Urteil vom Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt (3. Senat) - 3 L 339/11

Tatbestand

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Die Klägerin begehrt die Übernahme eines Elternbeitrages für die Betreuung ihres Kindes R. in einer Kindertagesstätte. Auf entsprechenden Antrag der Klägerin bewilligte der Beklagte mit Bescheid vom 15. September 2009 die Übernahme des Elternbeitrages für die Betreuung ihrer Tochter in der Kindertagesstätte „(...)“ in G. für den Zeitraum vom 01. Juni bis zum 31. Dezember 2009. In dem Bescheid heißt es, dass der Bewilligungszeitraum verlängert werden könne, wenn die Klägerin bis zum 31. Januar 2010 einen Folgeantrag mit den für die Entscheidung maßgeblichen Unterlagen einreiche.

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Am 05. Februar 2010 ging beim Beklagten ein Antrag der Klägerin auf Übernahme der Elternbeiträge ein. Im Formularfeld „Datum“ hatte die Klägerin den 26. Januar 2010 eingetragen.

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Mit Bescheid vom 03. März 2010 bewilligte der Beklagte die Übernahme der Elternbeiträge in Höhe von monatlich 75,- € für den Zeitraum vom 01. Februar 2010 bis zum 31. Mai 2010. Die dem Bescheid beigefügte Rechtsbehelfsbelehrung enthielt keinen Hinweis auf die Möglichkeit einer Klageerhebung im Wege des elektronischen Rechtsverkehrs.

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Am 19. April 2010 hatte die Klägerin beim Arbeitsgericht Magdeburg Klage erhoben. Mit Beschluss vom 02. Juni 2010 hat das Arbeitsgericht den Rechtsstreit an das Verwaltungsgericht Magdeburg verwiesen.

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Die Klägerin hat zur Begründung der Klage vorgetragen, dass sie den Folgeantrag bereits im Januar 2010 gestellt habe. Den Antrag habe sie mit dem Datum vom 26. Januar 2010 versehen und am 29. Januar 2010 zur Post gebracht. Ihre Einkommensverhältnisse ließen eine Zahlung des Elternbeitrages nicht zu.

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Die Klägerin hat beantragt,

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den Bescheid des Beklagten vom 03. März 2010 aufzuheben, soweit darin die Übernahme des Elternbeitrages für den Monat Januar 2010 abgelehnt worden ist und den Beklagten zu verpflichten, den Elternbeitrag für das Kind R. A. in Höhe von 75,- € Euro für den Monat Januar 2010 zu übernehmen.

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Der Beklagte hat beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Er hat zur Begründung vorgetragen, dass der Bescheid vom 15. September 2009 ersichtlich nicht als Dauerverwaltungsakt ausgestaltet gewesen sei. Daher sei für einen neuen Bewilligungszeitraum stets ein neuer Antrag zu stellen. § 90 Abs. 3 SGB VIII verlange auch bei Folgeanträgen die vorherige Antragstellung. Aus dem Eingangsstempel ergebe sich, dass die Klägerin den Antrag auf Übernahme der Elternbeiträge für den Monat Januar 2010 nicht rechtzeitig gestellt habe. Es komme nicht auf das auf dem Formular angegebene Datum, sondern auf den Eingang bei der Behörde an.

