Beschluss vom Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen - 13 A 2027/19.A
Tenor
Auf Antrag des Klägers wird die Berufung gegen das auf die mündliche Verhandlung vom 5. April 2019 ergangene Urteil des Verwaltungsgerichts Aachen zugelassen, soweit er begehrt, die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 12. Juni 2017 zu verpflichten, festzustellen, dass in seiner Person ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Afghanistan vorliegt.
Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.
Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Gründe:
1Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung hat im tenorierten Umfang Erfolg. Sein unbeschränkt gestellter Antrag ist unbegründet, soweit er damit auch die Berufungszulassung in Bezug auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und die Gewährung subsidiären Schutzes geltend macht (dazu 1.). Soweit das Verwaltungsgericht das Vorliegen von Abschiebungsverboten verneint hat, ist die Berufung hingegen gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i. V. m. § 138 Nr. 3 VwGO zuzulassen, weil das Verwaltungsgericht insoweit den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör verletzt hat (dazu 2.).
21. Die Berufung ist nicht in Bezug auf die weiterverfolgte Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und Gewährung subsidiären Schutzes zuzulassen. Die (allein) auf die Ablehnung subsidiären Schutzes bezogene erste Rüge des Klägers (vgl. Antragsschrift, Seite 2, letzter Absatz, und Seite 9, drittletzter Absatz), das Verwaltungsgericht habe seinen Anspruch auf rechtliches Gehör dadurch verletzt, dass es wesentliches Vorbringen nicht berücksichtigt habe, indem es seine Gefahrenprognose auf die Provinz Baghlan und nicht auf die Provinz Nangarhar ausgerichtet habe, greift nicht durch.
3Der Anspruch auf rechtliches Gehör verpflichtet die Gerichte, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Grundsätzlich ist dabei allerdings davon auszugehen, dass die Gerichte dieser Pflicht nachgekommen sind. Die Gerichte sind auch nicht verpflichtet sich mit jedem Vorbringen in den Entscheidungsgründen ausdrücklich zu befassen. Es ist daher verfehlt, aus der Nichterwähnung einzelner Begründungsteile des Vorbringens in den gerichtlichen Entscheidungsgründen zu schließen, ein Gericht habe sich nicht mit den darin enthaltenen Argumenten befasst. Vielmehr sind in der Entscheidung nur diejenigen Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind (vgl. § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO). Die Gerichte können sich auf die Darstellung und Würdigung derjenigen rechtlichen Gesichtspunkte beschränken, auf die es nach ihrem Rechtsstandpunkt entscheidungserheblich ankommt. Geht ein Gericht auf einzelne Teile des Vorbringens nicht ein, dokumentiert es damit in der Regel zugleich, dass es sie für rechtlich irrelevant hält. Der Anspruch auf rechtliches Gehör vermittelt auch keinen Schutz davor, dass ein Gericht den Vortrag eines Beteiligten aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts ganz oder teilweise unberücksichtigt lässt. Das Gebot des rechtlichen Gehörs verpflichtet die Gerichte insbesondere nicht, dem Tatsachenvortrag oder der Rechtsansicht eines Verfahrensbeteiligten inhaltlich zu folgen.
4Vgl. nur OVG NRW, Beschluss vom 30. Juni 2020- 13 A 1129/19.A -, juris, Rn. 3 f., m. w. N.
