Beschluss vom Pfälzisches Oberlandesgericht Zweibrücken (1. Strafsenat) - 1 Ws 278/21
Tenor
1. Auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten wird der Beschluss der 5. Strafkammer des Landgerichts Landau in der Pfalz vom 8. Oktober 2021 aufgehoben.
2. Der Antrag des Verurteilten auf Beiordnung von Rechtsanwalt Y als Pflichtverteidiger im Beschwerdeverfahren vor dem Landgericht über den Bewährungswiderruf (5 Qs 68/20) wird abgelehnt.
3. Der Verurteilte hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens sowie die ihm entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Gründe
I.
- 1
Das Amtsgericht Germersheim verurteilte den Beschwerdeführer am 29. Juli 2019 wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis zu einer Freiheitsstrafe von 5 Monaten unter Strafaussetzung zur Bewährung. Mit Beschluss vom 27. Mai 2020 widerrief es die Strafaussetzung aufgrund erneuter Straffälligkeit in der Bewährungszeit. Hiergegen wendete sich der Beschwerdeführer mit Schreiben seines Verteidigers vom 6. Juli 2020, in welchem dieser auch die Beiordnung als Pflichtverteidiger beantragte. Mit weiterem anwaltlichem Schreiben vom 21. Oktober 2020 nahm der Beschwerdeführer sodann seine sofortige Beschwerde gegen den Widerrufsbeschluss zurück, bevor über den Beiordnungsantrag entschieden worden war. Nachdem der Verteidiger am 20. September 2021 an die Entscheidung über seinen Antrag erinnerte, hat die 5. Strafkammer des Landgerichts Landau mit dem nunmehr angegriffenen Kammerbeschluss vom 8. Oktober 2021, dem Verteidiger zugestellt am 15. Oktober 2021, die Pflichtverteidigerbestellung abgelehnt. Gegen diese Entscheidung wendet sich der Beschwerdeführer mit seiner sofortigen Beschwerde vom 20. Oktober 2021.
II.
- 2
Die sofortige Beschwerde ist zulässig, hat jedoch im Ergebnis nicht den von dem Beschwerdeführer angestrebten Erfolg.
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Der Beschluss der Strafkammer war aufzuheben, da für die Entscheidung über den Beiordnungsantrag nicht die Kammer, sondern gem. § 142 Abs. 3 Nr. 3 StPO der Vorsitzende zuständig ist. Die Entscheidung des Kollegialgerichts anstelle des Vorsitzenden ist angesichts der eindeutigen gesetzlichen Regelung auch nicht als rechtlich unschädlich anzusehen. Eine Auffangzuständigkeit des gesamten Spruchkörpers ist für die Entscheidungen über die Pflichtverteidigerbestellung, anders als etwa in den Fällen verfahrensleitender Anordnungen des Vorsitzenden (§ 238 Abs. 2 StPO), gerade nicht vorgesehen. Auch der Verweis auf eine höhere Richtigkeitsgewähr einer Entscheidung des gesamten Spruchkörpers greift nicht durch, da im Einzelfall die Möglichkeit besteht, dass der an sich allein zuständige Vorsitzende überstimmt und der Betroffene damit seinem gesetzlichen Richter entzogen wird (OLG Bamberg, Beschluss vom 08.04.2021 - 1 Ws 195/21; OLG Hamm, Beschluss vom 10.12.2013 - III-1 Ws 562/13; OLG Rostock, Beschluss vom 19.04.2005 - I Ws 158/05; alle zitiert nach juris; KK/Schultheis, StPO, § 126, Rn. 13). Da das eingelegte Rechtsmittel aber zu einer vollständigen sachlichen Überprüfung der angefochtenen Entscheidung durch das Beschwerdegericht führt, ist eine Zurückverweisung der Sache nicht veranlasst; vielmehr hat der Senat gem. § 309 Abs. 2 StPO die in der Sache erforderliche Entscheidung selbst zu treffen (vgl. Senatsbeschluss vom 24.08.2021 - 1 Ws 170/21; Meyer-Goßner/Schmitt, 64. Aufl., StPO, § 309, Rn.6; OLG Bamberg, aaO. m. w. N.).
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Im Ergebnis ist die angefochtene Entscheidung jedoch nicht zu beanstanden. Die Voraussetzungen für die Beiordnung eines Pflichtverteidigers im Beschwerdeverfahren über den Bewährungswiderruf sind nicht gegeben.