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Mit Urteil vom 30. Mai 2011 hat das Verwaltungsgericht Magdeburg den Bescheid des Beklagten aufgehoben und den Beklagten verpflichtet, den Elternbeitrag für das Kind R. in Höhe von 75,- € für den Monat Januar 2010 zu übernehmen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass die Klage zulässig sei. Die Klägerin habe die Klagefrist eingehalten. Für die Klägerin habe die Jahresfrist gegolten, da die Rechtsbehelfsbelehrung wegen des fehlenden Hinweises auf die Möglichkeit der Klageerhebung im Wege des elektronischen Rechtsverkehrs unrichtig erteilt worden sei. Die Klage sei auch begründet. Die Klägerin habe einen Anspruch darauf, dass der Beklagte den Elternbeitrag für den Besuch ihres Kindes R. in Höhe von 75,- € auch für den Monat Januar 2010 übernehme. Der Anspruch ergebe sich aus § 90 Abs. 3 SGB VIII. Der Klägerin sei die mit dem Elternbeitrag verbundene Belastung nicht zuzumuten. Ihr anrechenbares Einkommen unterschreite die maßgebliche Einkommensgrenze. Dies sei auch nach der vom Beklagten vorgenommenen Einkommensberechnung unter den Beteiligten nicht streitig. Der Anspruch der Klägerin scheitere auch nicht daran, dass die Klägerin den Antrag auf Übernahme des Elternbeitrages für den Monat Januar 2010 erst am 05. Februar 2010 beim Beklagten gestellt habe. Die Geltendmachung des sich aus § 90 Abs. 3 SGB VIII ergebenden Anspruchs auf Kostenübernahme setze zwar einen Antrag voraus. Hierbei handele es sich aber nicht um eine materiell-rechtliche Voraussetzung, sondern nur um ein formelles Erfordernis, welches auch noch durch eine nachträgliche Antragstellung erfüllt werden könne. Aus dem Wortlaut des § 90 Abs. 3 SGB VIII ergebe sich das Erfordernis einer vorherigen Antragstellung als materiell-rechtliche Voraussetzung für ein Entstehen des Anspruches nicht. § 90 Abs. 3 SGB VIII spreche nicht von einem Erlass bzw. einer Übernahme ab Antragstellung, sondern von einer solchen auf Antragstellung. Eine Beschränkung auf den Zeitpunkt der Antragstellung ergebe sich auch nicht aus den allgemeinen Regeln des Sozialleistungsrechts in Verbindung mit den Besonderheiten des Leistungsrechts des SGB VIII. Der nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts auch anhand der Regelung des § 28 SGB X hergeleitete Grundsatz, dass Sozialleistungen eine vorherige Antragstellung voraussetzten, greife für die Übernahme von Elternbeiträgen nach § 90 Abs. 3 SGB VIII schon im Ansatz nicht ein, weil diese Maßnahme keine Leistung der Jugendhilfe nach § 2 Ab. 2 SGB VIII darstelle. Bestehe für die dem Kostenübernahmeantrag zugrunde liegende Leistung, wie im vorliegenden Fall der Betreuung des Kindes der Klägerin in einer Kindertageseinrichtung ein Rechtsanspruch, eröffne sich insoweit für den Jugendhilfeträger keine Gestaltungsmöglichkeit, die dem jugendhilferechtlichen Ziel partnerschaftlicher Hilfe unter Achtung familiärer Autonomie und dem kooperativen pädagogischen Entscheidungsprozess Rechnung tragen könnte. Die rückwirkende Übernahme der Elternbeiträge scheitere auch nicht daran, dass in dem Bewilligungsbescheid vom 15. September 2009 ausdrücklich auf das Erfordernis einer Antragstellung spätestens zum Ende des Monats Januar 2010 hingewiesen worden sei. Dieser Hinweis ändere nichts daran, dass die maßgebliche gesetzliche Regelung eine Antragstellung vor Ablauf des Bewilligungsmonats nicht verlange.