5Nach diesen Maßgaben zeigt der Kläger nicht auf, mit dem angefochtenen Urteil in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt worden zu sein, indem das Verwaltungsgericht seinen Vortrag zum Zielort seiner Rückkehr übergangen und deshalb die Gefahrenprognose auf die falsche Region ausgerichtet hätte. Das Verwaltungsgericht hat in Anwendung der von ihm zitierten und auch vom Kläger angeführten höchstrichterlichen Rechtsprechung (BVerwG, Urteil vom 31. Januar 2013 - 10 C 15.12 -, BVerwGE 146, 12 = juris, Rn. 13 f.) auf die Herkunftsregion des Klägers, die Provinz Baghlan, als Zielort der Rückkehr abgestellt. Diese tatsächliche Annahme deckt sich mit dem Vortrag des Klägers, aus der Provinz Baghlan zu stammen. Abgesehen davon hat das Verwaltungsgericht den Vortrag des Klägers, einer seiner Brüder habe längere Zeit in Nangarhar gelebt, ausdrücklich zur Kenntnis genommen (Urteilsabdruck, Seite 14, erster Absatz). Sein weiterer Vortrag, seine Mutter lebe nicht mehr in Baghlan, sondern halte sich aktuell in Nangarhar auf, bot für das Verwaltungsgericht offensichtlich keinen Anlass für eine abweichende Bewertung und bedurfte deshalb keiner ausdrücklichen Erwähnung in den Entscheidungsgründen.
6Dass das Verwaltungsgericht auf dieser tatsächlichen Grundlage nicht den rechtlichen Schluss gezogen hat, als Zielort der Rückkehr des Klägers sei die Provinz Nangarhar anstatt seiner Herkunftsregion anzusehen, berührt nicht das rechtliche Gehör des Klägers. Vielmehr richtet sich das Zulassungsvorbringen im Stil einer Berufungsbegründung gegen die inhaltliche Richtigkeit der Tatsachen- und Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichts. Ein Verfahrensfehler kann insoweit ausnahmsweise nur dann in Betracht kommen, wenn die Beweiswürdigung objektiv willkürlich ist, gegen die Denkgesetze verstößt oder einen allgemeinen Erfahrungssatz missachtet.
7Vgl. BVerwG, Beschluss vom 21. November 2017 ‑ 1 B 148.17 u. a. -, juris, Rn. 7, m. w. N.; OVG NRW, Beschluss vom 6. Juni 2016 - 13 A 1882/15.A -, juris, Rn. 25 f., m. w. N.
8Anhaltspunkte für einen solchen Ausnahmefall, insbesondere eine willkürliche Entscheidung, legt die Zulassungsbegründung nicht dar und sind auch sonst nicht ersichtlich. Nach der zitierten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts wäre allenfalls dann nicht (mehr) auf die Herkunftsregion als Zielort der Rückkehr abzustellen, wenn sich der Ausländer schon vor der Ausreise und unabhängig von den fluchtauslösenden Umständen von dieser gelöst und in einem anderen Landesteil mit dem Ziel niedergelassen hatte, dort auf unabsehbare Zeit zu leben. Die Zulassungsbegründung legt nicht schlüssig dar, inwiefern anhand des erstinstanzlichen Vortrags eine Loslösung von der Herkunftsregion des Klägers bereits vor der Ausreise belegt sein soll, die das Verwaltungsgericht willkürlich übergegangen hätte. Der Kläger hat insbesondere nicht dargelegt, sich vor der Ausreise in einem anderen Landesteil niedergelassen zu haben. Vielmehr hat er selbst darauf abgestellt, dass die Provinz Baghlan und speziell die Region um sein Heimatdorf von einem relativ hohen Grad an willkürlicher Gewalt an Zivilpersonen betroffen sei. Er fürchte, dass ihn die Taliban bei einer Rückkehr nach Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit verfolgen werden, jedenfalls in seiner Heimatregion. Auch in der mündlichen Verhandlung hat er noch erklärt, dass er nicht nach Afghanistan zurückkehren könne, weil Mullah Baktiar ein mächtiger Kommandeur und derzeit Gouverneur der Provinz Baghlan sei. Vor diesem Hintergrund ist eine Loslösung des Klägers von seiner Herkunftsregion bereits vor der Ausreise nicht belegt.
