Urteil vom Schleswig Holsteinisches Oberverwaltungsgericht (1. Senat) - 1 KN 2/11

Tenor

Die Satzung der Gemeinde S. über den Bebauungsplan Nr. 43 - Sch - vom 08. Juli 2010 wird für unwirksam erklärt.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Antragsgegnerin wird nachgelassen, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der erstattungsfähigen Kosten abzuwenden, wenn nicht die Antragstellerin vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

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Die Antragstellerin ist Eigentümerin des Grundstückes … in S.. Das Grundstück besteht aus drei Flurstücken: Das - mit einer Pension bebaute - Flurstück … grenzt an eine - im Zuge des Weges "…" Liegende - Parzelle …, diese wiederum grenzt an die Parzelle …, auf der sich ein Steilhang zur S..allee befindet. Die auf dem Flurstück … vorhandene Pension soll abgerissen und durch eine Neubebauung mit 20 Eigentumswohnungen ersetzt werden.

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Die Wegeverbindung "...", verläuft - parallel zur S..allee, oberhalb eines Steilufers zur Ostsee - zwischen dem F und der S..allee. Die Fahrspur ist unbefestigt; der Beginn und das Ende des Weges sind mit "Privatweg" beschildert. Die Antragsgegnerin hat den Weg in der Vergangenheit nicht unterhalten; die Straßenbeleuchtung ist von den Anliegern 1966 bezahlt worden, wobei sich die Gemeinde als "Kostensammelstelle" zur Verfügung gestellt hat.

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Die Antragstellerin wendet sich gegen den Bebauungsplan Nr. 43 - Sch - der Antragsgegnerin vom 09. Juli 2010. Dieser Bebauungsplan ist hervorgegangen aus dem 1970 in Kraft getretenen Bebauungsplan Nr. 9 - H. Darin war die Straße "..." als mit einem Geh-, Fahr- und Leitungsrecht zu belastende Fläche ausgewiesen.

4

Den Aufstellungsbeschluss für den Bebauungsplan Nr. 43 - Sch - fasste die Gemeindevertretung am 14.04.1983. Im Juni 1993 wurde der Entwurf des Bebauungsplanes mit Begründung beschlossen. Der Bebauungsplanentwurf lag - zuletzt - in der Zeit vom 01.02. bis 01.03.2010 öffentlich aus. Nach Prüfung der eingegangenen Stellungnahmen hat die Gemeindevertretung den Bebauungsplan am 24. März 2010 als Satzung beschlossen. Nach Ausfertigung am 28. Juni 2010 und Bekanntmachung ist der Bebauungsplan am 08. Juni 2010 in Kraft getreten.

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Der Geltungsbereich des Bebauungsplanes umfasst den Bereich zwischen F (im Norden), O..straße/H. Ring (B 76) im Westen und Süden und Ostsee (Strand) im Osten. Das Grundstück der Antragstellerin liegt nach dem Plan in einem allgemeinen Wohngebiet und ist für eine viergeschossige Bebauung vorgesehen. Teilstrecken der O..straße, des Fs und der S..allee sowie der Weg "..." sind im Bebauungsplan als "Verkehrsflächen besonderer Zweckbestimmung" ausgewiesen. in der Planzeichnung befindet sich auf der Wegefläche "..." der Zusatz "privat". In Ziffer 2.2 der Begründung zum Bebauungsplan heißt es:

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"Die Erschließung des allgemeinen Wohngebiets erfolgt über .... Die Straße ... wird wegen ihrer Lage und Beschaffenheit als verkehrsberuhigt festgesetzt - jedoch als private Verkehrsfläche -, wobei die gestalterischen Maßnahmen vorwiegend auf eine Geschwindigkeitsreduzierung abzielen, da weiterhin größere Fahrzeuge, wie Kranken-, Möbelwagen, Feuerwehr usw. hineinfahren müssen. Zur Sicherung und Förderung der Wohnruhe für die Bewohner der Straße "..." ist eine Anbindung der rückwärtigen Stellplätze über ein Geh-, Fahr- und Leitungsrecht von Westen notwendig."

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Von der O..straße aus führt nach dem Bebauungsplan (über das Flurstück 25/5) ein Geh-, Fahr und Leitungsrecht zum Flurstück … und zur südlichen Grenze des Grundstücks der Antragstellerin (Flurstück …).