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Mit der vom Senat mit Beschluss vom 14. Juni 2012 zugelassenen Berufung trägt der Beklagte vor, dass der angefochtene Bescheid vom 03. März 2010 rechtmäßig sei und die Klägerin nicht in ihren Rechten verletze. Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Übernahme des Elternbeitrages für den Monat Januar 2010. Aus § 28 SGB X sei der Grundsatz herzuleiten, dass es bei Jugendhilfeleistungen i. S. d. § 24 SGB VIII auf die rechtzeitige Antragstellung ankomme. Rechtzeitigkeit setze die vorherige Antragstellung voraus. Eine Rückwirkung sei danach ausgeschlossen. Dieser Grundsatz sei auch auf den vorliegenden Fall übertragbar. Der Wortlaut des § 90 Abs. 3 SGB VIII enthalte keine Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber eine rückwirkende Regelung dahingehend habe treffen wollen, dass auch Zeiträume vor der Antragstellung bei der Übernahme von Kostenbeiträgen in die Verwaltungsentscheidung einbezogen werden sollen. Der Gesetzgeber habe eine Rückwirkung eines Antrages auf Zeiten vor der Antragstellung in einer Reihe von Gesetzen mit sozialrechtlichem Charakter zwar zugelassen. Der Umstand, dass im Fürsorgerecht des SGB II, des SGB XII und im Wohngeldgesetz hingegen keine Rückwirkung von Anträgen möglich sei, sei dem Zweck der Leistung geschuldet. Diese Leistungen seien grundsätzlich zur Deckung eines aktuellen Bedarfs gedacht. Diese Erwägung sei auch auf die Übernahme von Elternbeiträgen nach § 90 Abs. 3 SGB VIII übertragbar. Daher habe es dem Gesetzgeber nicht angezeigt erschienen, eine Rückwirkung des Antrages gesetzlich vorzusehen. Ferner wirke ein einmal gestellter Antrag nicht automatisch fort. Ebenso wenig wirke ein neuer Antrag vor den Zeitraum der Antragstellung zurück. Mit dem Eingang eines neuen Antrages am 05. Februar 2010 habe die rückwirkende Übernahme des Elternbeitrages für Januar 2010 nicht mehr bewirkt werden können. Erst mit der Antragstellung im Februar 2010 hätten sowohl die formellen als auch die materiell-rechtlichen Voraussetzungen für ein weiteres Verwaltungsverfahren zur Übernahme der Elternbeiträge vorgelegen. Dass der vor diesem Zeitpunkt der Antragstellung liegende Sachverhalt außer Betracht bleiben müsse, sei auch haushaltsrechtlichen Belangen geschuldet. Würde man davon ausgehen, dass eine rückwirkende Antragstellung unbeschränkt möglich sei, würde dies bedeuten, dass jeder Antragsteller einen Anspruch auf Übernahme von Elternbeiträgen rückwirkend unbegrenzt aufgrund der Inanspruchnahme der Jugendhilfeleistung nach § 24 SGB VIII hätte. Eine zeitliche Begrenzung würde sich allenfalls aus Verjährungsvorschriften ergeben, was aus Gründen der haushaltsrechtlichen Planungssicherheit nicht hinnehmbar sei.

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Der Beklagte beantragt,

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das Urteil des Verwaltungsgerichts Magdeburg - 4. Kammer - vom 30. Mai 2011 abzuändern und die Klage abzuweisen.

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Die Klägerin stellt keinen Antrag.

Entscheidungsgründe

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Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts vom 30. Mai 2011 ist zulässig, jedoch nicht begründet.

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Die Klage ist zulässig. Das Verwaltungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass der Zulässigkeit der Klage nicht die Bestandskraft des Bescheides vom 3. März 2010 entgegensteht. Die Klagefrist des § 74 VwGO hat nicht zu laufen begonnen, da die Klägerin durch die dem Bescheid beigefügte Rechtsbehelfsbelehrung nicht ordnungsgemäß belehrt worden ist. Nach dieser Vorschrift ist eine Belehrung zwar lediglich über den Rechtsbehelf, die Verwaltungsbehörde oder das Gericht, bei dem der Rechtsbehelf anzubringen ist, den Sitz und die einzuhaltende Frist schriftlich oder elektronisch zu belehren; insoweit lässt die dem Bescheid beigefügte Rechtsbehelfsbelehrung keine Fehler erkennen. Fehlerhaft ist sie allerdings deshalb, weil sie lediglich darauf hinweist, dass die Klage schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle zu erheben ist, ohne auf die durch § 55a VwGO i. V. m. der Verordnung über den elektronischen Rechtsverkehr bei den Gerichten und Staatsanwaltschaften des Landes Sachsen-Anhalt vom 1. Oktober 2007 eröffnete Möglichkeit der Übermittlung elektronischer Dokumente und damit auch der elektronischen Klageerhebung hinzuweisen (vgl. OVG LSA, Urt. v. 24.11.2010 - 4 L 115/09 -, juris; OVG Koblenz, Urt. v. 08.03.2012 - 1 A 11258/11 -, juris).

