Urteil vom Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen - 7 A 2907/19
Tenor
Die Berufung wird zurückgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Berufungsverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die erstattungsfähig sind.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig voll-streckbar. Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung i. H. v. 110 % des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrags ab-wenden, wenn nicht zuvor die jeweilige Vollstreckungsgläubigerin i. H. v. 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages Sicherheit leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
1
Tatbestand:
2Die Klägerin ist Eigentümerin der Grundstücke Gemarkung M. , Flur 52, Flurstücke 837, 838, 840 und 841. Das Flurstück 841 mit der Anschrift M1. -U. -Straße 48 in M. ist mit einer Doppelhaushälfte bebaut. Die daran in südwestlicher Richtung unmittelbar angrenzende Doppelhaushälfte mit der Anschrift M1. -U. -Straße 50 liegt auf dem Flurstück Gemarkung M. , Flur 52, Flurstück 839. Der Sohn der Beigeladenen, Herr E. X. , ist Eigentümer dieses Grundstücks, das von der Beigeladenen genutzt wird.
3Anders als das östlich unmittelbar an die M1. -U. -Straße angrenzende Flurstück 841 grenzt das Flurstück 839 nicht an eine öffentliche Verkehrsfläche an. Die Bebauung dieser Flurstücke geht auf das 19. Jahrhundert zurück. Mit Baugenehmigung vom 10.6.1959 wurde ein Anbau an das Wohngebäude auf dem Flurstück 839 genehmigt. Die Zufahrt und der Zutritt zu diesem Flurstück erfolgten über das Flurstück 841. Zwischen der Klägerin und einem Voreigentümer des Flurstücks 839, Herrn I. X1. C. , gab es seit den 1980er Jahren Diskussionen über die gegenseitige Einräumung von Wegerechten. Am 4.7.2000 schlossen die Klägerin und Herr C. einen Übertragungsvertrag, um eine fußläufige Erschließung der im Eigentum der Klägerin stehenden Hinterlandparzelle Flur 52, Flurstück 434 zu erreichen; diese fußläufige Erschließung sollte durch Erstellung eines Fußwegs von 1,25 m Breite entlang der nördlichen Giebelwand erfolgen; dadurch sollte erreicht werden, dass sich das Notwegrecht der Klägerin nur noch auf den Fall beschränkte, dass Anfahrten zum Flurstück 434 mittels Kraftfahrzeugen oder anderen Vehikeln unerlässlich im Sinne des § 917 Abs. 1 BGB seien. Über die Flurstücke 837, 838 und 840 besteht nunmehr eine Verbindung zum Flurstück 434. Die Flurstücke 837, 838 und 840 sind mit einer Baulast zugunsten des Flurstücks 434 belastet. Mit Bescheid vom 15.9.2006 erteilte die Beklagte Herrn I. X1. C. eine Baugenehmigung für die Errichtung eines überdachten Freisitzes auf dem Flurstück 839, wobei die Klägerin im Vorfeld erklärt hatte, nicht gegen Bestand und Nutzung vorzugehen.
4Der Sohn der Beigeladenen erwarb das Flurstück 839 am 11.8.2016. Die Beigeladene führte sodann verschiedene Baumaßnahmen zur Sanierung durch.
5Nachdem die Beklagte durch Ortsbesichtigungen ihrer Mitarbeiter am 1.12.2016 und 13.12.2016 Kenntnis von den Sanierungsmaßnahmen der Beigeladenen erhalten hatte, ordnete sie mit Bescheid vom 21.12.2016 unter Anordnung der sofortigen Vollziehung die Einstellung der Bauarbeiten an und gab der Beigeladenen auf, innerhalb von fünf Wochen nach Zustellung der Verfügung vollständige und prüffähige Bauunterlagen vorzulegen. Zur Begründung führte sie aus, durch die baulichen Veränderungen sei massiv in die Statik des Gebäudes eingegriffen worden.
