Beschluss vom Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen - 14 B 1192/21
Tenor
Der Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 21. Juni 2021 wird mit Ausnahme der Streitwertfestsetzung geändert und wie folgt neu gefasst:
Die aufschiebende Wirkung der Klage 25 K 2404/21 VG Düsseldorf gegen den Haftungsbescheid der Antragsgegnerin vom 15. September 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 8. März 2021 wird angeordnet.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge.
Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 2.268,90 € festgesetzt.
Gründe:
1Die zulässige Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 21. Juni 2021 ist begründet. Die von der Antragstellerin dargelegten Gründe (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO) ergeben, dass das Verwaltungsgericht ihren Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage gegen den Haftungsbescheid der Antragsgegnerin vom 15. September 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 8. März 2021 zu Unrecht abgelehnt hat, soweit die Antragsgegnerin darin die Antragstellerin auf Zahlung von 9.075,62 € in Anspruch nimmt. Der Antrag der Antragstellerin auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage gegen den Haftungsbescheid der Antragsgegnerin vom 15. September 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 8. März 2021 ist zulässig und begründet.
2Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung u. a. im Fall des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO ganz oder teilweise anordnen. Ein Fall des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO liegt hier vor. Nach dieser Vorschrift entfällt die aufschiebende Wirkung bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten. Bei der Zahlungsaufforderung im Haftungsbescheid der Antragsgegnerin vom 15. September 2020 handelt es sich um die Anforderung öffentlicher Abgaben. Die Klage der Antragstellerin gegen den Haftungsbescheid der Antragsgegnerin vom 15. September 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 8. März 2021 entfaltet daher keine aufschiebende Wirkung.
3Die demnach vorzunehmende Abwägung („kann“) zwischen dem Interesse der Antragstellerin, den hier im Beschwerdeverfahren noch in Streit stehenden Betrag von 9.075,62 € vorläufig nicht zahlen zu müssen, und dem Interesse der Antragsgegnerin, den Haftungsbescheid vom 15. September 2020 jedenfalls hinsichtlich des genannten Betrags sofort vollziehen zu können, fällt zu Gunsten der Antragstellerin aus.
4Im Falle des Entfallens der aufschiebenden Wirkung wegen der Anforderung öffentlicher Abgaben und Kosten nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO ist die nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO vorzunehmende Interessenabwägung am Maßstab des § 80 Abs. 4 Satz 3 VwGO auszurichten. Nach dieser Vorschrift soll die Aussetzung bei öffentlichen Abgaben und Kosten erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen oder wenn die Vollziehung für den Abgaben- oder Kostenpflichtigen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte. Diese Voraussetzungen liegen hier vor.
5Es bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Haftungsbescheids der Antragsgegnerin vom 15. September 2020. Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts im Sinne des § 80 Abs. 4 Satz 3 VwGO bestehen dann, wenn bei summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage ein Erfolg der Klage wahrscheinlicher als ein Unterliegen ist.
6Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 14. September 2017 - 14 B 939/17 -, juris, Rdnr. 2 - 7.
7Dies ist hier der Fall. Der Haftungsbescheid der Antragsgegnerin vom 15. September 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 8. März 2021 ist nach dem gegenwärtigen Sachstand überwiegend wahrscheinlich rechtswidrig.
8Nach § 191 Abs. 1 Satz 1 AO kann, wer kraft Gesetzes für eine Steuer haftet (Haftungsschuldner), durch Haftungsbescheid in Anspruch genommen werden. Die Antragstellerin haftet nach den bisher bekannten Tatsachen voraussichtlich nicht für die Gewerbesteuer- und Nebenforderungen der Antragsgegnerin gegen die I. UG in Höhe von 9.075,62 € (Nachforderungszinsen für das Veranlagungsjahr 2015 in Höhe von 317,- €, Gewerbesteuer für das Veranlagungsjahr 2016 in Höhe von 1.942,42 €, Nachforderungszinsen für das Veranlagungsjahr 2016 in Höhe von 255,- €, Gewerbesteuer für das Veranlagungsjahr 2017 in Höhe von 6.129,90 €, Nachforderungszinsen für das Veranlagungsjahr 2017 in Höhe von 91,- €, Mahngebühren in Höhe von 52,- €, Pfändungsgebühren und Portokosten in Höhe von 149,50 € und Säumniszuschläge in Höhe von 138,50 €).