9Das Verwaltungsgericht hat dem Kläger auch nicht unter dem Gesichtspunkt einer unzulässigen Überraschungsentscheidung das rechtliche Gehör versagt, indem es in dem angefochtenen Urteil auf die Provinz Baghlan als Zielort der Abschiebung abgestellt hat, ohne ihn zuvor darauf hinzuweisen.
10Eine den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs konkretisierende gerichtliche Hinweispflicht zur Vermeidung einer Überraschungsentscheidung besteht nur dann, wenn auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht mit einer bestimmten Bewertung seines Sachvortrags durch das Verwaltungsgericht zu rechnen braucht. Dabei ist aber zu berücksichtigen, dass aus dem in Art. 103 Abs. 1 GG verbürgten Gebot des rechtlichen Gehörs grundsätzlich keine Hinweis- oder Aufklärungspflicht in Bezug auf die Rechtsansicht des Gerichts folgt und dass das Gericht auch nicht verpflichtet ist, bereits in der mündlichen Verhandlung das mögliche oder voraussichtliche Ergebnis der Sachverhalts- oder Beweiswürdigung bekannt zu geben, weil sich die tatsächliche und rechtliche Einschätzung regelmäßig erst aufgrund der abschließenden Entscheidungsfindung nach Schluss der mündlichen Verhandlung ergibt. Auch kann von einer Überraschungsentscheidung nicht gesprochen werden, wenn das Gericht Tatsachen, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten, in einer Weise würdigt, die nicht den subjektiven Erwartungen eines Prozessbeteiligten entspricht oder von ihm für unrichtig gehalten wird.
11Vgl. etwa OVG NRW, Beschluss vom 26. Februar 2019 - 13 A 4476/18.A -, juris, Rn. 4 f., m. w. N.
12Gemessen daran liegt schon deshalb keine Überraschungsentscheidung vor, weil der Kläger – wie dargelegt – in seinem erstinstanzlichen Vorbringen selbst von der Provinz Baghlan als maßgeblichem Zielort bei der Gefahrenprognose ausgegangen ist. Es war deshalb nach dem bisherigen Prozessverlauf auch ohne ausdrücklichen Hinweis naheliegend, dass das Verwaltungsgericht ebenfalls darauf abstellen wird.
132. Das Verwaltungsgericht hat den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör allerdings dadurch verletzt, dass es die Begründung für die Ablehnung der vom Kläger in der mündlichen Verhandlung gestellten Beweisanträge zu 1. bis 3. in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils gegenüber derjenigen, die es noch in der mündlichen Verhandlung gegeben hatte, ausgewechselt hat. Da auf der Grundlage des Zulassungsvorbringens nicht auszuschließen ist, dass die rechtzeitige Bekanntgabe der für das Urteil letztlich tragenden Begründung der Beweisantragsablehnung zu einer anderen, dem Kläger günstigeren Entscheidung geführt hätte, ist die Berufung zuzulassen, soweit das Verwaltungsgericht das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG verneint hat. Nur darauf bezieht sich die zweite Rüge des Klägers, mit der er die rechtsfehlerhafte Ablehnung seiner Beweisanträge geltend macht (vgl. Antragsschrift, Seite 13, vorletzter Absatz).
14Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung unter anderem beantragt, durch Einholung von Sachverständigengutachten näher bezeichneter Stellen „Beweis zu erheben über die Tatsache, dass
15- 16
1. der monatliche Durchschnittslohn eines Afghanen bei 47,5 $ liegt,
- 18
2. der Durchschnittslohn eines Rückkehrers noch unter 47,5 $ liegt,
- 20
3. die Kaltmiete für eine Wohnung in Kabul, Herat, Maser-e-Scharif zwischen 100,00 $ - 600,00 $ liegt,
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4. (…).“
Ausweislich der Sitzungsniederschrift hat das Verwaltungsgericht in der mündlichen Verhandlung für die Ablehnung der vorgenannten Beweisanträge darauf abgestellt, dass es keiner weiteren sachverständigen Äußerung bedürfe, weil die der Kammer vorliegenden Erkenntnismittel hinreichend klar beurteilen ließen, wie die in den Beweisanträgen genannten Parameter generell zu bewerten seien. Der Kläger hat diese Begründung in der mündlichen Verhandlung gerügt, weil für ihn nicht erkennbar sei, ob das Gericht die in den Beweisanträgen im Einzelnen genannten Faktoren einer Entscheidung zugrunde legen werde oder ob es beabsichtige, andere Faktoren zugrunde zu legen. Abweichend von der ursprünglichen Begründung – möglicherweise auch als Reaktion auf die Rüge des Klägers – hat das Verwaltungsgericht im angefochtenen Urteil die unter Beweis gestellten Tatsachen schon nicht mehr für entscheidungserheblich gehalten. Es hat in den Entscheidungsgründen (Urteilsabdruck, Seite 18, letzter Absatz, bis Seite 19, erster Absatz) angeführt, dass der Kläger sich aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalls der schwierigen und in vielfacher Hinsicht prekären Situation in Afghanistan werde entziehen können. Vor diesem Hintergrund erhelle sich, dass es auf die wirtschaftliche Situation im Allgemeinen – worauf die Beweisanträge Nr. 1 bis 4 abzielten – gar nicht ankomme.
24Die Gründe, mit denen das Gericht einen in der mündlichen Verhandlung gestellten Beweisantrag ablehnt, sind dem Beweisantragsteller vor Ergehen des Urteils durch einen begründeten Gerichtsbeschluss (§ 86 Abs. 2 VwGO) bekanntzugeben. Der Beweisantragsteller soll die zur Ablehnung seines Antrags führenden rechtlichen und tatsächlichen Erwägungen des Gerichts erkennen können, damit er sich in der Verfolgung seiner Rechte darauf einrichten kann. Allein diese Kenntnis versetzt ihn in die Lage, gegebenenfalls einen zweckdienlichen neuen oder ergänzenden Beweisantrag zu stellen, neue Tatsachen vorzutragen und sich mit der sich aus dem Beschluss ergebenden Auffassung des Gerichts auseinanderzusetzen.
25Vgl. BVerfG, Beschluss vom 25. August 1986 - 2 BvR 823/86 -, NVwZ 1987, 758; BVerwG, Beschluss vom 30. Juli 2008 - 5 B 59.08 -, Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziff. 3 VwGO Nr. 50 = juris, Rn. 4, sowie Urteile vom 6. Februar 1985 - 8 C 15.84 -, BVerwGE 71, 38 = juris, Rn. 25, und vom 23. Juni 1961 - IV C 308.60 -, BVerwGE 12, 268 = NJW 1961, 2081 (2082); OVG NRW, Beschluss vom 10. Juli 2018 - 13 A 1442/18.A -, juris, Rn. 11 f., m. w. N.
26Ziel des § 86 Abs. 2 VwGO ist es zudem, das Gericht zu veranlassen, eingehend zu prüfen, ob die Übergehung eines beantragten Beweises trotz der Pflicht zur umfassenden Aufklärung des Sachverhalts (§ 86 Abs. 1 VwGO) sachlich gerechtfertigt ist. Ferner soll dem Rechtsmittelgericht eine Nachprüfung der Erwägungen des Gerichts für die Ablehnung des Beweisantrags ermöglicht werden.
27Vgl. BVerwG, Urteil vom 23. Juni 1961 - IV C 308.60 -, BVerwGE 12, 268 = NJW 1961, 2081 (2082); Rixen, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 86 Rn. 83.