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Das Verwaltungsgericht hat den Beklagten auch zu Recht verpflichtet, den Elternbeitrag für den Besuch der Kindertageseinrichtung „(...)“ in G. für den Monat Januar 2010 teilweise, nämlich in Höhe von 75,- € zu übernehmen. Die Klägerin hat nach § 90 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. Abs. 1 Nr. 3 SGB VIII (in der hier noch maßgeblichen Fassung des Gesetzes vom 10. Dezember 2008, BGBl. I S. 2403) einen Anspruch auf Übernahme des Elternbeitrages für den streitgegenständlichen Zeitraum.

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Nach § 90 Abs. 3 i. V. m. Abs. 1 Nr. 3 SGB VIII soll im Falle der Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen der Teilnahmebeitrag auf Antrag ganz oder teilweise erlassen oder vom Träger der öffentlichen Jugendhilfe übernommen werden, wenn die Belastung den Eltern und dem Kind nicht zuzumuten ist. Die Voraussetzung der Unzumutbarkeit ist hier gegeben. Auch der Beklagte geht nach der von ihm vorgelegten - unstreitigen - Einkommensberechnung davon aus, dass für den streitgegenständlichen Zeitraum der Klägerin die Belastung durch den Elternbeitrag gemäß § 90 Abs. 4 SGB VIII, §§ 82 bis 85, 87, 88 und 92a SGB XII in Höhe von 75,- € nicht zumutbar ist. Es sind auch keine atypischen Umstände ersichtlich, welche eine Abweichung von der gesetzlich intendierten Ermessensausübung („soll“) angezeigt erscheinen lassen.

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Der Beklagte kann dem Anspruch der Klägerin nicht mit Erfolg entgegenhalten, dass sie den Antrag auf Übernahme des Elternbeitrages nicht vor dem 1. Februar 2010 gestellt hat. Das Verwaltungsgericht ist dabei zutreffend davon ausgegangen, dass die Klägerin den Antrag auf Übernahme des Elternbeitrages ab dem 1. Januar 2010 erst am 5. Februar 2010, dem Eingang des Antrags bei dem Beklagten, gestellt hat. Sie kann sich nicht darauf berufen, dass sie den Antrag nach ihrer Darstellung bereits im Januar 2010 zur Post aufgegeben hat.

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Nach § 16 Abs. 1 SGB I sind Anträge auf Sozialleistungen beim zuständigen Leistungsträger zu stellen (Satz 1). Sie werden auch von allen anderen Leistungsträgern, von allen Gemeinden und bei Personen, die sich im Ausland aufhalten, auch von den amtlichen Vertretungen der Bundesrepublik Deutschland im Ausland entgegengenommen. Ist die Sozialleistung - wie hier - von einem Antrag abhängig, gilt nach § 16 Abs. 2 Satz 2 SGB I der Antrag als zu dem Zeitpunkt gestellt, in dem er bei einer der in § 16 Abs. 1 SGB I genannten Stellen eingegangen ist.

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Der Verpflichtung des Beklagten zur Übernahme des Elternbeitrages für den Monat Januar 2010 steht weiter nicht entgegen, dass der auch diesen Zeitraum erfassende Übernahmeantrag erst nach Ablauf des Monats beim Beklagten gestellt wurde.