9Nach § 69 Satz 1 AO haften die in den §§ 34 und 35 AO bezeichneten Personen, soweit Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis (§ 37 AO) infolge vorsätzlicher oder grob fahrlässiger Verletzung der ihnen auferlegten Pflichten nicht oder nicht rechtzeitig festgesetzt oder erfüllt worden sind. Die Antragstellerin gehört zu den in § 34 AO bezeichneten Personen. Nach § 34 Abs. 1 Satz 1 AO haben die gesetzlichen Vertreter natürlicher und juristischer Personen deren steuerliche Pflichten zu erfüllen. Die Antragstellerin war seit dem Bestehen der juristischen Person I. UG (zunächst unter dem Namen D. UG) (vgl. § 13 Abs. 1 GmbHG) mit deren Eintragung ins Handelsregister am 8. Oktober 2014 (vgl. § 11 Abs. 1 GmbHG) bis zu ihrer Abberufung am 7. Oktober 2016 und sodann erneut seit ihrer Bestellung am 23. Januar 2019 bis zur Auflösung der I. UG mit Rechtskraft des Beschlusses des Amtsgerichts Kleve vom 30. März 2020 - 34 IN 24/19 -, mit dem das Amtsgericht die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der I. UG mangels Masse abgelehnt hat (vgl. § 60 Abs. 1 Nr. 5 GmbHG), als Geschäftsführerin und sodann bis zur Löschung der I. UG im Handelsregister am 15. Juli 2020 als Liquidatorin deren gesetzliche Vertreterin (vgl. §§ 35 Abs. 1, 69 Abs. 1 GmbHG). Sie hat ihre steuerlichen Pflichten als Geschäftsführerin und Liquidatorin der I. UG aber mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht verletzt.
10Die Antragsgegnerin wirft der Antragstellerin im Haftungsbescheid vom 15. September 2020 und im Widerspruchsbescheid vom 8. März 2021 zunächst vor, für die Veranlagungsjahre 2015, 2016 und 2017 unkorrekte Steuererklärungen abgegeben zu haben. Dies war jedoch hinsichtlich des Veranlagungsjahrs 2015 mit überwiegender Wahrscheinlichkeit, hinsichtlich der Veranlagungsjahre 2016 und 2017 ganz sicher nicht der Fall. Die Gewerbesteuererklärungen der I. UG für die Veranlagungsjahre 2016 und 2017 hat deren Steuerberaterin am 19. Dezember 2017 für das Veranlagungsjahr 2016 und am 18. Januar 2019 für das Veranlagungsjahr 2017 beim Finanzamt Geldern eingereicht (siehe die Gewerbesteuermessbescheide des Finanzamts Geldern vom 13. April 2018 für das Veranlagungsjahr 2016 und vom 13. Februar 2019 für das Veranlagungsjahr 2017). Zu diesen Zeitpunkten war die Antragstellerin nicht mehr Geschäftsführerin der I. UG, sondern ihr Ehemann I1. I. . Aus dem Verwaltungsvorgang der Antragsgegnerin ergibt sich nicht, wann die I. UG die Gewerbesteuererklärung für das Veranlagungsjahr 2015 abgegeben hat. Wahrscheinlich war dies, wie im Falle der Gewerbesteuererklärungen für die Veranlagungsjahre 2016 und 2017, Ende des Jahres 2016 oder sogar erst Anfang des Jahres 2017 der Fall. Auch in diesem Zeitraum war die Antragstellerin nicht mehr Geschäftsführerin der I. UG, sondern ihr Ehemann I1. I. .