28Ein – wie hier erfolgtes – Auswechseln der Begründung für die Ablehnung von Beweisanträgen begründet für sich genommen allerdings noch keine Gehörsverletzung, die die Zulassung der Berufung rechtfertigen würde. Die ordnungsgemäße Begründung der Gehörsrüge erfordert vielmehr neben Ausführungen zu den Umständen, aus denen sich das Vorliegen einer Gehörsversagung ergibt, auch die Darlegung, was bei ausreichender Gewährung rechtlichen Gehörs vorgetragen worden wäre und inwiefern der weitere Vortrag zur Klärung des geltend gemachten Anspruchs geeignet gewesen wäre; nur auf der Grundlage eines solchen Vortrags kann nämlich geprüft und entschieden werden, ob auszuschließen ist, dass die Gewährung rechtlichen Gehörs zu einer anderen, dem Beteiligten günstigeren Entscheidung geführt hätte.
29Vgl. BVerfG, Beschluss vom 13. März 1993 - 2 BvR 1988/92 -, DVBl 1993, 601 = juris, Rn. 34; BVerwG, Beschlüsse vom 13. Januar 1999 - 9 B 90.98 -, Buchholz 310 § 133 (nF) VwGO Nr. 36 = juris, Rn. 13, vom 2. April 1985 - 3 B 75.82 -, Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 165 = juris, Rn. 4, und vom 9. Oktober 1984 - 9 B 138.84 -, InfAuslR 1985, 83 = juris, Rn. 2; OVG NRW, Beschlüsse vom 7. September 2020 - 13 A 4088/18.A -, juris, Rn. 10 ff., und vom 25. April 2002 - 8 A 1530/02.A -, AuAS 2002, 212 = juris, Rn. 6 f., m. w. N.
30Gemessen daran kann auf der Grundlage des Zulassungsvorbringens nicht ausgeschlossen werden, dass die ausreichende Gewährung rechtlichen Gehörs zu einer anderen, dem Kläger günstigeren Entscheidung geführt hätte. Der Kläger macht geltend, dass er bei entsprechender Ablehnung der Beweisanträge bereits in der mündlichen Verhandlung die Möglichkeit gehabt hätte, darauf zu reagieren und möglicherweise sogar weitere Beweisanträge (z. B. Zeugenvernehmung der betroffenen Familienmitglieder in Afghanistan; deren ladungsfähigen Anschriften hätten auch in der mündlichen Verhandlung mitgeteilt werden können) in Bezug darauf zu stellen, dass jedenfalls nicht von der Hilfefähigkeit seiner Mutter und/oder seines Onkels mütterlicherseits auszugehen sei. Damit hätte aufgezeigt werden können, dass auch der Ablehnungsgrund der Unerheblichkeit vorliegend nicht durchgreife. Es liege insbesondere fern, dass der Onkel mütterlicherseits zusätzlich auch noch den Kläger nach dessen Rückkehr unterstützen könne. Außerdem wäre bei lebensnaher Betrachtung zugrunde zu legen gewesen, dass der Kläger als Rückkehrer sich, seine Frau, seine Kinder und seine Mutter finanzieren müsse.
31Damit legt der Kläger schlüssig dar, dass ein für ihn günstigeres Ergebnis, namentlich die Annahme eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG, nicht ausgeschlossen werden kann, wenn ihm die letztlich tragende Begründung für die Ablehnung der vorgenannten Beweisanträge, die unter Beweis gestellten Tatsachen seien unerheblich, bereits in der mündlichen Verhandlung bekanntgegeben worden wäre. Das Verwaltungsgericht hat zwar einerseits ausgeführt, dass der Kläger sich zudem darauf verweisen lassen müsse, noch Verwandtschaft in Afghanistan zu haben. Insbesondere spreche nichts dafür, dass der Onkel mütterlicherseits nicht bereit wäre, auch und gerade den Kläger als leiblichen Verwandten sowohl finanziell als auch auf der Suche nach Arbeit zu unterstützen (Urteilsabdruck, Seite 18, zweiter Absatz). Andererseits hat es aber bereits angeführt, dass es davon ausgehe, für leistungsfähige, erwachsene Männer ohne Unterhaltsverpflichtung und ohne bestehendes familiäres oder soziales Netzwerk bei der Rückkehr aus dem westlichen Ausland in Kabul seien die hohen Anforderungen des Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG, Art. 3 EMRK nicht erfüllt, sofern nicht besondere, individuell erschwerende Umstände festgestellt werden könnten (Urteilsabdruck, Seite 31, erster Absatz). Dies zugrunde gelegt würde es zwar nicht darauf ankommen, ob der Onkel mütterlicherseits zusätzlich auch noch den Kläger nach dessen Rückkehr unterstützen könne. Allerdings käme es dann auf die vom Kläger mit den streitigen Beweisanträgen zu 1. bis 3. unter Beweis gestellten Tatsachen (Durchschnittseinkommen eines Afghanen bzw. eines Rückkehrers; Höhe der Wohnungsmieten) entscheidungserheblich an.
