keinem Zeitpunkt in einer den Annahmeverzug begründenden Weise angeboten habe. Mit ergänzendem Schriftsatz vom 28.03.2022 hat die Beklagte vorgetragen, dass der Rückruf lediglich aufgrund eines Softwarefehlers wegen der Beeinflussung der Schaltpunktsteuerung des Automatikgetriebes (sog. Getriebewarmlaufschaltprogramm) erfolgt sei. Daneben habe sie im Nachgang zum Nationalen Forum Diesel auf freiwilliger Basis ein weiteres Software-Update entwickelt, um eine Verbesserung des Emissionsverhaltens zu erreichen. Deshalb habe man mit der Umsetzung des Updates zur Getriebesteuerungssoftware bis zur Entwicklung und Freigabe der NFD-Maßnahme (Nationales Forum Diesel) gewartet und mit der Umsetzung erst im November 2019 begonnen.

27

Die Beklagte beantragt,

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das angefochtene Urteil im Umfang der Beschwer der Beklagten abzuändern und die Klage insgesamt abzuweisen.

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Der Kläger beantragt,

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die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

31

Er hält die Berufung bereits für unzulässig, da die Berufungsbegründung verspätet sei, im Übrigen verteidigt er das angefochtene Urteil.

32

Der Senat hat die Sache am 17.5.2022 mündlich verhandelt und den Kläger ergänzend persönlich angehört. Wegen des Ergebnisses wird auf den Inhalt des Protokolls und im Übrigen auf die im Berufungsrechtszug gewechselten Schriftsätze Bezug genommen.

II.

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Die Berufung der Beklagten ist zulässig und begründet. Der Kläger hat keinen Anspruch gegen die Beklagte wegen einer vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung aus §§ 826, 31 BGB.

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Die Beklagte ist mit Schriftsatz vom 13.4.2022 ihrer sekundären Darlegungslast mit Blick auf die technischen Hintergründe des KBA-Pflichtrückrufs vom 14.6.2017 nachgekommen und hat die Einzelheiten der Schaltpunktsteuerung des Automatikgetriebes (vorgeschaltetes Getriebe-Warmlaufschaltprogramm und Deaktivierung im Hinblick auf den Umstieg ins DSP „dynamisches Schaltprogramm“) erläutert. Mit der sog. „Aufheizstrategie“, die Gegenstand des KBA-Rückrufs vom 19.1.2018 gewesen ist, hat dieser Fall nichts zu tun. Darauf hat der Senat den Kläger bereits mit Verfügung vom 14.4.2022 (Bl. 389 GA) hingewiesen.

35

Soweit der Kläger behauptet, in seinem Fahrzeug sei tatsächlich der Motor Typ EA-897 mit der sog. „Aufheizstrategie“ verbaut (dabei soll es sich um eine unzulässige Abschalteinrichtung nach Art. 5 der VO (EG) Nr. 715/2007 handeln, vgl. LG Koblenz, Urteil vom 07.01.2021, 16 O 252/20, BeckRS, 2021, 6474, Rn. 17 m.w.N.), handelt es sich um eine Behauptung „ins Blaue hinein“, für die es keine Anhaltspunkte gibt. Schließlich unterliegt das klägerische Fahrzeug (EZ 23.12.2011) unstreitig der Euro 5 Abgasnorm und ist lediglich vom KBA-Rückruf vom 14.6.2017 wegen des Getriebeschaltprogramms betroffen. Bei dem Aggregat EA-897 geht es um den hier nicht streitgegenständlichen KBA-Rückruf vom 11.10.2019 und die schadstoffmindernde „schnelle Motoraufwärmfunktion“, die nur im Prüfzyklus anspringt, während die NOx-Schadstoffminderung im realen Verkehr unterbleibt (vgl. auch OLG Koblenz, Urteil vom 05.06.2020, 8 U 1803/19 zum 3.0 TDI Audimotor mit Euro-6-Norm).