11Selbst wenn die Antragstellerin die Gewerbesteuererklärung für die I. UG für das Veranlagungsjahr 2015 abgegeben hätte, folgt nicht allein daraus, dass das Finanzamt Geldern im Gewerbesteuermessbescheid vom 1. Juli 2019 offenbar einen höheren Gewinn aus Gewerbebetrieb der I. UG für das Veranlagungsjahr 2015 zugrunde gelegt hat, als von der I. UG für das Veranlagungsjahr 2015 erklärt worden ist - aus dem von der Antragsgegnerin vorgelegten Verwaltungsvorgang ist schon nicht ersichtlich, welchen Gewinn aus Gewerbebetrieb die I. UG für das Veranlagungsjahr 2015 erklärt hat -, dass die Antragstellerin den Gewinn aus Gewerbebetrieb der I. UG in der Gewerbesteuererklärung für das Veranlagungsjahr 2015 pflichtwidrig zu niedrig angegeben hätte.
12Nach § 7 Abs. 1 Satz 1 GewStG, § 8 Abs. 1 Satz 1 KStG, § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG, § 4 Abs. 1 Satz 1 EStG ist Gewinn aus Gewerbebetrieb der Unterschiedsbetrag zwischen dem Betriebsvermögen am Schluss des Wirtschaftsjahres und dem Betriebsvermögen am Schluss des vorangegangenen Wirtschaftsjahres, vermehrt um den Wert der Entnahmen und vermindert um den Wert der Einlagen. Die Ermittlung des Gewinns aus Gewerbebetrieb erfordert daher eine Bewertung des Betriebsvermögens am Schluss des betreffenden und am Schluss des vorhergegangenen Wirtschaftsjahres. Diese Bewertungen sind erst pflichtwidrig im Sinne des § 69 Satz 1 AO, wenn sie unvertretbar sind.
13Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 17. August 2018 ‑ 14 A 1767/16 -, juris, Rdnr. 23.
14Es ist nicht ersichtlich, dass dies hier der Fall sein könnte. Die Antragsgegnerin hat nicht ermittelt, aus welchen Gründen das Finanzamt Geldern im Gewerbesteuermessbescheid vom 1. Juli 2019 einen höheren Gewinn aus Gewerbebetrieb der I. UG für das Veranlagungsjahr 2015 zugrunde gelegt hat, als die I. UG - mutmaßlich - für das Veranlagungsjahr 2015 erklärt hat. Hierzu hätte sie zunächst den Prüfungsbericht des Finanzamts Geldern vom 29. Mai 2019 über die bei der I. UG durchgeführte Außenprüfung beiziehen müssen. Erst auf dieser Grundlage könnte, ggf. nach Beiziehung weiterer Unterlagen, beurteilt werden, ob die Bewertungen der I. UG in den der Gewerbesteuererklärung für das Veranlagungsjahr 2015 zugrundeliegenden Jahresabschlüssen für die Wirtschaftsjahre 2014 und 2015 unvertretbar waren.
15Erst Recht ist nicht ersichtlich, dass ein etwaiger Pflichtenverstoß des Geschäftsführers oder der Geschäftsführerin der I. UG bei der Abgabe der Gewerbesteuererklärung für das Veranlagungsjahr 2015 grob fahrlässig oder vorsätzlich im Sinne des § 69 Satz 1 AO gewesen sein könnte. Grobe Fahrlässigkeit im Sinne des § 69 Satz 1 AO liegt vor, wenn der Steuerpflichtige oder sein gesetzlicher Vertreter die ihm nach seinen persönlichen Fähigkeiten und Verhältnissen zumutbare Sorgfalt in ungewöhnlichem Maße und in nicht entschuldbarer Weise verletzt.