32Die stattdessen ursprünglich vom Verwaltungsgericht für die Ablehnung dieser Beweisanträge gegebene Begründung, die der Kammer vorliegenden Erkenntnismittel ließen hinreichend klar beurteilen, wie die in den Beweisanträgen genannten Parameter generell zu bewerten seien, findet vorliegend indes keine Stütze im Prozessrecht und würde deshalb ihrerseits den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör verletzen. Der Kläger hat insoweit in der mündlichen Verhandlung zu Recht geltend gemacht, dass für ihn nicht erkennbar gewesen sei, welche Faktoren das Verwaltungsgericht seiner Entscheidung zugrunde legen werde.
33Liegen zu einer erheblichen Tatsache bereits amtliche Auskünfte oder gutachtliche Stellungnahmen vor, richtet sich die im Ermessen des Gerichts stehende Entscheidung über einen Antrag auf Einholung weiterer Auskünfte oder Gutachten nach § 98 VwGO i. V. m. § 412 Abs. 1 ZPO. Das gerichtliche Ermessen kann sich u. a. dann zu der Pflicht neuerlicher Begutachtung verdichten, wenn durch neuen entscheidungserheblichen Sachvortrag der Beteiligten oder eigene Ermittlungstätigkeit des Gerichts die Aktualität der vorliegenden Auskünfte zweifelhaft oder wenn sonst das bisherige Beweisergebnis ernsthaft erschüttert wird. Reichen indes die in das Verfahren bereits eingeführten Erkenntnismittel zur Beurteilung der geltend gemachten Gefahren aus, kann das Gericht einen Beweisantrag auf Einholung weiterer Auskünfte unter Berufung auf eigene Sachkunde verfahrensfehlerfrei ablehnen, wenn es seine Sachkunde ggf. im Rahmen der Beweiswürdigung darstellt und belegt.
34Vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 27. März 2013 - 10 B 34.12 -, Buchholz 310 § 98 VwGO Nr. 109 = juris, Rn. 4, vom 8. März 2006 - 1 B 84.05 -, Buchholz 402.242 § 60 Abs. 2 ff AufenthG Nr. 11 = juris, Rn. 7, und Urteil vom 6. Oktober 1987 - 9 C 12.87 -, Buchholz 310 § 98 VwGO Nr. 31 = juris, Rn. 10, m. w. N.; OVG NRW, Beschlüsse vom 7. September 2020 - 13 A 4088/18.A -, juris, Rn. 15 f., m. w. N., und vom 12. März 2008 - 13 A 2643/07.A -, juris, Rn. 17 f., m. w. N.