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Die Übernahme von Teilnahmebeiträgen wie z. B. Elternbeiträgen durch den Träger der öffentlichen Jugendhilfe setzt nach § 90 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII einen entsprechenden Antrag des Anspruchsberechtigten voraus („auf Antrag“). Mit dieser Regelung hat sich der Gesetzgeber gegen eine antragsunabhängige, schon aufgrund der Kenntnis der Behörde von den rechtlichen und tatsächlichen Voraussetzungen eines Anspruchs (wie etwa im früheren § 5 BSHG) einsetzende Übernahmeverpflichtung entschieden. Bereits der Wortlaut der Vorschrift zwingt allerdings nicht zur Auslegung, dass der Antrag vor dem Beginn des Übernahmezeitraums gestellt werden muss. Der Wortlaut der Regelung zwingt nicht zu der Annahme, dass das Antragserfordernis im Sinne des § 90 Abs. 3 SGB VIII als materiell-rechtliche Voraussetzung für die Leistungserbringung zu verstehen ist. Der Beklagte weist zwar zutreffend darauf hin, dass der Gesetzgeber in einer Reihe von sozialen Leistungsgesetzen geregelt hat, dass der Antrag nicht nur formell-rechtliche Bedeutung im Sinne des bloßen Auslösers eines förmlichen Verwaltungsverfahrens hat, sondern auch materiellrechtliche Bedeutung als Anspruchsvoraussetzung besitzt. Der Gesetzgeber hat in diesen Gesetzen das Entstehen eines materiellen sozialrechtlichen Anspruchs ausdrücklich von der Antragstellung selbst und den Umfang des Anspruchs vom Zeitpunkt der Antragstellung abhängig gemacht (vgl. z. B. § 15 Abs. 1 BAföG, § 33 Abs. 1 Satz 2 SGB XI, § 4 UVG). Er hat in diesen Regelungen zugleich auch bestimmt, ob eine Leistungsgewährung auch für einen Zeitraum vor Antragstellung zulässig ist (z. B. § 60 Abs. 1 Satz 2 BVG) oder ob eine gesetzliche geregelte Antragsfrist zugleich auch eine materiell-rechtliche Ausschlussfrist darstellt (z. B. § 25 Abs. 2 Satz 1 WoGG). Dem Wortlaut des § 90 Abs. 3 SGB VIII ist hingegen nicht zu entnehmen, dass dort das Antragserfordernis als materiellrechtliche Voraussetzung der Leistungsgewährung ausgestaltet worden ist, da die Übernahme der Elternbeiträge nicht „ab“ Antragstellung, sondern lediglich „auf“ Antrag des Berechtigten erfolgt. Der Wortlaut der Vorschrift lässt daher auch ein Verständnis des Antragserfordernisses als bloße formelle Leistungsvoraussetzung zu, wie dies im sozialen Leistungsrecht regelmäßig der Fall ist (vgl. Mrozynski, SGB I, § 40 Rdnr. 10 m. w. N.). Andererseits gebietet die Regelung des § 40 Abs. 1 SGB I nicht, dass bei Fehlen eines ausdrücklichen gesetzlich geregelten Antragserfordernisses als rechtswahrender materiellrechtlicher Anspruchsvoraussetzung, eine Regelung über eine Antragstellung stets als bloßes formelles Erfordernis anzusehen ist. Das Verwaltungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass für die Frage, ob der Beklagte als Träger der öffentlichen Jugendhilfe die Kosten im Sinne des § 90 Abs. 3 i.V.m. Abs. 1 Nr. 3 SGB VIII auch dann übernehmen muss, wenn die die Kosten verursachende Maßnahme - hier der Besuch der Kindertageseinrichtung - durchgeführt wurde, bevor der Hilfebedarf (durch einen Antrag) an ihn herangetragen worden ist, sich nach den allgemeinen Regeln des Sozialleistungsrechts in Verbindung mit den Besonderheiten des Leistungsrechts des Achten Buches Sozialgesetzbuch richtet (vgl. BVerwG, Urt. v. 28.09.2000 - 5 C 29.99 -, juris und Beschl. v. 22.05.2008 - 5 B 130.07 -, juris).