16Vgl. BFH, Beschluss vom 18. Januar 2008 - VII B 63/07 -, juris, Rdnr. 5.
17Ob dieses hier - einen Pflichtenverstoß des Geschäftsführers oder der Geschäftsführerin der I. UG bei der Abgabe der Gewerbesteuererklärung für das Veranlagungsjahr 2015 unterstellt - der Fall gewesen sein könnte, ließe sich ebenfalls erst auf der Grundlage des Prüfungsberichts des Finanzamts Geldern vom 29. Mai 2019 und ggf. weiterer Unterlagen beurteilen.
18Die Antragsgegnerin wirft der Antragstellerin im Haftungsbescheid vom 15. September 2020 und im Widerspruchsbescheid vom 8. März 2021 weiter vor, die oben genannten Gewerbesteuern, Nachzahlungszinsen, Säumniszuschläge, Mahngebühren, Pfändungsgebühren und Portokosten nicht aus den Mitteln der I. UG entrichtet zu haben. Auch diesbezüglich liegt jedoch mit überwiegender Wahrscheinlichkeit eine Pflichtverletzung der Antragstellerin nicht vor, jedenfalls nicht in der von der Antragsgegnerin angenommenen Höhe.
19Nach § 34 Abs. 1 Satz 2 AO haben die gesetzlichen Vertreter juristischer Personen insbesondere dafür zu sorgen, dass die Steuern aus den Mitteln entrichtet werden, die von ihnen verwaltet werden. Reichen die Zahlungsmittel des Steuerschuldners nicht für die gleichzeitige Bezahlung aller Schulden aus, ist der gesetzliche Vertreter des Steuerschuldners lediglich verpflichtet, die fälligen Steuern in etwa gleicher Höhe zu tilgen wie die fälligen Forderungen anderer Gläubiger.
20Vgl. BFH, Beschluss vom 20. Februar 2001 - VII B 111/00 -, juris, Rdnr. 15, und Urteil vom 26. April 1984 - V R 128/79 -, BFHE 141, 443 (448).
21Dabei ist es unerheblich, ob die verfügbaren Zahlungsmittel des Steuerschuldners aus seinem Vermögen oder dem Vermögen eines Geschäftsführers oder Gesellschafters stammen.
22Vgl. BFH, Beschluss vom 28. Juni 2006 - VII B 267/05 -, juris, Rdnr. 10 f.
23Werden während eines längeren Zeitraums mit mehreren Fälligkeitszeitpunkten die Steuern nicht oder nicht vollständig entrichtet, so ist für die Feststellung, ob und inwieweit der gesetzliche Vertreter des Steuerschuldners seine Verpflichtung zur in etwa gleichmäßigen Befriedigung aller Gläubiger gegenüber dem Finanzamt verletzt hat, auf die Summen der fälligen Steuern, der fälligen Verbindlichkeiten und der hierauf erfolgten Zahlungen im gesamten Haftungszeitraum abzustellen.
24Vgl. BFH, Urteile vom 14. Juli 1987 - VII R 188/82 -, BFHE 150, 312 (314 f.), und vom 12. Juni 1986 - VII R 192/83 -, BFHE 146, 511 (512 ff.).