36

Ergänzend wird auf Folgendes hingewiesen:

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1. Die „Thermofenster-Problematik“ ist mittlerweile von der höchstrichterlichen Rechtsprechung geklärt (vgl. BGH Beschluss vom 29.09.2021,VII ZR 223/20; BGH, Beschluss vom 29.09.2021, VII ZR 126/21; BGH, Beschluss vom 13.10.2021, VII ZR 50/21). Hinsichtlich der von der Außentemperatur abhängigen Steuerung der Abgasrückführung („Thermofenster“) setzt die Annahme objektiver Sittenwidrigkeit jedenfalls voraus, dass die handelnden Personen bei der Entwicklung und/oder Verwendung der temperaturabhängigen Steuerung des Emissionskontrollsystems in dem Bewusstsein handelten, eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden, und den darin liegenden Gesetzesverstoß billigend in Kauf nahmen (BGH, Urteil vom 19.01.2021, VI ZR 433/19, NJW 2021, 921 Rn. 19). Für ein solches Vorstellungsbild liegen keine hinreichenden Anhaltspunkte vor. Es fehlt auch am subjektiven Schädigungsvorsatz i.S.v. § 826 BGB. Die Beklagte hat die temperaturabhängige Funktionsweise des AGR-Systems damit begründet, dass bei niedrigeren Temperaturen wegen des Temperaturgefälles die Versottung des AGR-Systems und damit die Beschädigung des Motors drohten. Die Rechtsfrage, ob eine temperaturabhängige Reduzierung der Abgasrückführung eine unzulässige, durch die Vermeidung längerfristiger Motorschäden nicht gerechtfertigte Abschalteinrichtung darstellt, war bis zum Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 17.12.2020 (C-693/18) umstritten. Nach dem Bericht der vom Bundesverkehrsminister eingesetzten „Untersuchungskommission Volkswagen“ (April 2016) wird das Thermofenster von allen Autoherstellern mit der Notwendigkeit des Motorschutzes begründet; insoweit war ein Verstoß betreffend die Auslegung der Ausnahmevorschrift des Art. 5 Abs. 2, Satz2a VO (EG) Nr. 715/2007 nicht eindeutig. Eine möglicherweise nur fahrlässige Verkennung der Rechtslage genügt nicht. Im Hinblick auf die unsichere Rechtslage ist nicht dargetan, dass sich den für die Beklagte tätigen Personen insoweit eine Schädigung des Klägers hätte aufdrängen müssen (BGH, Beschluss vom 13.10.2021, VII ZR 50/21, Rn19). Deshalb kann auch nicht angenommen werden, dass die Beklagte beim Einbau des "Thermofensters" die Vorgaben der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 bewusst missachtet hat (OLG Schleswig, Urteil v. 30.11.2021, 7 U 36/21, juris Rn. 58; OLG Köln, Urteil vom 18.02.2021, 18 U 19/20, juris Rn. 34).

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2. (Falsche) Angaben im Typengenehmigungsverfahren
Soweit der Kläger behauptet, die Beklagte habe seinerzeit falsche Angaben im Typengenehmigungsverfahren gemacht, kann dem nicht gefolgt werden. Unstreitig hat die Beklagte den streitgegenständlichen Motortyp nicht beim deutschen KBA, sondern bei der Luxemburger Zulassungsbehörde Société Nationale de Certification et d´Homologation (SNCH) genehmigen lassen.

