Beschluss vom Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen - 18 A 4750/18
Tenor
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das zweitinstanzliche Verfahren wird abgelehnt.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
Der Streitwert wird auch für das Zulassungsverfahren auf 5.000 Euro festgesetzt.
1
Der Antrag auf Bewilligung von Prozessostenhilfe wird abgelehnt, weil die Rechtsverfolgung aus den nachstehenden Gründen keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet (§ 166 VwGO i.V.m. § 114 ZPO).
2Der Zulassungsantrag ist unbegründet, weil die geltend gemachten Zulassungsgründe nicht vorliegen.
3Die Darlegungen in der Zulassungsbegründung führen nicht auf ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angegriffenen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).
4Das Verwaltungsgericht hat tragend ausgeführt, die Klägerin erfülle das Ausweisungsinteresse des § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG. Sie habe einen nicht nur geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften begangen. Sie habe sich nach der bestandskräftigen Ablehnung ihres Asylantrags im August 2014 bis mindestens Mai 2016 im Bundesgebiet aufgehalten, ohne im Besitz eines anerkannten oder gültigen Passes oder Passersatzes zu sein. Damit habe sie den Straftatbestand des § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG erfüllt. Es lägen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die Klägerin sich trotz Tatbestandsverwirklichung nicht strafbar gemacht habe. Sie habe sich mehr als 20 Monate ohne Pass im Bundesgebiet aufgehalten. Angesichts dieses Zeitraums könne sie sich nicht darauf berufen, dass es ihr nicht früher möglich gewesen sei, einen Pass zu beschaffen. Stelle der Rechtsverstoß eine Straftat dar, so sei es nicht erforderlich, dass der Ausländer deswegen verurteilt worden sei. Das dagegen gerichtete Zulassungsvorbringen greift nicht durch.
5Ebenso wenig wie auf eine strafgerichtliche Verurteilung kommt es für das Vorliegen des Ausweisungsgrundes auf ein dementsprechendes staatsanwaltliches Ermittlungsverfahren oder ein gerichtliches Strafverfahren an. Deren Fehlen als solches lässt auch nicht etwa den Schluss zu, es habe kein dahingehender hinreichender Tatverdacht bestanden. Zwar mag die Strafbarkeit gemäß § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG entfallen, wenn es dem Ausländer unmöglich oder unzumutbar ist, seiner Pass- und Ausweispflicht nachzukommen. Da die Klägerin dem Beklagten aber einen am 9. Mai 2016 ausgestellten Pass ihres Heimatlandes vorgelegt hat, ist – wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt hat – nichts dafür greifbar, dass es ihr nicht rechtzeitig möglich gewesen wäre, einen Pass zu beschaffen. Das vorgelegte und auf den 23. Oktober 2017 datierte Schriftstück, das als Aussteller das Generalkonsulat von Bosnien und Herzegowina nennt und demzufolge möglicherweise u.a. die Klägerin keinen Passantrag stellen kann, da sie keinen Aufenthaltstitel besitzt, ist – sollte es sich überhaupt auf die Klägerin beziehen – mit Blick auf die oben genannte Passausstellung vom 9. Mai 2016 jedenfalls inhaltlich unzutreffend. Im Übrigen wird mit der Zulassungsbegründung nicht einmal behauptet, dass der Klägerin eine rechtzeitige Passerlangung unmöglich oder unzumutbar gewesen wäre. Entgegen der Auffassung der Klägerin entfällt der Tatbestand des § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG auch nicht in dem Fall, dass dem Ausländer eine Duldung ausgestellt worden ist. Dem Zulassungsvorbringen liegt insoweit eine Verwechselung mit § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG zugrunde.
6Unzutreffend ist die - im Wesentlichen auf Entscheidungen des VG Göttingen gestützte - Ansicht, der Anwendungsbereich des § 54 Abs. 2 Nr.9 AufenthG sei von vornherein nicht eröffnet, wenn das Strafmaß bei einem Verstoß gegen Strafvorschriften nicht das in § 54 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 AufenthG genannte Mindestmaß erreicht.