25Im vorliegenden Fall ist es nach dem jetzigen Kenntnisstand überwiegend wahrscheinlich, dass die I. UG bereits im Zeitpunkt der Fälligkeit der Gewerbesteuermehrbeträge und der Nachzahlungszinsen für die Veranlagungsjahre 2015, 2016 und 2017 in Höhe von insgesamt 23.332,32 € am 26. August 2019 (siehe den Gewerbesteuerbescheid der Antragsgegnerin vom 23. Juli 2019) und auch in der Folgezeit über keine ausreichenden Mittel zu ihrer Begleichung mehr verfügte. Nach den von der Antragstellerin im Beschwerdeverfahren vorgelegten Kontoauszügen wies das Konto der I. UG bei der Sparkasse Krefeld am Beginn des 26. August 2019 nur noch ein Guthaben in Höhe von 3.294,38 € auf. In der Folgezeit sind noch nennenswerte Gutschriften auf dem Konto über 1.000,- € am 30. September 2019 (Bareinzahlung), 5.000,- € am 10. Oktober 2019 (Bareinzahlung) und 2.910,- am 14. Oktober 2019 (Überweisung durch eine Frau E. I. ) erfolgt, mit denen die Antragstellerin Verbindlichkeiten der I. UG beglichen hat, u.a. teilweise die Steuerverbindlichkeiten gegenüber der Antragsgegnerin durch eine Zahlung am 10. Oktober 2019 in Höhe von 4.900,- €. Dass die I. UG noch über weiteres nennenswertes Vermögen verfügte, ist unwahrscheinlich. Hiergegen spricht, dass das Amtsgericht Kleve mit Beschluss vom 30. März 2020 - 34 IN 24/19 - die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der I. UG mangels Masse ablehnte.
26Bei dieser Sachlage wäre im Klageverfahren weiter aufzuklären, wie hoch die fälligen Verbindlichkeiten der I. UG am 26. August 2019 insgesamt waren, welche Verbindlichkeiten der I. UG in der Folgezeit bis zu ihrem Erlöschen am 15. Juli 2020 noch hinzugekommen sind und in welcher Höhe die I. UG diese getilgt hat, um festzustellen, ob und ggf. in welcher Höhe die Antragstellerin als Geschäftsführerin und Liquidatorin der I. UG die Antragsgegnerin gegenüber anderen Gläubigern benachteiligt hat, indem sie die fälligen Steuerschulden der I. UG durch die Zahlung von (nur, aber immerhin) 4.900,- € am 10. Oktober 2019 teilweise beglich. Der Senat sieht sich nicht veranlasst, diese Ermittlungen im Beschwerdeverfahren vorzunehmen, zumal der Haftungsbescheid der Antragsgegnerin vom 15. September 2020 nach dem gegenwärtigen Sachstand noch aus einem weiteren Grund keinen Bestand haben kann (siehe unten).
27Schließlich wirft die Antragsgegnerin der Antragstellerin in der Antragserwiderung vom 12. Mai 2021 vor, sie hätte aus den in den Jahren 2015 bis 2017 erzielten wesentlich höheren Gewinnen Rücklagen zur Begleichung der daraus resultierenden Gewerbesteuerforderungen bilden müssen. Auch diesbezüglich liegt mit überwiegender Wahrscheinlichkeit eine Pflichtverletzung der Antragstellerin nicht vor.
28Der gesetzliche Vertreter des Steuerschuldners verletzt seine Pflicht aus § 34 Abs. 1 Satz 2 AO, dafür zu sorgen, dass die Steuern aus den von ihm verwalteten Mitteln des Steuerschuldners entrichtet werden, schon dann, wenn er ungeachtet der erkennbar entstehenden Steueransprüche für deren spätere Tilgung im Zeitpunkt der Fälligkeit keine Vorsorge trifft. Dabei kann je nach den Umständen des Einzelfalls ein bestimmtes pflichtgemäßes Verhalten auch schon vor der Entstehung der Steuerforderung geboten sein, wenn die Entstehung absehbar war.
29Vgl. BFH, Beschluss vom 25. April 2013 - VII B 245/12 -, juris, Rdnr. 17.
30Nach diesem Maßstab hat die Antragstellerin hinsichtlich der noch unbeglichenen Steuerschulden der I. UG, für die die Antragsgegnerin sie in Anspruch nimmt, überwiegend wahrscheinlich nicht pflichtwidrig gehandelt.