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Das Erfordernis einer vorherigen Antragstellung als materiellrechtliche Voraussetzung kann entgegen der Auffassung des Beklagten nicht aus § 28 Satz 2 SGB X hergeleitet werden (so auch Sächsisches OVG, Urt. v. 21.12.2006 - 5 B 904/04 -, juris). Es handelt sich bei dieser Vorschrift um eine für das Sozialrecht allgemein geltende verfahrensrechtliche Regelung, die zeigt, dass der Gesetzgeber im Grundsatz davon ausgeht, dass Sozialleistungen einen „rechtzeitigen Antrag“, also eine Antragstellung voraussetzen, die nicht auf eine nachträgliche Kostenübernahme gerichtet ist, sondern dem Leistungsträger eine zeit- und bedarfsgerechte Leistungserbringung nach ordnungsgemäßer Prüfung der Anspruchsvoraussetzungen ermöglichen. Die Frage der Rechtzeitigkeit eines Antrags bestimmt sich jedoch maßgeblich nach den Besonderheiten des jeweiligen Sozialleistungsrechts (vgl. BVerwG, Urt. v. 28.09.2000, a. a. O.).

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Für die Eingliederungsleistungen der Kinder- und Jugendhilfe nach Maßgabe der §§ 35 f. SGB VIII hat das Bundesverwaltungsgericht bereits entschieden, dass sich das Erfordernis einer vorherigen Antragstellung gegenüber dem öffentlichen Träger der Jugendhilfe mittelbar aus dem Regelwerk des Gesetzes und vor dem Hintergrund seiner Zielsetzung ergibt. Es entspricht nicht der Aufgabe des Jugendhilfeträgers, (nur) Kostenträger und nicht zugleich Leistungsträger zu sein. Das auf der Grundlage des Achten Buches Sozialgesetzbuch bereit gehaltene Instrumentarium ist ein an den unterschiedlichen Lebenslagen von Familien orientiertes System von beratenden und unterstützenden Leistungen. Mit dem jugendhilferechtlichen Ziel partnerschaftlicher Hilfe unter Achtung familialer Autonomie und dem kooperativen pädagogischen Entscheidungsprozess bei der Entscheidung über die Notwendigkeit und Geeignetheit der Jugendhilfe wäre es unvereinbar, wenn sich die Funktion des Jugendamtes auf die eines bloßen Kostenträgers beschränkte, der erst nachträglich nach Durchführung einer selbst beschafften Hilfemaßnahme in die kostenmäßige Abwicklung des Hilfefalles eingeschaltet wird. Diese Eigenart des Jugendhilferechts schließe es demgemäß für Leistungen der Jugendhilfe nach § 2 Abs. 2 SGB VIII aus, dass (öffentliche) Jugendhilfe - wie die Sozialhilfe nach § 5 BSHG - antragsunabhängig einsetzt; der Träger der öffentlichen Jugendhilfe müsse für die Kosten der von Dritten durchgeführten Hilfemaßnahmen nur aufkommen, wenn der Hilfebedarf rechtzeitig an ihn herangetragen worden ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 28.09.2000, a. a. O.).

26

Diesen Ansatz hat der Gesetzgeber mit der Einfügung des § 36a SGB VIII durch das Gesetz zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe (Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetz - KICK - v. 08.09.2005, BGBl. I S. 2729) aufgenommen und vertieft. Nach dieser Vorschrift trägt der Träger der öffentlichen Jugendhilfe die Kosten der Hilfe grundsätzlich nur dann, wenn sie auf der Grundlage seiner Entscheidung nach Maßgabe des Hilfeplans unter Beachtung des Wunsch- und Wahlrechts erbracht wird. Der Vorschrift liegt der Gedanke zugrunde, dass es nicht dem gesetzlichen Auftrag des Jugendhilfeträgers entspricht, nur „Zahlstelle“ und nicht Leistungsträger zu sein. Nur wenn die Eltern bzw. der Hilfeempfänger grundsätzlich den Träger der Jugendhilfe von Anfang an in den Entscheidungsprozess einbeziehen, kann er seine aus § 36a Abs. 1, § 79 Abs. 1 SGB VIII folgende Gesamtverantwortung für die Erfüllung der gesetzlichen Aufgaben und die Planungsverantwortung wahrnehmen (vgl. BVerwG, Urt. v. 18.10.2012 - 5 C 21.11 -, juris).