6Auf ihren Bauantrag vom 17.1.2017 erteilte die Beklagte der Beigeladenen unter dem 24.7.2017 eine Baugenehmigung für die Sanierung eines Teilbereichs der westlichen traufseitigen Außenwand und Umbauarbeiten im Inneren des Gebäudes auf dem Flurstück 839. Die Baugenehmigung sieht in der grün gestempelten Zeichnung der Grundrisse für das Erdgeschoss und das 1. Obergeschoss eine Änderung der westlichen Außenwand mit jeweils einem Fenster vor (BA 3, Register 58-2017, Seite 14). Aktuell ist im Bereich der westlichen Fassade eine durchgehende Glasfront vor einer neu erstellten offenen Fachwerkkonstruktion vorhanden. Die Baugenehmigung wurde der Klägerin am 26.7.2017 zugestellt.
7Die Klägerin hat am 25.8.2017 Klage erhoben.
8Sie hat vorgetragen: Sie könne sich auf eine Verletzung der Vorschriften über die Erschließung berufen, da diese auch dem Brandschutz dienten und insoweit nachbarschützend seien. Das streitgegenständliche Gebäude genieße keinen Bestandsschutz. Eine förmliche Genehmigung könne nicht nachgewiesen werden. Jedenfalls sei der Bestandsschutz mit dem circa in den 1960er Jahren erfolgten Anbau oder aber spätestens mit den Sanierungsmaßnahmen des Sohnes der Beigeladenen erloschen. Die Klägerin habe zudem einen aus ihrem Eigentumsgrundrecht folgenden öffentlich-rechtlichen Abwehranspruch gegen die streitgegenständliche Baugenehmigung, da sie sich mit Unanfechtbarkeit dieser Legalisierung nicht mehr gegen die Inanspruchnahme ihres Grundstücks im Rahmens des Notwegrechts wehren könne.
9Die Klägerin hat beantragt,
10die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung der Beklagten vom 24.7.2017 (Az.: 63-58-17) aufzuheben.
11Die Beklagte hat beantragt,
12die Klage abzuweisen.
13Sie hat ausgeführt: Die Vorschriften über die Erschließung seien weder drittschützend noch hier vom Wortlaut einschlägig. Die Klägerin habe auch keinen aus ihrem Eigentumsgrundrecht folgenden Abwehranspruch. Die mit der Baugenehmigung für die Klägerin eintretende Belastung sei aus der Bestandssituation heraus für sie durchaus zumutbar. Die Sanierung der Außenfassade und die Umbauarbeiten im Inneren führten insofern zu keiner Verschlechterung. Auch könne es aufgrund der konkreten Situation und der Baulasten auf den Flurstücken 837, 838 und 840 durch die Ausübung eines Notwegrechts nicht mehr zu einer weiteren Beeinträchtigung des Eigentums der Klägerin kommen.
14Die Beigeladene hat beantragt,
15die Klage abzuweisen.
16Sie hat vorgetragen: Das Vorhaben gebe keinen Anlass zur Prüfung der Erschließungsfrage. Denn für das bereits seit über 150 Jahren bestehende Gebäude gelte Bestandsschutz. Das Gebäude habe seine Identität und Nutzung durch die vorgenommene Maßnahme nicht verloren. Zudem bestehe kein Abwehranspruch der Klägerin aus ihrem Eigentumsgrundrecht. Denn mit der genehmigten Nutzung verändere sich der Umfang des bestehenden Notwegrechts nicht.
17Das Verwaltungsgericht hat am 30.8.2018 einen Ortstermin durchgeführt.
18Mit dem angefochtenen Urteil hat das Verwaltungsgericht die Klage abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Die Klägerin habe kein Nachbarrecht aus den Vorschriften über die Erschließung. Auch ein Abwehrrecht aus Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG bestehe nicht, da die Klägerin stets faktisch belastet gewesen sei und mit einer Fortsetzung der Nutzung habe rechnen müssen. Es handele sich jedenfalls um eine unwesentliche Inanspruchnahme.