35Daran fehlt es vorliegend. Das Verwaltungsgericht hat sich entsprechend seiner Äußerung in der mündlichen Verhandlung („Die der Kammer vorliegenden Erkenntnismittel lassen hinreichend klar beurteilen, wie die genannten Parameter generell zu bewerten sind.“) im Urteil im hier interessierenden Zusammenhang lediglich allgemein auf die durch Auskünfte, Stellungnahmen und Entscheidungen anderer Gerichte vermittelte eigene Sachkunde gestützt. Es hat insofern unter Zitierung verschiedener obergerichtlicher und erstinstanzlicher Entscheidungen, die auf zahlreiche Auskünfte und Stellungnahmen sachverständiger Einrichtungen verweisen, ausgeführt, es sei davon auszugehen, dass ein arbeitsfähiger alleinstehender junger Mann regelmäßig auch ohne nennenswertes Vermögen im Fall einer zwangsweisen Rückführung in sein Heimatland Afghanistan in der Lage wäre, durch Gelegenheitsarbeiten ein kleines Einkommen zu erzielen (Urteilsabdruck, Seite 14, vorletzter und letzter Absatz, und in Bezug genommen durch Urteilsabdruck, Seite 31, dritter und vierter Absatz). Es könne nicht für sämtliche Rückkehrer aus dem westlichen Ausland, denen es in Kabul oder in Afghanistan insgesamt in (familiären oder sonstigen) Beziehungen oder an Unterstützungsnetzwerken fehle, angenommen werden, die schlechten Bedingungen im Land könnten generell und bei allen diesen Rückkehrern ganz außerordentliche individuelle Umstände darstellen und die – wie dargestellt – hohen Anforderungen zur Bejahung des Art. 3 EMRK trotz fehlenden Akteurs erfüllen (Urteilsabdruck, Seite 30, letzter Absatz).
36Der pauschale Hinweis auf die allgemeine Lageerkenntnis ohne Angabe von Erkenntnisquellen oder die allein dem Gericht vorliegenden Auskünfte genügt jedoch nicht den Anforderungen des Art. 103 Abs. 1 GG.
37Vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 18. Juli 2001 - 2 BvR 982/00 -, InfAuslR 2001, 463 = juris, Rn. 19, und vom 22. Januar 1999 - 2 BvR 86/97 -, InfAuslR 1999, 273 = juris, Rn. 37.
38Art. 103 Abs. 1 GG verlangt nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, dass das Gericht nur solche Tatsachen und Beweisergebnisse, auch Presseberichte und Behördenauskünfte verwertet, die von den Verfahrensbeteiligten oder vom Gericht im Einzelnen bezeichnet zum Gegenstand des Verfahrens gemacht worden sind und zu denen sich die Beteiligten äußern konnten.
39Vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 18. Juli 2001 - 2 BvR 982/00 -, InfAuslR 2001, 463 = juris, Rn. 15 ff., m. w. N.; OVG NRW, Beschluss vom 10. Juli 2018 ‑ 13 A 1529/18.A -, juris, Rn. 13 f., m. w. N.
40Dem ist das Verwaltungsgericht nicht hinreichend nachgekommen. Über das in den Entscheidungsgründen in Bezug genommene Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 12. Oktober 2018 - A 11 S 316/17 -, juris (Urteilsabdruck, Seite 18, fünfter und sechster Absatz) ergeben sich mittelbar zwar Erkenntnisse über das Durchschnittseinkommen und die Lebenshaltungs-, insbesondere Wohnkosten, in Afghanistan. Die dafür vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg herangezogenen Erkenntnismittel (juris, Rn. 256 bzw. 273, 275 und 278) sind aber ganz überwiegend weder in der Erkenntnisliste des Verwaltungsgerichts enthalten, auf die es mit seiner Eingangsverfügung hingewiesen hat, noch sonst in das Verfahren eingeführt worden. Das Verwaltungsgericht hat einen Tag vor dem ursprünglichen Termin zur mündlichen Verhandlung mit Verfügung vom 19. März 2019 lediglich ergänzend zu den in der Erkenntnisliste aufgeführten Auskünften, Gutachten und Stellungnahmen auf die Urteile des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 3. November 2017 - A 11 S 1704/17 - und vom 12. Oktober 2018 - A 11 S 316/17 - hingewiesen, ohne damit weder ausdrücklich noch inhaltlich bestimmt die dort zitierten Erkenntnismittel zum Gegenstand des Verfahrens zu machen. In der mündlichen Verhandlung hat es insoweit keine Klarheit geschaffen. Im Gegenteil suggeriert der pauschale Verweis des Verwaltungsgerichts auf „die der Kammer vorliegenden Erkenntnismittel“, dass es diese Erkenntnismittel selbst nicht zur Kenntnis genommen hat. Andernfalls hätte es die ihm vorliegenden Erkenntnismittel ohne Weiteres konkret benennen oder ggf. die unter Beweis gestellten Tatsachen als wahr unterstellen können. So hätte es dem Kläger den gebotenen Aufschluss darüber geben können, auf welche Tatsachengrundlage es seine Entscheidung stützen werde.