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Eine deliktische Haftung der Beklagten als Fahrzeug- und Motorherstellerin gem. §§ 826, 31 BGB setzt insoweit jedoch voraus, dass diese die Motorsteuerung des streitgegenständlichen Fahrzeugtyps vorsätzlich mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung (Thermofenster) versehen und („weitere Umstände“) die Genehmigungsbehörde, d.h. das KBA (hier das SNCH) hierüber arglistig getäuscht hätte (vgl. BGH, Urteil vom 25. Mai 2020, VI ZR 252/19 und vom 30. Juli 2020, VI ZR 354/19, VI ZR 367/19, VI ZR 397/19, juris). Nicht schon jede fehlerhafte Angabe, sondern erst bei gravierend unzureichenden, fehlerhaften oder gar unterlassenen Angaben eines Fahrzeugherstellers gegenüber dem KBA bei der Typgenehmigung eines Fahrzeugs liegen „besondere Umstände“ vor, die den Vorwurf der Sittenwidrigkeit begründen könnten. Erst hierin läge eine von der Rechtsordnung nicht mehr zu tolerierende systemische Täuschung des Rechtsgeschäftsverkehrs, durch welche das Vertrauen der Fahrzeugerwerber unter bewusster Täuschung einer Zulassungsbehörde untergraben worden wäre und der - selbst bei grundsätzlicher Akzeptanz von Gewinnerzielung und -maximierung - nicht mehr hinnehmbar wäre (OLG Schleswig, Urteil vom 13.8. 2021, 17 U 9/21, juris Rn. 60)

40

Für eine arglistige Täuschung der Genehmigungsbehörde wegen des unstreitig verbauten Thermofensters zum Zeitpunkt der Antragstellung (hier 2011) fehlt es an greifbaren Anhaltspunkten. Insoweit trifft den Kläger die Darlegungs- und Beweislast für solche Umstände, aus denen sich die Verwerflichkeit des Handelns der Mitarbeiter der Beklagten ergeben soll (BGH, Beschluss v. 19. Januar 2021 - VI ZR 433/19, juris-Rn. 19). Vor diesem Hintergrund muss sich daher die Beklagte auch nicht im Rahmen einer sekundären Darlegungslast dazu entlasten, keine unzureichenden oder fehlerhaften Informationen gegenüber der Genehmigungsbehörde bezüglich der Eigenschaften und Funktionsweise der von ihr verwendeten Motorsteuerungssoftware abgegeben zu haben, oder entsprechende Unterlagen vorlegen. Sich zu den Einzelheiten der von ihr erfolgten Angaben im Typengenehmigungsverfahren zu erklären, obläge der Beklagten vielmehr erst dann, wenn der Kläger seinerseits hinreichende Anhaltspunkte für unzureichende oder unrichtige Angaben vorgetragen hätte. Hieran fehlt es jedoch. Die Beklagte hat mit Schriftsatz vom 28.5.2018 dargelegt, dass „zumindest ab 2008“ sowohl dem KBA als auch dem EU-Normgeber und der SNCH der allgemeine Einsatz von Thermofenstern bekannt war. Im Übrigen gab es damals (2011) auch noch keine Pflicht, ungefragt im Typengenehmigungsverfahren auf ein Thermofenster hinzuweisen. Die damals gültige VO (EG) 692/2008 sah für die erforderlichen Antragsunterlagen in ihrer Anlage 3 (Muster des Beschreibungsbogens) des Anhangs I lediglich eine Positivliste vor, in der keine ausdrücklichen Angaben hinsichtlich etwaiger Abschalteinrichtungen verlangt wurden. Detaillierte Angaben zu den Emissionsstrategien im Typengenehmigungsverfahren sind erst seit Mitte 2016 mit der Verordnung (EU) 2016/646 und damit nach Erteilung der Typengenehmigung für das streitgegenständliche Fahrzeug eingeführt worden. Im Übrigen lassen sich selbst aus einer Verletzung von Mitteilungspflichten nach Art. 3 Nr. 9 VO (EG) 692/08 keine berechtigten Rückschlüsse auf eine bewusste Informationsverschleierung ziehen. Selbst wenn die Beklagte im Beschreibungsbogen keine Angaben zu dem Thermofenster und seine Auswirkungen auf das Emissionskontrollsystem gemacht haben sollte, reicht dies für die Darlegung eines bewussten Gesetzesverstoßes nicht aus. Denn ein einfacher Gesetzesverstoß begründet noch keine Sittenwidrigkeit, erst recht nicht, wenn die Genehmigungsbehörde mit den erfolgten Angaben zufrieden war und keine Rückfragen gestellt hat (OLG Celle, Urteil vom 25.8.2021,16 U 305/21, juris Rn. 40 m.H.a. OLG Celle, Urteile vom 13.11.2019, 7 U 367/18 und vom 18.12.2019,7 U 511/18, juris). Es hätte der zuständigen Genehmigungsbehörde oblegen, bei aus ihrer Sicht unvollständigen Angaben im Wege der Amtsermittlung Angaben nachzufordern (BGH, Urteil vom 16.09.2021, VII ZR 286/20, Rn. 26 bei juris; OLG Schleswig Urteil vom. 10.12.2021, 1 U 47/21, BeckRS 2021, 40935 Rn. 62).