19Mit ihrer vom Senat zugelassenen Berufung macht die Klägerin im Wesentlichen geltend: Die Vorschriften über die Erschließung dienten auch dem Brandschutz und seien daher nachbarschützend. Mit Blick auf das von ihr geltend gemachte Abwehrrecht aus Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG sei das Verwaltungsgericht von unzutreffenden tatsächlichen Feststellungen ausgegangen. Dies gelte etwa für die Frage, ob die Erschließung des heutigen Flurstücks 839 immer schon über das heutige Flurstück 841 erfolgt sei, sowie ihre Korrespondenz mit dem ehemaligen Eigentümer des Vorhabengrundstücks Herrn I. X1. C. . Selbst wenn sich die Baugenehmigung mittlerweile erledigt hätte, bestünde ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse wegen Wiederholungsgefahr.
20Die Klägerin beantragt,
21das Urteil des Verwaltungsgerichts Köln vom 21.5.2019 abzuändern und die der Beigeladenen mit Bescheid der Beklagten vom 24.7.2017 erteilte Baugenehmigung zur Sanierung eines Teilbereichs der westlichen traufseitigen Außenwand und für Umbauarbeiten im Inneren aufzuheben,
22hilfsweise, festzustellen, dass die der Beigeladenen mit Bescheid der Beklagten vom 24.7.2017 erteilte Baugenehmigung zur Sanierung eines Teilbereichs der westlichen traufseitigen Außenwand und für Umbauarbeiten im Inneren rechtswidrig gewesen ist.
23Die Beklagte beantragt,
24die Berufung zurückzuweisen.
25Sie wiederholt im Wesentlichen ihr bisheriges Vorbringen. Ergänzend trägt sie vor: Die streitgegenständliche Baugenehmigung habe sich nicht durch Zeitablauf erledigt, da deren Geltungsfrist durch die Klageerhebung gehemmt sei. Durch die Baugenehmigung vom 10.6.1959 genieße der Anbau wie das gesamte Wohnhaus formellen Bestandsschutz. Dies begründe eine ordnungsgemäße Benutzung im Sinne des Notwegrechts. Auch sei der Bestandsschutz nicht mit der Sanierung der Außenfassade und den Umbauarbeiten im Inneren weggefallen.
26Die Beigeladene beantragt,
27die Berufung zurückzuweisen.
28Sie trägt vor: Sie habe rechtzeitig vor Ablauf der Geltungsdauer der Baugenehmigung einen Verlängerungsantrag bei der Beklagten gestellt. Zudem sei die wegemäßige Erschließung seit jeher tatsächlich und mit Duldung der Klägerin über das Flurstück 841 erfolgt.
29Der Berichterstatter des Senats hat am 12.8.2021 einen Ortstermin durchgeführt.
30Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten sowie auf die beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
31E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
32Die zulässige Berufung hat keinen Erfolg.
33Das Verwaltungsgericht hat die Klage im Ergebnis zu Recht abgewiesen.
34I. Die Klage ist zulässig. Sie ist insbesondere als (Dritt)Anfechtungsklage nach § 42 Abs. 1 1. Fall VwGO statthaft.
35Die streitgegenständliche Baugenehmigung vom 24.7.2017 hat sich nicht gemäß § 90 Abs. 4 BauO NRW i. V. m. § 77 Abs. 1 BauO NRW a. F. durch Ablauf ihrer dreijährigen Geltungsdauer erledigt.
36§ 77 Abs. 1 BauO NRW a. F., wonach eine Baugenehmigung erlischt, wenn nicht innerhalb von drei Jahren nach ihrer Erteilung mit der Ausführung des Bauvorhabens begonnen oder die Bauausführung ein Jahr unterbrochen worden ist, ist nicht einschlägig. Die Beigeladene hatte hier bereits vor der (nachträglichen) Erteilung der Baugenehmigung vom 24.7.2017 mit der Sanierung der Außenfassade und den Umbauarbeiten im Inneren begonnen. Am 25.8.2017 und damit kurz nach der Genehmigungserteilung hat die Klägerin hiergegen Klage bei dem Verwaltungsgericht erhoben. Die Klage hat den weiteren Fristablauf unterbrochen, jedenfalls aber gehemmt.
37Vgl. OVG NRW, Urteil vom 19.4.2010 - 7 A 2362/07 -, juris, m. w. N.