7Vgl. Nds.OVG, Beschluss vom 20. Juni 2017 – 13 LA 134/17 –, juris Rn. 11; BayVGH, Beschluss vom 19. September 2017 – 10 C 17.1434 –, juris Rn. 8; OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 10. Oktober 2016 – 2 O 26/16 –, juris Rn. 10 f.; Bauer/Dollinger, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage 2018, § 54 AufenthG Rn. 76.
8§ 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG ist nach den Gesetzesmaterialien ausdrücklich eine Auffangfunktion zugedacht worden. Die Bestimmung setzt einen nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Rechtsverstoß voraus. In diesem Zusammenhang wird teilweise die Auffassung vertreten, dass bei der Bewertung der Geringfügigkeit die Wertentscheidung in § 54 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 AufenthG ohne Übernahme des dort genannten Strafmaßes berücksichtigt werden kann (angemerkt sei, dass angesichts der Dauer des Rechtsverstoßes der Klägerin die Annahme der Geringfügigkeit ausscheidet).
9Vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 10. Oktober 2016 – 2 O 26/16 –, juris Rn. 10 f.; Bauer/Dollinger, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage 2018, § 54 AufenthG Rn. 76.
10Zudem ergibt – im Falle der Ausweisung - erst die nach § 53 Abs. 1 Halbsatz 2 AufenthG vorzunehmende Abwägung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, ob das Interesse an der Ausreise des Ausländers überwiegt. Im Rahmen dieser Abwägung ist auch ein Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG mit dem ihm im Einzelfall zukommenden Gewicht einzustellen.
11Vgl. Nds.OVG, Beschluss vom 20. Juni 2017 – 13 LA 134/17 –, juris Rn. 11; BayVGH, Beschluss vom 19. September 2017 – 10 C 17.1434 –, juris Rn. 8;
12Im Rahmen des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG erfolgt eine ggf. erforderliche Abwägung mit den privaten Bleibeinteressen (erst) bei der Frage, ob eine Abweichung vom Regelfall i.S.d. § 5 Abs. 1 AufenthG vorliegt. Im Übrigen ist sie auch bei einer – wie hier in § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG – spezialgesetzlich vorgesehenen Ermessensentscheidung vorzunehmen.
13Vgl. BVerwG, Urteil vom 12. Juli 2018 – 1 C 16.17 –, juris Rn. 15. Dabei sind die genannten Normen nebeneinander anwendbar: Vgl. Senatsbeschluss vom 11. Juli 2012- 18 B 562/12 –, juris Rn. 24; BayVGH, Beschluss vom 18. Dezember 2012 – 10 C 12.1789 –, juris Rn. 35; OVG Bremen, Urteil vom 10. November 2015 – 1 LB 10/15 –, juris Rn. 35 ff.; a.A. Nds.OVG, Urteil vom 27. April 2006 – 5 LC 110/05 –, juris Rn. 50; OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 6. Februar 2017 – 2 L 119/15 –, juris Rn. 32 f.
14Angemerkt sei, dass im vorliegenden Fall die Titelerteilungssperre des § 10 Abs. 3 Satz 1 und 2 AufenthG eingreift und ein danach erforderlicher Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nur dann vorläge, wenn alle zwingenden und regelhaften (z.B. § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) Erteilungsvoraussetzungen gegeben wären. Eine Abweichung vom Regelfall bzw. eine etwaige Ermessensreduktion auf Null führte deshalb nicht auf einen Anspruch im vorgenannten Sinne. Im Übrigen ist ein Ausweisungsinteresse gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG nicht nur dann gegeben, wenn es im Katalog des § 54 Abs. 1 oder 2 AufenthG als besonders schwerwiegend oder schwerwiegend aufgeführt ist. Vielmehr genügt grundsätzlich auch ein „einfaches“ Ausweisungsinteresse im Sinne von § 53 Abs. 1 AufenthG,
15vgl. BVerwG, Urteil vom 12. Juli 2018 – 1 C 16.17 –, juris Rn. 15,
16an jedenfalls dessen Vorliegen hier angesichts der besonderen ordnungsrechtlichen Bedeutung der Passpflicht,
17vgl. BVerwG, Beschluss vom 17. Juni 2013 – 10 B 1.13 –, juris Rn. 3 f.; Senatsbeschluss vom 9. Oktober 2012 – 18 E 777/12 –, juris Rn. 4,
18keinerlei Zweifel bestehen können.