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Am 01.02.2010 beantragte die Antragstellerin einen Bauvorbescheid zur Errichtung eines Neubaus mit 20 Ferienwohnungen auf ihrem Grundstück. Der Kreis Ostholstein lehnte den Antrag mit Bescheid vom 19.07.2010 ab, da die Erschließung des Grundstücks ohne zusätzliche rechtliche Absicherung nicht gesichert sei. Der Privatweg "..." sei nicht öffentlich-rechtlich gewidmet und könne auch nicht mit Fahrzeugen befahren werden. Somit sei auch aus der Sicht des Brandschutzes eine ausreichende Erschließung von der nächsten öffentlichen Straße - S..allee - aus nicht gegeben.

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Der dagegen eingelegte Widerspruch der Antragstellerin ist (nach Aktenlage) noch nicht beschieden worden.

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Mit dem am 14. Februar 2011 eingegangenen Normenkontrollantrag macht die Antragstellerin geltend, ihr Grundstück werde, wenn dessen Erschließung verneint werde, unbebaubar sein und einen erheblichen Wertverlust erleiden. Die Straße "..." sei schon vor Inkrafttreten der Straßengesetze stillschweigend gewidmet worden. Der angegriffene Bebauungsplan sei verfahrensfehlerhaft im Wege des § 13 a BauGB erlassen worden und verstoße auch gegen das Entwicklungsgebot. Die "Planungsklarheit" sei verletzt, weil der Plan nicht erkennen lasse, ob die bereits bebauten Grundstücke über die Straße "..." erschlossen seien und ob die Treppen zur S..allee als Erschließungsmöglichkeit dienen könnten. Aus der Planbegründung sei auch nicht ersichtlich, warum über die S..allee künftig keine Erschließung vermittelt werde. Wenn es zutreffen sollte - was der Kreis Ostholstein meint -, dass für eine Erschließung über die Straße ,,..." Baulastenerklärung sämtlicher betroffener Grundstückseigentümer - also von rund 150 Wohnungseigentümern beigebracht werden müssten, werde eine Bebauung unmöglich. Die durch diese Situation vereitelte Bebaubarkeit des Grundstücks greife in das Eigentumsrecht ein. Die Erforderlichkeit des Bebauungsplanes nach § 1 Abs. 3 BauGB werde dadurch in Frage gestellt. Ein Ausschluss der Erschließung über die "S..allee" werde durch das Ziel der Sicherung und Förderung der Wohnruhe nicht gerechtfertigt. Die planerische Abwägung sei fehlerhaft. Andere Anliegergrundstücke an der Straße "..." habe die Antragsgegnerin als erschlossen im Sinne des Ausbaubeitragsrechtes angesehen. In die Abwägung seien private Belange der Antragstellerin überhaupt nicht eingeflossen. Es genüge nicht, lediglich auf die Möglichkeit zu verweisen, Baulasten eintragen zu lassen. Die Erschließungsprobleme minderten den Verkehrswert stark, griffen in den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb der Antragstellerin ein und führten zu Schadenersatzansprüchen.

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Die Antragstellerin beantragt,

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den Bebauungsplan Nr. 43 - Sch - der Antragsgegnerin vom 26. März 2010 für unwirksam zu erklären.

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Die Antragsgegnerin beantragt,

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den Antrag abzulehnen.