38Etwas anderes ergibt sich nicht daraus, dass die Beigeladene zwischenzeitlich eine Glaskonstruktion an der westlichen Außenfassade des Vorhabens angebracht hat, wie auch aus den Lichtbildern des erstinstanzlichen Ortstermins vom 30.8.2018 sowie des zweitinstanzlichen Ortstermins vom 12.8.2021 hervorgeht. Zwar hat die Anfechtungsklage des Nachbarn ausnahmsweise dann keine hemmende Wirkung auf den Ablauf der Geltungsdauer einer Baugenehmigung, wenn der Bauherr nicht mit Blick auf die Anfechtung durch den Nachbarn von einer Umsetzung des Bauvorhabens absieht, sondern ein von der Baugenehmigung abweichendes Vorhaben realisiert.
39Vgl. OVG NRW, Urteile vom 22.8.2005 - 10 A 3611/03 -, BauR 2006, 62 = BRS 69 Nr. 91 = juris, und vom 19.1.1987 - 7 A 901/86; Dreesen in Spannowsky/Saurenhaus, BeckOK Bauordnungsrecht Nordrhein-Westfalen, 8. Edition, § 75 Rn. 25.
40Eine solche Fallgestaltung liegt hier jedoch nicht vor. Die an der Außenfassade angebrachte Konstruktion stellt keine von der Baugenehmigung vom 24.7.2017 abweichende Bauausführung im Sinne eines aliud dar. Insbesondere dient die angebrachte Verglasung lediglich als Schutz für das noch nicht vollendete Bauvorhaben während des gerichtlichen Verfahrens. Dies deckt sich mit dem Vermerk der Beklagten vom 24.7.2017 über die Aushändigung der erteilten Baugenehmigung an die Beigeladene. Danach habe die Beigeladene nach dem behördlichen Hinweis auf die abzuwartende Klagefrist erklärt, dass einige kleinere Arbeiten bereits jetzt veranlasst seien und ausgeführt werden sollten, um Schäden an dem Gebäude abzuwenden. Auch nach den im Ortstermin vom 12.8.2021 gewonnenen Eindrücken, die der Berichterstatter dem Senat in der Beratung vermittelt hat, ist das Bauvorhaben nicht abgeschlossen. Die Bauamtsleiterin der Beklagten hat in dem genannten Termin bekräftigt, dass aus ihrer Sicht das Vorhaben in der genehmigten Form nach wie vor ausführbar sei.
41II. Die Klage ist jedoch nicht begründet. Die angefochtene Baugenehmigung verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten, vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
421. Die Klägerin kann sich nicht auf einen Verstoß des genehmigten Vorhabens gegen § 4 Abs. 1 Nr. 1 BauO NRW a. F. berufen.
43Die Vorschrift des § 4 Abs. 1 Nr. 1 BauO NRW a. F. ist – wie auch § 4 Abs. 1 BauO NRW – nicht nachbarschützend.
44Vgl. OVG NRW, Urteile vom 30.10.2009 - 7 A 2548/08 -, BauR 2010, 446 = BRS 74 Nr. 132 = juris, und vom 21.6.2005 - 7 A 3644/04 -, juris; Beschluss vom 12.1.2015 - 2 B 1386/14 -, BauR 2015, 1975 = BRS 83 Nr. 125 = juris.
45Die Klägerin meint, ausnahmsweise gelte hier etwas anderes, weil die Vorschrift auch dem Brandschutz diene und bei einem Brand nicht nur das Vorhabengrundstück, sondern auch ihr Grundstück, auf dem die weitere Hälfte des Doppelhauses grenzständig errichtet sei, betroffen wäre. Dieser Hinweis auf mittelbare Folgen der unzureichenden Erschließung bedarf aber unter dem Blickwinkel des Nachbarschutzes schon deshalb keiner näheren Betrachtung, weil das Grundstück der Klägerin unmittelbar an eine öffentliche Verkehrsfläche angrenzt und es auch zu dem rückwärtig gelegenen Vorhabengrundstück hin über eine Freifläche verfügt. Vor diesem Hintergrund ist nicht ersichtlich, weshalb eine unzureichende Erschließung des Vorhabengrundstücks es erschweren sollte, einen Brandübergriff auf das Grundstück der Klägerin zu verhindern.