19Es kann nach alledem offenbleiben, welche Folgen aus der von der Klägerin vertretenen Ansicht in einem Fall zu ziehen sind, in dem – wie hier – eine strafgerichtliche Verurteilung nicht erfolgt ist und es damit schon an einem Anknüpfungspunkt für einen Vergleich der jeweiligen konkreten Strafmaße fehlt.
20Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angegriffenen Urteils bestehen auch insoweit nicht, als das Verwaltungsgericht die Klage mit dem auf die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG gerichteten Hilfsantrag als unzulässig abgewiesen und zur Begründung ausgeführt hat, angesichts der in der mündlichen Verhandlung vom Beklagten abgegebenen Zusicherung nach § 38 Abs. 1 Satz 1 VwVfG NRW fehle es am Rechtsschutzbedürfnis. Der sinngemäße Hinweis der Klägerin auf § 38 Abs. 3 VwVfG NRW begründet keine Richtigkeitszweifel, weil auch nach dem Vorbringen der Klägerin nicht ersichtlich ist, dass die Voraussetzungen des § 38 Abs. 3 VwVfG NRW im konkreten Fall vorliegen können oder der Beklagte sich ihrer berühmt.
21Die geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung ist ebenfalls nicht gegeben (§ 123 Abs. 2 Nr. 3 VwGO).
22Die in diesem Zusammenhang aufgeworfenen Fragen,
23„Ist der Anwendungsbereich des § 54 Abs. 2 Nr. 9 Var. 1 AufenthG von vornherein nicht eröffnet, wenn wegen eines vom Gericht als strafbar erachteten Unterlassens einer Klägerin nie ein Ermittlungsverfahren eingeleitet wurde, und das Gericht auch keinerlei Feststellungen zum zumutbaren Tun isd § 13 StGB und zum strafrechtlichen Vorsatz getroffen hat?“
24„Ist der Anwendungsbereich des § 54 Abs. 2 Nr. 9 Var. 1 AufenthG von vornherein nicht eröffnet, wenn das Strafmaß bei einem Verstoß gegen Strafvorschriften nicht das in § 54 Abs. 2 Nr. 1 bis 2 AufenthG genannte Mindestmaß erreicht?“
25haben keine grundsätzliche Bedeutung. Die erstgenannte Frage stellt sich schon deshalb nicht, weil das Verwaltungsgericht den Tatbestand des § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG bejaht und ausgeführt hat, es lägen keine Anhaltspunkte vor, die gegen eine Strafbarkeit der Klägerin sprächen. Sollte die Frage dahin zu verstehen sein, ob es immer darüberhinausgehender ausdrücklicher Feststellungen zum zumutbaren Tun und zum Vorsatz bedarf, so wäre die Frage ohne weiteres zu verneinen. Der vom Gericht in diesem Zusammenhang zu leistende Prüfungs- und Begründungsaufwand ist abhängig von den Umständen des jeweiligen Einzelfalls. Hier liegt die Richtigkeit des vom Verwaltungsgericht gefundenen Ergebnisses auch unter Berücksichtigung des Vortrags der Klägerin auf der Hand, so dass die Entscheidung keine Defizite aufweist. Dass kein Ermittlungsverfahren eingeleitet worden ist, ist – wie oben ausgeführt – ohne Belang.
26Die zweite Frage ist nach den vorstehenden Ausführungen zum Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ebenfalls zu verneinen, ohne dass es der Durchführung eines Berufungsverfahrens bedarf.
27Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO; die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 2 GKG.
28Dieser Beschluss ist unanfechtbar.
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