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3. Weitere unzulässige Abschalteinrichtungen sind nicht substantiiert darlegt. Das KBA hat für den streitgegenständlichen Fahrzeug- und Motortyp inzwischen mehrfach bestätigt, dass keine unzulässigen Abschalteinreichtungen festgestellt werden konnten (KBA Auskunft v. 22.01.2021 an LG Ingolstadt; KBA Auskunft vom 02.03.2021 an LG Ingolstadt Az. 61 O 864/20). Festgestellt wurde lediglich ein sog. Bedatungsfehler im Zusammenhang mit der Schaltpunktsteuerung des Automatikgetriebes, die in bestimmten Fahrsituationen zu einer Erhöhung der NOx-Emissionen führen kann (siehe nachfolgend unter Ziff. 4). Das KBA hat damit lediglich eine technische Nicht-Konformität im Zusammenhang mit der Getriebeschaltung festgestellt, die mit einer vorsätzlich sittenwidrigen Schädigung (wie z.B. beim VW-Dieselmotor EA 189 im Zusammenhang mit dem Emissionskontrollsystem) nichts zu tun hat. Die Maßstäbe an die Substantiierungslast des Klägers werden auch mit Blick auf die BGH Entscheidung vom 25.11.2021, III ZR 202/20 eingehalten. Eine Behauptung ist nämlich dann unbeachtlich, wenn sie ohne greifbare Anhaltspunkte für das Vorliegen eines bestimmten Sachverhalts "willkürlich aufs Geratewohl" oder "ins Blaue hinein" aufgestellt worden ist. Dies gilt grundsätzlich auch in den Fällen, in denen die darlegungs- und beweispflichtige Partei hinsichtlich der aufzuklärenden Umstände selbst kein zuverlässiges Wissen besitzt und mangels eigener Sachkunde und weiterer zumutbarer Erkenntnismöglichkeiten letztlich auf Vermutungen angewiesen ist. In den "Dieselfällen" bedeutet dies, dass der Erwerber eines möglicherweise betroffenen Fahrzeugs greifbare Anhaltspunkte anführen muss, auf die er den Verdacht gründet, sein Fahrzeug weise eine oder mehrere unzulässige Abschalteinrichtungen auf (vgl. BGH, Beschluss vom 25.11.2021, III ZR 202/20, juris Rn. 12). Solche „greifbaren Anhaltspunkte“ führt der Kläger - angesichts der detaillierten Ausführungen der Beklagten zu den Hintergründen des Rückrufs vom 14.6.2017- nicht an.

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4. Pflichtrückruf vom 14.6.2017

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a) Die Beklagte hat mit Schriftsatz vom 13.4.2022 den KBA-Rückrufbescheid vom 14.6.2017 (= nachträgliche Anordnung einer Nebenbestimmung zu EG Typgenehmigungen) in teilgeschwärzter Form vorgelegt und die technischen Hintergründe (Rückrufcode 23X6) im Zusammenhang mit der Halterinformation von Januar 2020 (Anlage K 2) erläutert. Mit dem v.g. Halteranschreiben hat die Beklagte mitgeteilt, dass an dem streitgegenständlichen Fahrzeug „ein Software-Update der Antriebssteuerung vorgenommen werden muss“. Hintergrund sei, dass „Unregelmäßigkeiten in der Antriebssteuerung im Hinblick auf die Funktionsweise des Emissionsminderungssystems“ festgestellt wurden. Darüber hinaus bewirke das Update eine weitere Reduzierung der Stickoxidemissionen. In Bezug auf das avisierte Software-Update hat die Beklagte ausdrücklich bestätigt, dass „alle im Hinblick auf Schadstoffemissionen geltenden Grenzwerte und sonstigen Anforderungen eingehalten werden, und dass es zu keinerlei negativen Auswirkungen auf Kraftstoffverbrauchswerte, CO2 Emissionswerte, Motorleistung, maximales Drehmoment, Geräuschemissionen und Dauerhaltbarkeit von emissionsmindernden Einrichtungen komme. Die Emissionsgrenzwerte nach der Euro-5-Abgasnorm würden eingehalten“.