41Abgesehen davon kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass sich der weitere Vortrag des Klägers, er habe im Falle seiner Rückkehr, sich, seine Frau, seine Kinder und seine Mutter zu finanzieren, auf die Entscheidung ausgewirkt hätte. Im Tatbestand des angegriffenen Urteils (Urteilsabdruck, Seite 3, vierter Absatz) hat das Verwaltungsgericht zwar bei der Wiedergabe des Vorbringens des Klägers vor dem Bundesamt zutreffend ausgeführt, dass der Kläger mit der Tochter seines Onkels väterlicherseits, die in Kabul lebe, „quasi verlobt“ sei. Dem davon abweichenden Vortrag des Klägers in der mündlichen Verhandlung (Sitzungsniederschrift, Seite 2, letzter Absatz), seine Frau und seine Kinder seien immer noch in Afghanistan, ist es jedoch nicht weiter nachgegangen. Es hat in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils lediglich ohne nähere Erläuterung unterstellt, dass der Kläger keine Unterhaltsverpflichtung zu erfüllen habe (Urteilsabdruck, Seite 31, erster Absatz). Hätte das Verwaltungsgericht die auf die allgemeine Situation in Afghanistan gerichteten streitigen Beweisanträge von vornherein als unerheblich abgelehnt, wären die individuellen Umstände und damit auch die Frage nach etwaigen Unterhaltspflichten indes in den Fokus der mündlichen Verhandlung gerückt und hätten dem Kläger Anlass zu den mit dem Zulassungsvorbringen geltend gemachten Ausführungen geben können. Eine Befassung damit durch das Verwaltungsgericht hätte möglicherweise auch zu der Annahme von bestehenden Unterhaltspflichten des Klägers und aufgrund dessen eine abweichende Bewertung bei der Frage, ob die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots erfüllt sind, nach sich ziehen können.
42Insoweit ist im vorliegenden Zusammenhang der Berufungszulassung unerheblich, ob das Vorbringen des Klägers zu diesem Punkt am Ende möglicherweise nicht überzeugungskräftig sein sollte und Beweisanträgen, die auf die Befragung von Zeugen im Ausland gerichtet sind, unter Umständen prozessordnungsgemäß nicht nachgegangen werden muss. Es kommt auch nicht darauf an, ob der Kläger die Hintergründe zu seinen geltend gemachten Unterhaltspflichten von sich aus – unabhängig von der Begründung für die Ablehnung der gestellten Beweisanträge – hätte vortragen können, zumal seine familiären Verhältnisse in der mündlichen Verhandlung thematisiert worden sind. Für die Zulassung der Berufung genügt nach den höchstrichterlichen Maßstäben, dass das Verwaltungsgericht durch das Auswechseln der Begründung für die Beweisantragsablehnung im Urteil die Möglichkeit des Klägers zur Wahrnehmung seines rechtlichen Gehörs verkürzt hat, obwohl er sich dazu bei ausreichender Gehörsgewährung in einer zur Klärung des geltend gemachten Anspruchs geeigneten Weise eingelassen hätte.
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