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Sie hält den Antrag für unzulässig, da eine Unwirksamkeit des Bebauungsplanes die Rechtsposition der Antragstellerin nicht verbessern könne. Ihr Grundstück sei bisher nie über die … erschlossen gewesen. Nach dem zuvor geltenden Bebauungsplan Nr. 9 - H - sei das Grundstück über ein Geh-, Fahr- und Leitungsrecht über die Straße "…" erschlossen gewesen. Zwar grenze das 11 m breite Flurstück … der Antragstellerin an die "…" an, doch handele es sich dabei uni ein steiles Hanggrundstück, das keine ausreichende Erschließung ermögliche. Der Hang sei 7,50 m hoch. Eine Erschließung über ein Treppchen genüge nicht. Das vereinfachte Verfahren gemäß § 13 a BauGB sei zulässig gewesen. Die beplante zulässige Grundfläche betrage 10.500 qm und Gegenstand des Plans sei ein "klassischer Fall der Nachverdichtung". Mit der Planung sei keine Nutzungseinschränkung verbunden. Die planerischen Festsetzungen seien auch hinreichend bestimmt. Wenn die örtliche Feuerwehr eine Zufahrtmöglichkeit über den Weg "..." für ausreichend erachte, sei dies unerheblich. Der Plan entspreche dem Flächennutzungsplan und eine durchgehende Wohnbebauung werde auch nicht unmöglich gemacht. Gemäß § 13 a Abs. 2 Nr. 2 BauGB sei der Bebauungsplan auch vor einer Änderung des Flächennutzungsplanes zulässig. Eine Erschließung über die Straße "…" sei nicht objektiv unmöglich. Die Antragstellerin selbst sei Miteigentümerin dieses Weges. Ihr stehe bei Bewilligung einer Grunddienstbarkeit durch die anderen Wegeeigentümer ein Anspruch auf Übernahme einer Baulast zu. Falls keine Grunddienstbarkeit bestehe, sei es Sache der Antragstellerin, sich mit den anderen Wege-Eigentümern zu einigen. Notfalls greife § 917 BGB (Notwegerecht). Die Erschließungssituation habe sich durch den angegriffenen Bebauungsplan nicht verschlechtert.

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Auf die gerichtliche Anfrage,

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ob die Straße "…" eventuell nach § 57 Abs. 3 StrWG zu beurteilen ist und ob das im Bebauungsplan dargestellte Geh-, Fahr- und Leitungsrecht zugunsten der Anlieger von der O..straße aus (über die Gemeinschaftsanlage auf dem Flurstück …), das an das Grundstück der Antragstellerin angrenzt, eine Erschließung vermittelt,

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hat die Antragsgegnerin mitgeteilt, dass die Straße "…" zu keinem Zeitpunkt öffentlich gewidmet worden sei, weder ausdrücklich noch konkludent. Es sei allseits stets bekannt gewesen und durch die Beschilderung auch für jedermann ersichtlich, dass es sich um eine Privatstraße handele. Das Geh-, Fahr- und Leitungsrecht von der O..straße aus (über die Gemeinschaftsanlage auf dem Flurstück …), das an das Grundstück der Antragstellerin angrenze, vermittle eine Erschließung. Die Grundstückseigentümer seien wegen der erforderlichen Baulast anzusprechen. Die Erschließung sei vom Bebauungsplan Nr. 43 so vorgesehen.

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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die eingereichten Schriftsätze - nebst Anlagen - sowie auf die vorgelegten Vorgänge zum Verfahren über die Aufstellung des angegriffenen Bebauungsplans Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Der Normenkontrollantrag der Antragstellerin ist zulässig und begründet.

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1. Die Zulässigkeitsvoraussetzungen in § 47 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Satz 1 und Abs. 2 a VwGO sind erfüllt. Die Antragstellerin hat im Rahmen der dritten erneuten Auslegung des Planentwurfs vom 01.02. - 01.03.2010 mit Schriftsatz vom 25.02.2010 (BI. 140 ff. der Beiakte F) Einwendungen erhoben worden, die auch die - hier streitige - Frage der Erschließung des Grundstücks über das Flurstück … (zur S..allee) bzw. über den Weg "…" betreffen. Eine Präklusion nach § 47 Abs. 2 a VwGO ist damit nicht gegeben.

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Die Antragsbefugnis gem. § 47 Abs. 2 VwGO ist gegeben, nachdem die Antragstellerin dargelegt hat, dass die mit dem Erlass des angegriffenen Bebauungsplans erfolgte Abwägung im Hinblick auf die (gesicherte) Erschließung ihres im Plangeltungsbereich gelegenen Grundstücks fehlerhaft sein kann.

23

Der Antragstellerin steht auch ein Rechtsschutzbedürfnis zur Seite. Zwar kann sie ihre Rechtsposition durch die erstrebte Unwirksamkeit des Bebauungsplans - zunächst - nicht verbessern, weil im Falle einer Unwirksamkeit auch die Festsetzung eines Geh-, Fahr-und Leitungsrecht zur O..straße entfallen würde. Ein Erfolg des Normenkontrollantrags würde auch nichts an der - bislang - streitigen straßenrechtlichen Öffnung des Weges "..." zum Anlieger- und Gemeingebrauch ändern.