462. Die Klägerin hat auch kein öffentlich-rechtliches Abwehrrecht aus Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG. Sie macht diesbezüglich geltend, die infolge des Fehlens der Erschließung rechtswidrige Baugenehmigung bewirke eine unmittelbare Rechtsverschlechterung in Richtung auf die Duldung eines Notwegrechts (§ 917 Abs. 1 BGB) in der Weise, dass sie gehindert sei, der Inanspruchnahme des Notwegrechts die Rechtswidrigkeit des Vorhabens entgegenzuhalten.
47Ein solches Abwehrrecht der Klägerin aus Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG ist jedenfalls verwirkt.
48Auch öffentlich-rechtliche Nachbaransprüche unterliegen dem aus dem Grundsatz von Treu und Glauben hergeleiteten Institut der Verwirkung. Unter diesem Gesichtspunkt setzt der Rechtsverlust voraus, dass seit der Möglichkeit der Geltendmachung des Anspruchs längere Zeit verstrichen ist und besondere Umstände hinzutreten, welche die Rechtsausübung als Verstoß gegen Treu und Glauben erscheinen lassen. Das ist der Fall, wenn erstens der Verpflichtete infolge eines bestimmten Verhaltens des Berechtigten darauf vertrauen durfte, dass dieser das Recht nach so langer Zeit nicht mehr geltend machen würde (Vertrauensgrundlage), zweitens der Verpflichtete tatsächlich darauf vertraut hat, dass das Recht nicht mehr ausgeübt werde (Vertrauenstatbestand) und drittens er sich infolgedessen in seinen Vorkehrungen und Maßnahmen so eingerichtet hat, dass ihm durch die verspätete Durchsetzung des Rechts ein unzumutbarer Nachteil entstehen würde (Vertrauensbetätigung). Dabei muss sich der Nachbar das Verhalten eines Rechtsvorgängers zurechnen lassen, denn nachbarliche Abwehrrechte im Baurecht sind grundstücksbezogene Rechte.
49Vgl. OVG NRW, Urteil vom 30.6.2021
50- 7 A 3161/18 -, BauR 2021, 1430 = juris, m. w. N.
51Dies zugrunde gelegt, besteht hier kein öffentlich-rechtliches Abwehrrecht der Klägerin aus Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG. Aus der Genehmigungshistorie für das Wohnhaus auf dem Vorhabengrundstück ist bekannt, dass dessen Anbau mit Bauschein vom 10.6.1959 genehmigt wurde. Schon die seinerzeitige Genehmigung der Erweiterung erfolgte ohne die erforderliche Erschließung und schuf damit die Grundlage für ein Notwegrecht, das nach § 917 Abs. 1 BGB eine ordnungsgemäße Benutzung voraussetzt. Dabei ergibt sich aus dem grün gestempelten Lageplan von April 1959 sowie dem Protokoll der örtlichen Vorprüfung vom 22.4.1959, nach dessen Ziffer 2 die Angaben zur Zugänglichkeit des Grundstücks (laut Bauantrag, dort „Zu 2) Lage der Baustelle“: an einer Ortsstraße) als richtig gewertet werden, dass diese Genehmigung von einer Erschließung über die M1. -U. -Straße und damit über das Grundstück der Klägerin ausging. Die Klägerin bzw. ihr Rechtsvorgänger haben jedoch gegen die ohne Erschließung in dem erweiterten Umfang genehmigte Wohnnutzung bis in die 1980er Jahre keine Einwendungen erhoben. Erst in dem genannten Jahrzehnt kam es zu Auseinandersetzungen mit dem vormaligen Eigentümer des heutigen Flurstücks 839, Herrn I. X1. C. , wobei die Klägerin ihre Bemühungen entsprechend den tatsächlichen Verhältnissen vor Ort auf die wechselseitige Einräumung von Grunddienstbarkeiten auf den heutigen Flurstücken 839 und 841 richtete. Noch in ihrem an Herrn I. X1. C. gerichteten Schreiben vom 31.8.1998, das erstinstanzlich mit Schriftsatz vom 14.2.2018 vorgelegt worden ist, ging die Klägerin ausdrücklich davon aus, dass ihr Grundstück seinem Grundstück als Notweg diene. Nach der seit Erteilung der Baugenehmigung vom 10.6.1959 verstrichenen Zeit durfte der jeweilige Eigentümer des heutigen Flurstücks 839 davon ausgehen, dass die Klägerin Nachbarrechte gegen die trotz fehlender Erschließung genehmigte Wohnnutzung auf diesem Grundstück nicht mehr geltend machen würde. Darauf hat der jeweilige Eigentümer des Grundstücks 839 auch vertraut und dieses Vertrauen betätigt, indem er die Wohnnutzung unterhalten und auch darin investiert hat. Die in dem erweiterten Umfang genehmigte Wohnnutzung einschließlich Anbau ohne Erschließung besteht auch heute noch fort.