31Die Entstehung der Nachforderungszinsforderung der Antragsgegnerin gegen die I. UG für das Veranlagungsjahr 2015 in Höhe von 317,- € war für die Antragstellerin bis zu ihrer Abberufung als Geschäftsführerin der I. UG am 7. Oktober 2016 überwiegend wahrscheinlich noch nicht absehbar. Sie musste daher für deren Tilgung aus den von der I. UG im Jahr 2015 erzielten Gewinnen keine Vorsorge treffen. Nach § 233a Abs. 1 Satz 1 AO ist, wenn die Festsetzung der Gewerbesteuer zu einem Unterschiedsbetrag im Sinne des § 233a Abs. 3 AO führt, dieser zu verzinsen. Auf dieser Grundlage musste die Antragstellerin mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht mit der Entstehung von Nachforderungszinsen für die I. UG für das Veranlagungsjahr 2015 rechnen. Überwiegend wahrscheinlich hatte sie selbst bis zum 7. Oktober 2016 noch keine Gewerbesteuererklärung für die I. UG für das Veranlagungsjahr 2015 abgegeben. Dann musste sie auch nicht damit rechnen, dass das Finanzamt Geldern infolge einer Außenprüfung höhere Gewinne der I. UG für das Veranlagungsjahr 2015 annehmen und daher nachträglich einen höheren Gewerbesteuermessbetrag für das Veranlagungsjahr 2015 festsetzen würde, was zu einer höheren Gewerbesteuerfestsetzung durch die Antragsgegnerin für das Veranlagungsjahr 2015 und damit zu einem Unterschiedsbetrag im Sinne des § 233a Abs. 1 Satz 1 AO führen würde, den die I. UG zu verzinsen haben würde. Sie musste auch nicht damit rechnen, dass ihr Nachfolger als Geschäftsführer den Gewinn der I. UG aus Gewerbebetrieb in der Gewerbesteuererklärung für das Veranlagungsjahr 2015 zu niedrig angeben würde.
32Hinsichtlich der Veranlagungsjahre 2016 und 2017 waren im Zeitpunkt der Abberufung der Antragstellerin als Geschäftsführerin der I. UG am 7. Oktober 2016 noch gar keine Gewinne entstanden, aus denen die Antragstellerin Rücklagen zur Bezahlung der Gewerbesteuern für die Veranlagungsjahre 2016 und 2017 hätte bilden können und müssen. Solche Gewinne ergeben sich erst aus einem Vergleich des Betriebsvermögens am Schluss des betreffenden Wirtschaftsjahrs mit dem Betriebsvermögen am Schluss des vorangegangenen Wirtschaftsjahrs (§ 4 Abs. 1 Satz 1 EStG). Es ist auch nichts dafür ersichtlich, dass die Antragstellerin den Gewinn der I. UG zum 31. Dezember 2016 bereits vor dem 7. Oktober 2016 hätte vorhersehen und daher entsprechende Rücklagen aus den laufenden Einnahmen der I. UG hätte bilden müssen.
33Der Haftungsbescheid der Antragsgegnerin vom 15. September 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 8. März 2021 ist nach dem gegenwärtigen Sachstand darüber hinaus deshalb rechtswidrig, weil die Antragsgegnerin das ihr in § 191 Abs. 1 Satz 1 AO eröffnete Ermessen fehlerhaft ausgeübt hat.
34Nach § 191 Abs. 1 Satz 1 AO kann, wer kraft Gesetzes für eine Steuer haftet (Haftungsschuldner), durch Haftungsbescheid in Anspruch genommen werden. Die Vorschrift eröffnet damit der Behörde bei Vorliegen der Haftungsvoraussetzungen Ermessen, ob sie den Haftungsschuldner in Anspruch nehmen will (Entschließungsermessen) und welchen von mehreren Haftungsschuldnern sie in Anspruch nehmen will (Auswahlermessen). Die Ermessensentscheidung ist dabei nur dann fehlerfrei, wenn die Behörde den für die Ausübung des Ermessens erheblichen Sachverhalt einwandfrei und erschöpfend ermittelt hat. Bezogen auf die Ausübung des Auswahlermessens bedeutet dies, dass die Behörde ermitteln muss, ob weitere Personen Haftungsschuldner im Sinne des § 191 Abs. 1 Satz 1 AO sind oder nicht. Geht die Behörde davon aus, nur die von ihr in Anspruch genommene Person sei Haftungsschuldner, obwohl auch andere Personen als Haftungsschuldner in Betracht kommen, fehlt es an einer tragfähigen Grundlage für die sachgerechte Ausübung des Auswahlermessens und ist die Ermessensentscheidung schon deshalb fehlerhaft.