24

Eine Verbesserung der Rechtsstellung der Antragstellerin infolge einer Unwirksamkeit des angegriffenen Bebauungsplans tritt aber insofern ein, als - danach - der vorherige Bebauungsplan Nr. 9 H. - und das darin für den Weg "..." auf Gesamtlänge festgesetzte Geh- Fahr- und Leitungsrecht wieder "aufleben". Dies belegt die in der mündlichen Verhandlung vorgelegte Original-Planzeichnung jenes Plans (Anlage zum Protokoll, Bl. 109 d. A.). Unabhängig davon ergibt sich ein - anzuerkennendes - Rechtsschutzbedürfnis der Antragstellerin auch daraus, dass die Antragsgegnerin - im Falle einer Unwirksamkeit des angegriffenen Bebauungsplans - bei einer Neuplanung das "Erschließungsproblem" in einer rechtssicheren Weise und - damit - auch für die Antragstellerin verlässlichen Weise lösen müsste. Nachdem entlang des Weges "..." (weiterhin) intensive und hochwertige Wohnbebauung zugelassen werden soll, besteht hinsichtlich der Erschließung der Baugrundstücke objektiv ein Planungserfordernis im Sinne von § 1 Abs. 3 BauGB (vgl. BVerwG, Beschl. v. 23.09.1997, 4 BN 17.97, NVwZ 1998, 613). In einem solchen Fall genügt es für das Rechtsschutzinteresse, "wenn - im Sinne einer tatsächlichen Prognose - zu erwarten ist, dass die Gemeinde einen neuen Bebauungsplan mit möglicherweise für den Antragsteller günstigeren Festsetzungen aufstellen wird", es sei denn, die Antragstellerin hätte keinerlei reale Chance, ihr eigentliches Ziel zu erreichen (BVerwG, Urt. v. 23.04.2002, 4 CN 3.01, NVwZ 2002, 1126 mit Hinw. auf Beschl. vom 17.12.1992, 4 N 2.91, DVBI 1993, 444/445 und Beschl. vom 25.05.1993, 4 NB 50.92, NVwZ 1994, 268).

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2. Der Normenkontrollantrag hat in der Sache Erfolg, denn dem angegriffenen Bebauungsplan haften - rechtlich beachtliche - Abwägungsfehler an. Die Frage der ausreichend gesicherten Erschließung der Wohngrundstücke an dem Weg "..." ist im Plan unzureichend erfasst und abgewogen und damit - letztlich - nicht gelöst worden (§ 1 Abs. 7 BauGB).

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2.1 Die Antragsgegnerin hat den Weg "..." nach Ziff. 2.2 der Planbegründung als verkehrsberuhigt festgesetzt, um die Wohnruhe zu sichern und zu fördern. Diesem Ziel sollte auch die "Anbindung der rückwärtigen Stellplätze über ein Geh-, Fahr- und Leitungsrecht von Westen" - also von der O..straße aus - dienen. Ein Blick auf die Planzeichnung zeigt, dass diese Vorgaben unvollständig umgesetzt worden sind. Nur für einen Teil der betroffenen Baugrundstücke bestehen "rückwärtige" Anbindungen für Stellplätze: Während für die Baugrundstücke ... 6 - 10 ein "rückwärtig" konzipiertes, von der O..straße ausgehendes Geh-, Fahr- und Leitungsrecht festgesetzt worden ist, fehlen entsprechende Festsetzungen für die (übrigen) Baugrundstücke ... 1 - 5 und ... 11 - 15. Diese Grundstücke sind - mit anderen Worten - mangels "rückwärtiger" Erschließung allein auf eine Erschließung über den Weg "..." angewiesen. Aus den Unterlagen des Planaufstellungsverfahrens und der Begründung des Bebauungsplans ist kein Anhaltspunkt dafür zu entnehmen, dass die Antragsgegnerin dieses Problem überhaupt gesehen hat.

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2.2 Der Plan sieht vor, dass der Weg "..." ein Privatweg sein soll. Das belegen die Planzeichnung (Zusatz "privat" im Bereich der Verkehrsfläche "...") und die Planbegründung (Ziff. 2.2).

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2.2.1 Die Frage, ob der Weg evtl. als eine "historische" öffentliche Straße i. S. d. § 57 Abs. 3 StrWG anzusehen ist, ist - ersichtlich - im Planaufstellungsverfahren nicht näher geprüft worden; dies ist erst im Normenkontrollverfahren auf die gerichtliche Verfügung vom 14.06.2011 hin geschehen. Im Zeitpunkt des Satzungsbeschlusses am 24.03.2010 lag der Antragsgegnerin - somit - keine hinreichend abgesicherte Entscheidungsgrundlage zur Öffentlichkeit des Weges "..." vor.