52Es bedarf vor diesem Hintergrund keiner weiteren Klärung, ob die Klägerin ihr Abwehrrecht auch deshalb verwirkt hat, weil sie nicht gegen die Herrn I. X1. C. als ehemaligem Eigentümer des Vorhabengrundstücks erteilte Baugenehmigung vom 15.9.2006 für die Errichtung eines überdachten Freisitzes auf diesem Grundstück vorgegangen ist, sondern vielmehr unter dem 15.7.2006 schriftlich erklärt hat, dass sie gegen den Bestand und die Nutzung des Vorhabens keine öffentlich-rechtlichen Abwehrrechte geltend machen werde.
53Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass – wie die Klägerin vorträgt – ein etwaiger Bestandsschutz für das Wohnhaus auf dem Vorhabengrundstück jedenfalls durch die bereits vor Erteilung der Baugenehmigung vom 24.7.2017 durchgeführten Sanierungsarbeiten insbesondere an der Außenfassade entfallen sein könnte. Denn dies ändert nichts an dem hier maßgeblichen Vertrauenstatbestand, der sich auf die seinerzeit genehmigte Wohnnutzung in dem erweiterten Umfang bezieht, die sich auch mit der Sanierung nicht verändert hat. An der – wie dargelegt – über Jahre zum Ausdruck gebrachten Haltung zu dieser ohne Erschließung erfolgenden Wohnnutzung muss sich die Klägerin im Nachbarschaftsverhältnis weiter festhalten lassen. Auch die Erteilung der streitgegenständlichen Baugenehmigung vom 24.7.2017 bewirkt in diesem Zusammenhang nicht anderes. Eine solche neue Genehmigung – wie hier – ist zwar anfechtbar; das materielle Abwehrrecht bleibt aber nach den Grundsätzen von Treu und Glauben verwirkt.
54Vgl. OVG NRW, Urteil vom 30.6.2021
55- 7 A 3161/18 -, BauR 2021, 1430 = juris.
56Auf den Hilfsantrag ist nicht weiter einzugehen. Dieser wurde ersichtlich nur für den Fall gestellt, dass die Klage als Anfechtungsklage unstatthaft sein sollte.
57Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO sowie § 162 Abs. 3 VwGO.
58Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO und §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
59Die Entscheidung über die Nichtzulassung der Revision ergibt sich aus § 132 Abs. 2 VwGO; Zulassungsgründe sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.
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Referenzen
- ZPO § 708 Vorläufige Vollstreckbarkeit ohne Sicherheitsleistung 1x
- ZPO § 711 Abwendungsbefugnis 1x
- VwGO § 167 1x
- § 90 Abs. 4 BauO 1x (nicht zugeordnet)
- § 77 Abs. 1 BauO 2x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 113 1x
- § 4 Abs. 1 Nr. 1 BauO 2x (nicht zugeordnet)
- § 4 Abs. 1 BauO 1x (nicht zugeordnet)
- BGB § 917 Notweg 2x
- VwGO § 154 1x
- VwGO § 162 1x
- 7 A 2362/07 1x (nicht zugeordnet)
- 10 A 3611/03 1x (nicht zugeordnet)
- 7 A 901/86 1x (nicht zugeordnet)
- 7 A 2548/08 1x (nicht zugeordnet)
- 7 A 3644/04 1x (nicht zugeordnet)
- 2 B 1386/14 1x (nicht zugeordnet)
- 7 A 3161/18 2x (nicht zugeordnet)