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Der Senat teilt die Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass diese auch vom Bundesverwaltungsgericht zur Begründung seiner Auffassung über eine vor Beginn der Hilfegewährung erforderliche Antragstellung im Kinder- und Jugendhilferecht herangezogenen Überlegungen im vorliegenden Fall das Erfordernis einer vorherigen Antragstellung als materiellrechtliche Voraussetzung für die begehrte Übernahme des Elternbeitrages für den Monat Januar 2010 nicht begründen kann.

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Das Kind der Klägerin hatte in dem streitgegenständlichen Zeitraum nach § 24 Abs. 1 SGB VIII einen Anspruch auf den Besuch der Kindertageseinrichtung. Zudem hatte die Klägerin als Erziehungsberechtigte selbst die entsprechende Kindertageseinrichtung wählen dürfen, ohne dabei den Beklagten als Träger der öffentlichen Jugendhilfe beteiligen zu müssen. Nach § 3 Abs. 1 KiFöG hat jedes Kind mit gewöhnlichem Aufenthalt im Land Sachsen-Anhalt bis zur Versetzung in den 7. Schuljahrgang grundsätzlich einen Anspruch auf einen ganztägigen Platz in einer Tageseinrichtung. Der Anspruch richtet sich regelmäßig gegen die Gemeinde, in der das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Der Anspruch gilt als erfüllt, wenn ein Platz in einer für Kinder zumutbar erreichbaren Tageseinrichtung angeboten wird. Bei Kindern bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres gilt der Anspruch auch als erfüllt, wenn eine Tagespflegestelle (§ 4 Abs. 3 und § 6 KiFöG) angeboten wird. Die Leistungsberechtigten nach § 3 KiFöG haben gemäß § 3 b KiFöG das Recht, im Rahmen freier Kapazitäten zwischen den verschiedenen Tageseinrichtungen am Ort ihres gewöhnlichen Aufenthaltes oder an einem anderen Ort zu wählen. Sie sind von der Leistungsverpflichteten auf dieses Recht hinzuweisen. Der Wahl soll entsprochen werden, sofern dies nicht mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden ist.

29

Diese vorgenannten gesetzlichen Bestimmungen belegen, dass jedenfalls beim Besuch einer Kindertageseinrichtung durch Kinder ab Vollendung des dritten Lebensjahres kein Raum für ein steuerndes Einwirken des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe ist. Gibt das Gesetz dem Kind einen Anspruch auf den Besuch einer Kindertageseinrichtung, so besteht auch unter dem Gesichtspunkt einer Übernahme der Teilnahmebeiträge durch den Träger der öffentlichen Jugendhilfe keine Notwendigkeit, diesen von Anfang an in die Hilfesuche des Leistungsberechtigten einzubeziehen. Die Übernahme des Elternbeitrages spielt für die Frage der Gewährung von Leistungen der Jugendhilfe in Gestalt der Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen bei entsprechendem Anspruch auf den Besuch eines Kindergartens (§ 2 Abs. 2 Nr. 3, § 24 Satz 1 SGB VIII keine Rolle. Der Anspruch auf Besuch einer Kindertageseinrichtung besteht unabhängig von einer Entscheidung über die Übernahme von Teilnahmebeiträgen. Eine Hilfesuche in dem vom Bundesverwaltungsgericht verstandenen Sinne im Kinder- und Jugendhilferecht findet hier gerade nicht statt. Die aus §§ 36a, 79 Abs. 1 SGB VIII folgende Gesamtverantwortung des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe und dessen Planungsverantwortung wird im Falle eines Anspruchs auf den Besuch einer ohne Mitwirkung des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe vom Leistungsberechtigten bzw. dessen Sorgeberechtigten bestimmten Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe nicht berührt. Hier reduziert sich ausnahmsweise die Aufgabe des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe auf eine Kostenträgereigenschaft (so auch SächsOVG, Urt. v. 21.12.2006, a. a. O.; a. A. OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 14.03.2006 - 6 M 6.06 -).