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2.2.2 Ob die Annahme zutrifft, dass der Weg - bis heute - als Privatweg einzustufen ist, lässt sich im vorliegenden Verfahren nicht abschließend klären: Nach § 57 Abs. 3 StrWG hätte der Weg die Eigenschaft einer öffentlichen Straße, wenn er diese Eigenschaft schon vor Inkrafttreten des Straßen- und Wegegesetzes am 01.10.1962 gehabt hätte. Nach den vorgelegten historischen Karten ist nicht festzustellen, ob der Weg schon 1929 bestanden hat (die dazu vorgelegten Karten lassen dies nicht erkennen). Wann er angelegt und (erstmals) "Anbaustraße" geworden ist, ist unbekannt. Wenn seine Nutzung schon vor dem 01.10.1962 begonnen hat und seither widerspruchslos ausgeübt worden ist, kann dies auch ohne förmliche Widmung die Einordnung als öffentliche Straße i. S. d. § 57 Abs. 3 StrWG begründen (vgl. Sauthoff, Öffentliche Straßen, 2010, Rn. 121; Kodal, Straßenrecht, 2010, Kap. 8 Rn. 25.3). Dafür kann auch sprechen, dass die Gemeinde (etwa) 1966 eine Abrechnung für eine Straßenbeleuchtungsanlage erstellt hat. Nach dem Gesamteindruck, den die zu den Akten gereichten Fotos vermitteln, diente und dient - faktisch bis heute - der Weg der Erreichbarkeit aller bebauten Anliegergrundstücke. Demgegenüber sprechen die Umstände, dass Hinweisschilder und Verkehrszeichen "von privater Hand" aufgestellt worden seien, keine Straßenunterhaltung und -reinigung und kein Winterdienst durch die Gemeinde erfolgt ist und dass die Wegefläche bis heute im Privateigentum der Wegeanlieger steht, für die Einordnung als (nicht öffentliche) Privatstraße. Davon scheint die Antragsgegnerin schon 1970 ausgegangen zu sein, weil sie die Wegefläche "..." in ihrem damaligen Bebauungsplan als eine mit einem Geh-, Fahr- und Leitungsrecht zu Gunsten aller Anlieger zu belastende Fläche ausgewiesen hat.

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2.2.3 Wenn im - hier angegriffenen - Bebauungsplan die Wegefläche als solche beibehalten und als "Verkehrsfläche besonderer Zweckbestimmung" ausgewiesen wird, zugleich aber auf die Festsetzung eines Geh-, Fahr- und Leitungsrecht zu Gunsten aller Anlieger verzichtet wird, bleibt die Frage der gesicherten Erschließung der für eine Wohnbebauung zugelassenen Anliegergrundstück planungsrechtlich ungelöst. Die "Verkehrsfläche" ist nach eigener Annahme der Antragsgegnerin kein öffentlicher Weg; dies kann auch nicht als sicher angenommen werden (s. o. 2.2.2). Der Bebauungsplan sieht eine Widmung der Fläche für den öffentlichen Verkehr gem. § 6 StrWG gerade nicht vor, denn er weist den Weg ausdrücklich als "privat" aus und hebt dies auch in der Planbegründung hervor. Eine private Wegefläche vermittelt - als solche - nicht die städtebaulich erforderliche Erschließung.

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2.3 Der in der ungelösten Erschließungsproblematik liegende Abwägungsfehler kann nicht mit dem Hinweis auf die "rückwärtigen" Geh-, Fahr- und Leitungsrechte (zur O..straße) oder auf die Möglichkeit der Anlieger, privatrechtliche Vereinbarungen zur "gesicherten" Nutzung des Weges "..." zu treffen, ausgeräumt werden.

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2.3.1 Abgesehen davon, dass die "rückwärtigen" Geh-, Fahr- und Leitungsrechte nicht alle Baugrundstücke erreichen (s. o. 2.1), wird damit den Baugrundstücken auch eine andere Art und Qualität der Erschließung vermittelt, als es im Falle einer direkten Erschließung durch die Straße "vor der Haustür" der Fall wäre. Diese Unterschiede sind in der planerischen Abwägung zu berücksichtigen. Die Möglichkeit einer straßenmäßigen Erschließung ist unabhängig von rückwärtig vorgesehenen Geh-, Fahr- und Leitungsrecht abzuwägen. Auch die für das Geh-, Fahr- und Leitungsrecht gebotene Abwägung verlangt eine Prüfung, ob der Weg "..." - möglicherweise ausschließlich, jedenfalls aber vorrangig -als Erschließungsmöglichkeit angeboten wird. Eine solche Abwägung fehlt.