35Vgl. BFH, Urteil vom 4. Oktober 1988 - VII R 53/85 -, juris, Rdnr. 11 ff.
36So liegt der Fall hier. Die Antragsgegnerin ist im Haftungsbescheid vom 15. September 2020 und im Widerspruchsbescheid vom 8. März 2021 davon ausgegangen, die Antragstellerin sei alleinige Geschäftsführerin der I. UG gewesen, so dass eine Inanspruchnahme eines weiteren Geschäftsführers ausscheide. Dies trifft nicht zu. In der Zeit vom 7. Oktober 2016 bis zum 23. Januar 2019 war der Ehemann der Antragstellerin Geschäftsführer der I. UG, so dass dieser grundsätzlich als Haftungsschuldner der von der Antragsgegnerin von der Antragstellerin geforderten Gewerbesteuern und Nachforderungszinsen in Betracht kommt, falls ihm diesbezüglich eine grob fahrlässige oder vorsätzliche Verletzung seiner steuerlichen Pflichten - in Betracht kommen hier seine Pflichten zur Abgabe korrekter Gewerbesteuererklärungen für die I. UG und zur Mittelvorsorge für die Begleichung der Gewerbesteuer- und Nachforderungszinsforderungen der Antragsgegnerin aus den von der I. UG erzielten Gewinnen - zur Last fallen sollte. Ob dies der Fall ist, hat die Antragsgegnerin nicht geprüft, weil sie irrig davon ausging, die Antragstellerin sei die alleinige Geschäftsführerin der I. UG gewesen. Dies war unzutreffend, was zur Fehlerhaftigkeit der Ausübung des Auswahlermessens durch die Antragsgegnerin führt, weil dieses auf einer nicht tragfähigen, weil nicht ausreichend ermittelten Grundlage beruht.
37Hieran ändert es auch nichts, dass die Antragstellerin die Antragsgegnerin weder im Verwaltungs- noch im Widerspruchsverfahren darauf hingewiesen hat, dass in der Zeit vom 7. Oktober 2016 bis zum 23. Januar 2019 nicht sie, sondern ihr Ehemann der Geschäftsführer der I. UG war. Die Antragsgegnerin hätte dies von sich aus ermitteln müssen. Ein Blick ins Handelsregister gehört zu den Selbstverständlichkeiten vor jeder Inanspruchnahme des Geschäftsführers oder der Geschäftsführerin einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung.
38Etwas anderes würde nur dann gelten, wenn sich im Klageverfahren herausstellen würde, dass der Ehemann der Antragstellerin tatsächlich nicht die Haftungsvoraussetzungen der §§ 69 Satz 1, 34 Abs. 1 AO erfüllt und daher für keinen der durch die Antragsgegnerin von der Antragstellerin geforderten Beträge haftet. In diesem Fall gäbe es nämlich keinen weiteren Haftungsschuldner neben der Antragstellerin (sofern diese überhaupt haftet) und läge daher im Ergebnis mangels Eröffnung eines Auswahlermessens kein Ermessensausfall und damit auch kein Ermessensfehler der Antragsgegnerin vor.
39Vgl. BVerwG, Urteil vom 1. Dezember 1987 - 1 C 29.85 -, BVerwGE 78, 285 (296).
40Dem ist aber im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nicht weiter nachzugehen.
41Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
42Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG.
43Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
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