30

Diesem Ergebnis steht auch nicht der sozialhilferechtliche Grundsatz „Keine Sozialhilfe für die Vergangenheit“ entgegen. Von diesem Grundsatz hatte das Bundesverwaltungsgericht in seiner Rechtsprechung dem jeweiligen Gesetzeszweck entsprechend Ausnahmen zugelassen (vgl. BVerwG, Urt. v. 05.06.1997 - 5 C 13.96 -, juris). So setzte die Verpflichtung des zuständigen Trägers der Sozialhilfe zur Übernahme der Kosten einer bereits durchgeführten Bestattung nach § 15 BSHG (nur) voraus, dass dem Verpflichteten die Kostentragung der erforderlichen Kosten nicht „zugemutet“ werden kann. Dieser Anspruch auf Kostenübernahme unterschied sich daher von den typischen Fällen der Hilfe zum Lebensunterhalt. Hinsichtlich der allgemeinen sozialhilferechtlichen Anspruchsvoraussetzungen stellte das Gesetz nämlich nicht auf die Bedürftigkeit ab, sondern verwendete die eigenständige Leistungsvoraussetzung der Unzumutbarkeit. Da § 15 BSHG den Sozialhilfeträger nicht wie bei der Hilfe zum Lebensunterhalt zu einer (umfassenden) Bedarfsdeckung, sondern nur zur Übernahme der „erforderlichen“ Kosten verpflichtete, war die Unterrichtung des Sozialhilfeträgers auch unter (haushaltsrechtlichen) Sparsamkeitsgesichtspunkten nicht notwendig. Diese Erwägungen sind auch auf die Auslegung von § 90 Abs. 3 SGB VIII übertragbar, da auch dort nicht auf eine Bedarfsdeckung und eine „Bedürftigkeit“ des Hilfeempfängers, sondern die zu gewährende Leistung auf die (begrenzte) Übernahme eines Teilnahmebeitrages beschränkt ist und wie in § 15 BSHG nicht auf eine Bedürftigkeit des Hilfeempfängers, sondern auf die Unzumutbarkeit der Kostentragung abgestellt wird.

31

Aus den vorgenannten Ausführungen ergibt sich auch, dass der Beklagte dem Anspruch der Klägerin nicht die Regelung in § 7 Abs. 2 Satz 1 der Satzung zur Regelung der ganzen oder teilweisen Übernahme der Elternbeiträge für die Betreuung von Kindern in Tageseinrichtungen und in Tagespflege im Salzlandkreis vom 17. Dezember 2008 entgegenhalten kann, welche vorsieht, dass die Übernahme der Kinderbetreuungskosten ab dem Ersten des Monats beginnt, in dem der Antrag beim örtlichen Träger der öffentlichen Jugendhilfe gestellt wurde. Diese Satzungsbestimmung kann den bundesrechtlichen Anspruch der Klägerin auf Übernahme des Elternbeitrages nicht beschränken. § 90 Abs. 3 SGB VIII enthält - anders als § 90 Abs. 4 SGB VIII - keinen Vorbehalt zugunsten des Landesrechts. Der Landesgesetzgeber und der kommunale Satzungsgeber sind daher nicht befugt, den durch § 90 Abs. 3 SGB VIII vermittelten Anspruch einzuschränken (so auch OVG Bremen, Urt. v. 23.01.2013 - 2 A 288/10 -, juris).

32

Auch der Umstand, dass der Beklagte in dem Bescheid vom 15. September 2009 auf die Notwendigkeit eines (rechtzeitig) gestellten Folgeantrages hingewiesen hatte, steht dem geltend gemachten Anspruch nicht entgegen, da dieser Hinweis auf einer nicht zutreffenden Rechtsauffassung beruht und dem gesetzlich begründeten Anspruch nicht entgegen gehalten werden kann.

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Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 2, 188 Satz 2 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf den §§ 167 VwGO, 708 Nr. 10, 711 ZPO.

34

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 132 Abs. 2 VwGO) liegen nicht vor.


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