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Die Beklagte hat auch substantiiert erläutert, dass es hier nicht um das Aggregat EA-897 gehe, sondern um das Modell 4 H 20DA mit dem Motor „EA-896 Generation 2“. Es handele sich bei dem Rückruf vom 14.6.2017 lediglich um einen sog. Bedatungsfehler im Zusammenhang mit der Schaltpunktsteuerung des Automatikgetriebes. Dieser Fehler sei zunächst im Rahmen von internen Untersuchungen festgestellt und sodann dem KBA gemeldet worden. Um die Vergleichbarkeit und reproduzierbare Messergebnisse im NEFZ zu gewährleisten, sei - so die Beklagte - bei dem streitgegenständlichen Fahrzeug „nach dem Motorstart ein gesondertes Getriebe-Warmlaufschaltprogramm aktiviert“. Dieses Getriebe-Warmlaufschaltprogramm sollte im weiteren (normalen) Fahrbetrieb durch „Aktivierung der Austrittsbedingungen“ (z.B. durch Drehen des Lenkrades über einen bestimmten Lenkwinkeleinschlags oder einen Kickdown) nachfolgend in das DSP (dynamisches Schaltprogramm) überführt werden. Die Beklagte weist darauf hin, dass das „Getriebe-Warmlaufschaltprogramm“ (GWSP) nicht etwa ein unnatürliches Schaltverhalten aufweise, sondern vergleichbar mit dem Schaltverhalten des DSP und eines Fahrers sei, der ein Fahrzeug mit manuellem Getriebe bediene. Das KBA habe festgestellt, dass die Beeinflussung der Schaltpunktsteuerung über die sog. Getriebe-Warmlaufziffer zwischen Getriebe- und Motorsteuergerät fehlerhaft nicht aktiviert gewesen sei. Die Getriebe-Warmlaufziffer signalisiere, dass der Motor seine Idealtemperatur noch nicht erreicht habe. Das Getriebesteuergerät reagiere darauf durch Einleitung früherer Rückschaltungen und somit temporär höherer Motordrehzahlen. Dies führe zu einer günstigeren Lastpunktverschiebung und in deren Folge auch zu niedrigeren Stickoxidemissionen. Wenn die Getriebe-Warmlaufziffer fehlerhaft nicht versendet werde, könnten die Stickoxidemissionen in bestimmten Situationen des realen Fahrbetriebs höher ausfallen als bei Automatikfahrzeugen, bei denen die Steuerung über die Getriebe-Warmlaufziffer ordnungsgemäß funktioniere. Dieser Fehler in der Getriebeschaltpunktsteuerung stelle aber lediglich eine Konformitätsabweichung und keine manipulierte Prüfstandssoftware dar. In einer Massenproduktion sei - so die Beklagte - nicht vollständig auszuschließen, dass es in seltenen Ausnahmefällen -wie hier- zu technischen Softwarefehlern kommen könne. Mehr als 99 % der von der Beklagten zwischen 2016 und 2018 untersuchten Fahrzeuge würden die regulatorischen Anforderungen an die NOx-Emissionen im NEFZ in allen verbauten Getriebeschaltprogrammen einhalten.