33

2.3.3 Der Verweis auf die Möglichkeit privatrechtlicher Vereinbarungen geht an der planerischen Aufgabe vorbei, durch geeignete Festsetzungen die Nutzung der Baugrundstücke städtebaulich zu ordnen. In den Planungserwägungen der Antragsgegnerin wird die Frage, ob die Straße "..." nicht als öffentliche Verkehrsfläche hätte vorgesehen werden müssen, nicht angesprochen. Nach § 9 Abs. 1 Nr. 11 (2. Hs.) BauGB können Verkehrsflächen als ,,öffentlich" oder "privat' festgesetzt werden; eine nachfolgende wegerechtliche Widmung ist an diese Festsetzung gebunden (BVerwG, Urt. v. 01.11.1974, 4 C 38.71BVerwGE 44, 144). Als private Verkehrsflächen kommen nur solche Flächen in Betracht, auf denen kein öffentlicher Verkehr stattfindet oder stattfinden soll; es bedarf "spezifischer Gründe", um allgemein nutzbare Straßen als private Verkehrsflächen festzusetzen (vgl. Söfker, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg, BauGB, Stand März 2011, § 9 Rn. 104). Welche "besonderen" Gründe vorliegend für die Entscheidung maßgeblich waren, den Weg "..." als Privatweg beizubehalten, ist den Abwägungsmaterialien und der Planbegründung nicht zu entnehmen. Denkbar sind erschließungs- oder ausbaubeitragsrechtliche Überlegungen; diese wären indes planungsrechtlich unergiebig, da sie nicht städtebaulich motiviert sind.

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Privatrechtliche Vereinbarungen führen im vorliegenden Fall - zusätzlich - zu dem Problem, dass solche Vereinbarungen mit mehreren Wohnungseigentümergemeinschaften im Verlauf des Privatweges geschlossen werden müssten. Damit wird jedem Grundstückseigentümer angesonnen, zur Realisierung seines Baurechts mit einer Vielzahl von Wohnungseigentumsgemeinschaften zu verhandeln und zu kontrahieren. Da - im Gegensatz zur Ursprungsfassung des Bebauungsplans - darauf verzichtet worden ist, zur planungsrechtlichen Sicherstellung einer Erschließung den Weg "..." auf gesamter Länge mit einem Geh-, Fahr- und Leitungsrecht zu belasten, bestünde im Fall der Nicht-Einigung mit (auch nur) einem Wegeeigentümer kein planungsrechtlich durchsetzbares Recht, diesen als Zuwegung (Erschließung) zum - jeweils - eigenen Grundstück durchgängig zu nutzen (vgl. zur Möglichkeit, ein mit einem Geh-, Fahr- und Leitungsrecht belastetes Grundstück notfalls durch zwangsweise Eintragung einer Dienstbarkeit in Anspruch zu nehmen: OVG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 22.04.2010, 2 A 17.08, Juris, Tn. 32). Damit sind private Belange angesprochen, die im Rahmen der planerischen Abwägung nach § 1 Abs. 7 BauGB - jedenfalls - berücksichtigt werden müssen, von der Antragsgegnerin aber nicht berücksichtigt worden sind.

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2.4 Die aufgezeigten Abwägungsmängel sind offensichtlich und für das Ergebnis der planerischen Abwägung von Belang; sie führen deshalb zur Unwirksamkeit des Bebauungsplans (§ 214 Abs. 3 S. 2 BauGB).

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Die Antragsgegnerin wird über eine städtebaulich geordnete und gesicherte Erschließung der am "..." ausgewiesenen Baugrundstücke neu zu entscheiden haben.

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3. Die Kosten des Verfahrens hat die Antragsgegnerin zu tragen, weil sie unterlegen ist (§ 154 Abs. 1 VwGO).

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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

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Gründe, die die Zulassung der Revision rechtfertigten (vgl. § 132 Abs. 2 VwGO), liegen nicht vor.


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