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Durch den Bedatungsfehler (= d.h. Nichtsenden der Warmlaufziffer) hat die Beklagte keinen technischen Vorteil erlangt. Sendet das Motorsteuergerät versehentlich keine Warmlaufziffer, erreicht ein etwaiger Aufheizwunsch des Motors, der mit der Einleitung früherer Rückschaltungen in niedrigere Gänge und somit temporär höheren Drehzahlen verbunden ist, das Getriebesteuergerät nicht. Das jeweils aktive Schaltprogramm (in diesem Fall das „Getriebe-Warmlaufschaltprogramm“ GWSP) verbleibt damit in einem Bereich mit niedrigen Drehzahlen. Hohe Verbrennungstemperaturen kommen insbesondere dann vor, wenn bei niedriger Drehzahl ein hohes Drehmoment gefahren wird. Dies ist vergleichbar - wie die Beklagte sehr anschaulich beschrieben hat - mit einem Fahrrad bei einer Bergfahrt: In einem hohen Gang muss der Fahrer stark treten (= hohe Last), während sich die Pedalkurbel wenig dreht (= geringe Drehzahl). Der Fahrer, der in dieser Situation stark antritt, würde im übertragenen Sinn hohe NOx-Emissionen produzieren. Das Schalten in einen kleineren Gang (mit höheren Drehzahlen) würde die Bergfahrt für den Fahrer erträglicher machen (= weniger NOx - Emissionen). Ähnlich verhält es sich bei dem Versand der Warmlaufziffer. Die Belastung kann durch die Auswahl eines kleineren Gangs (mit höheren Drehzahlen) infolge des Versands der Warmlaufziffer verringert werden. Befindet sich das Fahrzeug aber ohne Versand der Warmlaufziffer in einem Bereich mit niedrigen Motordrehzahlen und einem hohen Gang, bedeutet dies hohe Last und damit auch höhere NOx- Emissionen. Nur in bestimmten Fahrsituationen, in denen sich das Fahrzeug im DSP befindet, kommt es aufgrund der nicht funktionierenden Warmlaufziffer zu einer Überschreitung der NOx-Grenzwerte. Das ist deshalb ein zum Rückruf berechtigter Fehler, weil Automatikfahrzeuge grundsätzlich in beiden Schaltprogrammen (Getriebe-Warmlaufschaltprogramm und normales DSP) die NOx-Grenzwerte einhalten müssen, wie dies im Normalfall des ordnungsgemäßen Versands der Warmlaufziffer auch üblicherweise gewährleistet ist. Das Senden der Warmlaufziffer bei entsprechendem Aufwärmwunsch des Motors führt zu einer temporären Erhöhung der Motordrehzahl und damit verbunden zu einer günstigeren Lastverschiebung und zu niedrigeren NOx-Emissionen. Die Warmlaufziffer verändert mithin keine Abgasemissionsstrategie, sie führt auch nicht zu einer erhöhten oder verminderten AGR-Rate und setzt auch die Abgaskontrolle nicht außer Betrieb.

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Die Beklagte hat ferner klargestellt, dass sowohl die Rückrufaktion vom 19.1.2018 (wegen der sog. Aufheizstrategie) als auch die streitgegenständliche Rückrufaktion vom 14.6.2017 (Konformitätsabweichung in der Getriebesteuerungssoftware) intern bei der Beklagten mit dem Rückrufcode „23X6“ versehen worden seien. Unter diesem Code seien verschiedene Rückrufaktionen zusammengefasst worden. Die Abarbeitung dieser Aktionen erfolge dabei in verschiedenen Wellen, sobald das Software Update für den jeweiligen Fahrzeugtyp zur Verfügung stehe. Eine Aussage über den jeweiligen Rückrufgrund sei aus dem internen Rückrufcode (hier „23X6“) nicht abzuleiten.

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Das zuständige KBA geht davon aus, dass es sich bei dem Rückruf vom 14.6.2017 lediglich um eine technische Konformitätsabweichung handelt (vgl. Auskunft vom 22.01.2021 gegenüber dem Landgericht Ingolstadt zu dem Aktenzeichen 61 O 182/20; KBA-Auskunft vom 02.03.2021 gegenüber dem Landgericht Ingolstadt zu dem Aktenzeichen 61 O 864/20). Aufgrund eines Fehlers im Getriebesteuergerät erfolge die Ansteuerung eines Warmlauf-Schaltprogramms nicht in allen Getriebemodi nach jedem Motorkaltstart. Im Warmlauf-Schaltprogramm würden die Grenzwerte der Schadstoffe in der Prüfung zur Typgenehmigung eingehalten. Es sei aber nicht sichergestellt, dass die Euro-5 NOx-Grenzwerte in allen Automatikschaltprogrammen (d.h. hier auch im DSP) und unter Typprüfbedingungen eingehalten würden. Dies werde als Konformitätsabweichung gewertet. Das KBA weist gleichzeitig darauf hin, dass unzulässige Abschalteinrichtungen für den betroffenen Fahrzeugtyp nicht festgestellt wurden, weil erhöhte Stickoxidemissionen nicht durch eine unzulässige Strategie zur Verminderung der Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems verursacht wurden, da „die grundlegenden Kennfelder der Steuerung der Abgasrückführung (AGR) sich im gesamten Betriebsbereich des Motors gleich verhielten“. Die AGR-Minderung entspreche keiner Abschalteinrichtung, da weiterhin die physisch maximal mögliche Menge an AGR gefahren werde. Zudem sei die Schaltpunktsteuerung des Automatikgetriebes nicht Teil des Emissionskontrollsystems, da es die Emissionsstrategien des Emissionskontrollsystems (Schaltstrategien der AGR) nicht berühre. Die Schaltung von automatischen Getrieben im Prüfstandstest sei außerdem nicht reglementiert und erfolge nach der vom Hersteller vorgesehenen Schaltstrategie. Es läge deshalb schon aus formalen Gründen - so dass KBA - keine Abschalteinrichtung vor, da die Schaltpunktsteuerung des Automatikgetriebes kein Teil des Emissionskontrollsystems sei (KBA-Auskunft vom 02.03.2021, Anlage BB 1).

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Nach den plausiblen Darlegungen der Beklagten und dem Inhalt der KBA-Rückrufbescheids vom 14.6.2017 sowie den zur Akte gereichten KBA-Auskünften (s.o.) ist der Senat davon überzeugt, dass es sich bei dem festgestellten Softwarefehler im Zusammenhand mit der Steuerung des Automatikgetriebes lediglich um eine technische Konformitätsabweichung bzw. einen Bedatungsfehler handelt. Eine bloße Konformitätsabweichung ist vom Vorliegen einer unzulässigen Abschalteinrichtung zu unterscheiden und kann den Tatbestand einer vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung von vornherein nicht begründen (OLG München, Beschluss vom 30.09.2021, 21 U 3609/21). Bei einer Konformitätsabweichung weicht das Fahrzeug lediglich von den regulatorischen Anforderungen ab. Das bedeutet, dass das genehmigte Fahrzeug sich im Feld anders als erwartet und genehmigt verhält. Bei der standardmäßigen Überprüfung der Feldfahrzeuge zeigt sich häufig, dass ein Fahrzeug bzw. einzelne Bauteile eines Fahrzeuges nicht mit dem genehmigten Typ übereinstimmen (z.B. nicht ordnungsgemäß verschraubtes Massekabel für eine Luftzusatzheizung, drohender Ausfall der Servolenkung, fehlerhaft verbauter Airbag oder verändertes Regenerationsverhalten des Dieselpartikelfilters). Eine solche technische Konformitätsabweichung bzw. ein technischer Bedatungsfehler führt aber nicht zu einer vorsätzlichen sittenwidrigen Schadenersatzhaftung des Herstellers (vgl. z.B. zum VW-Motor EA-288, OLG Koblenz, Hinweisbeschluss vom 08.12.2020, 2 U 385/20, OLG Oldenburg, Urteil vom 04.12.2020, 6 U 55/20, OLG Celle, Urteil vom 09.12.2020, 7 U 1738/19).

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b) Kausalität

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Auch die Kausalität ist hier zweifelhaft. Die Beweislast liegt insoweit beim Kläger. Es gibt keine Vermutung hinsichtlich der Kausalität zwischen der Schädigungshandlung und dem Eintritt eines konkreten Schadens. Zwar hat der Kläger im Termin am 07.05.2021 erklärt, er hätte das Fahrzeug auf keinen Fall erworben, wenn er gewusst hätte, dass dort ein solches Thermofenster aufgespielt sei. Er habe extra den kleineren Dieselmotor gewählt, weil er sicher und sauber fahren wollte. Im Termin am 17.5.2022 hat er - auf Nachfrage - dann ergänzend erklärt, ihm sei es bei dem Kauf sowohl auf den Sicherheitsaspekt als auch Umweltgesichtspunkte angekommen. Er hätte sich nämlich auch einen Audi A 8 mit Benzinmotor kaufen können, der dann aber einen erheblich höheren Verbrauch gehabt hätte. Dies überzeugt den Senat nicht. Denn immerhin hat der Kläger ein Fahrzeug mit einem Leergewicht von 2 Tonnen, einem Hubraum von 3 l mit einem V 6 Turbodieselmotor und einer Leistung von 250 PS gekauft, das - nach eigenen Angaben - immerhin zwischen 7 und 8 ltr. Diesel/100 km verbraucht. Dieser Umstand legt eher die Vermutung nahe, dass es dem Kläger bei dem Kauf primär auf ein sicheres und leistungsstarkes Fahrzeug ankam und weniger auf die Umweltverträglichkeit. Letztlich kommt es darauf aber auch nicht mehr an.

51

c) Schädigungsvorsatz

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Im Übrigen hat der Kläger auch keinen entsprechenden Vorsatz der Beklagten dargelegt. Unstreitig sind von dem Rückruf nicht alle Fahrzeuge des streitgegenständlichen Typs (z.B. solche mit manueller Schaltung) betroffen. Ein systematisches Vorgehen der organschaftlichen Vertreter der Beklagten ist weder dargelegt noch nachgewiesen. Die Schaltung von automatischen Getrieben im Prüfstandstest war zum Zulassungszeitpunkt nicht reglementiert und erfolgte nach der vom Hersteller vorgesehenen Schaltstrategie. Eine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung der Kunden im Zusammenhang mit dem Abgasverhalten liegt auch schon deshalb nicht vor, weil die Schaltpunktsteuerung des Automatikgetriebes unstreitig kein Teil des Emissionskontrollsystems ist (vgl. KBA-Auskunft vom 02.03.2021).

53

5. Ein Schadensersatzanspruch nach § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 27 Abs. 1 EG-FGV besteht ebenfalls nicht. Abgesehen davon, dass § 27 Abs. 1 EG-FGV nicht als Schutzgesetz einzuordnen ist, fehlt es aus den vorgenannten Gründen jedenfalls auch insoweit an einem Rechtswidrigkeitszusammenhang zwischen der Verletzung eines Schutzgesetzes und dem geltend gemachten Schaden sowie an dem Nachweis der Kausalität zu dem Kaufentschluss der Klagepartei (OLG Bamberg, Urteil vom 08.01.2020, 3 U 180/19, juris Rn. 55)

54

6. Die von dem Kläger geltend gemachten Nebenansprüche (Zinsen, vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten) sowie der Anspruch auf Feststellung des Annahmeverzuges und einer Ersatzpflicht der Beklagten für weitere Schäden bestehen schon deshalb nicht, weil er aus den zuvor genannten Gründen keine deliktischen Ansprüche aus dem Fahrzeugkauf herleiten kann.

55

Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 97 Abs. 1, 708 Nr. 10, 711 ZPO.

56

Gründe für die Zulassung der Revision besteht nicht, weil die Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung hat (§ 543 Abs. 2 Nr. 1 ZPO) noch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordern (§ 543 Abs. 2 Nr. 2 ZPO). Die Beurteilung, ob der Beklagten vorliegend eine sittenwidrige Schädigung anzulasten ist, erfolgt auf der Grundlage der nach der zitierten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs geklärten entscheidungserheblichen Rechtsfragen unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls.


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