- 5
Es kann dahinstehen, ob die rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers nach der Reform des § 140 Abs. 2 StPO durch das Gesetz zur Neuregelung der notwendigen Verteidigung (BT-Drucksache 19/13829 sowie 19/15151) nunmehr möglicherweise nicht mehr ausgeschlossen ist (befürwortend Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 142 Rn 20; befürwortend für den Fall einer (wesentlichen) Verzögerung durch das entscheidende Gericht: OLG Bamberg, Beschluss vom 29.04.2021 - 1 Ws 260/21 im Anschluss an OLG Nürnberg, Beschluss vom 06.11.2020 - Ws 962/20, juris; LG Frankenthal Beschlüsse vom 02.02.2021 - 1 Qs 16/21 und vom 16.06.2020 - 7 Qs 114/20, juris; LG Flensburg, Beschluss vom 09.12.2020 - II Qs 43/20, juris Rn 8; LG Hechingen, Beschluss vom 20.05.2020 - 3 Qs 35/20, juris Rn 12 f.; LG Mannheim, Beschluss vom 26.03.2020 - 7 Qs 11/20, juris; weiterhin ablehnend: OLG Braunschweig, Beschluss vom 02.03.2021 - 1 Ws 12/21 mit Verweis auf BGH, Beschluss vom 18.08.2020 - StB 25/20; Hanseatisches Oberlandesgericht Hamburg, Beschluss vom 16.09.2020 - 2 Ws 112/20, juris; Hanseatisches Oberlandesgericht Bremen, Beschluss vom 23.09.2020 - 1 Ws 120/20; KK-StPO/Willnow, 8. Aufl., StPO, § 141 Rn. 12).
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Vorliegend hat der Antrag des Verurteilten auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers jedenfalls deshalb keinen Erfolg, da ein Fall der notwendigen Verteidigung gemäß § 140 Abs. 2 StPO nicht gegeben war.
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Im Vollstreckungsverfahren, wozu auch das Verfahren über den Bewährungswiderruf gehört, liegt in entsprechender Anwendung von § 140 Abs. 2 StPO ein Fall notwendiger Verteidigung dann vor, wenn die Schwere der Tat oder die Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage oder die Unfähigkeit des Verurteilten, seine Rechte sachgemäß wahrzunehmen, dies gebieten. Es ist insoweit allerdings nicht auf die Schwere oder die Schwierigkeit im Erkenntnisverfahren, sondern auf die Schwere des Vollstreckungsfalles für den Verurteilten oder auf besondere Schwierigkeiten der Sach- oder Rechtslage im Vollstreckungsverfahren abzustellen (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 140 Rn. 34 m.w.N.). Für Entscheidungen über die Frage der Strafrestaussetzung zur Bewährung sieht das Vollstreckungsverfahren ein Beschlussverfahren vor (§ 454 Abs. 1 StPO), das nicht in gleicher Weise wie das Erkenntnisverfahren kontradiktorisch ausgestaltet ist, weshalb die Voraussetzungen für die Bestellung eines Pflichtverteidigers einschränkend auszulegen sind und eine Entscheidung von Fall zu Fall zu erfolgen hat (BVerfG, Beschluss vom 02.05.2002 - 2 BvR 613/02, juris Rn.11). Bei der Entscheidung, ob wegen der Schwere des Vollstreckungsfalles ein Pflichtverteidiger beizuordnen ist, hat die Dauer der nach einem Bewährungswiderruf (noch) zu vollstreckenden
Strafe außer Betracht zu bleiben (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 03.12.2019 - 2 Ws 352/19, 2 Ws 355/19, juris Rn.13; Beschluss vom 10.09.2019 - 2 Ws 258/19, 2 Ws 273/19, juris Rn.27; OLG Hamm, Beschluss vom 17.04.2001 - 2 Ws 85/01, juris Rn.20).
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Im vorliegenden Verfahren war der angefochtene Widerruf auf erneute Straffälligkeit in der Bewährungszeit gestützt, wobei das Amtsgericht die auf einer geständigen Einlassung des Verurteilten beruhende, zum damaligen Zeitpunkt nicht rechtskräftige, Entscheidung des Amtsgerichts Germersheim vom 19. Februar 2020 ebenso berücksichtigt hat wie drei weitere Anklagen der Staatsanwaltschaft Landau in der Pfalz (vom 20.02.2020 - 7133 Js 1543/20, vom 10.03.2020 - 7133 Js 13365/19, vom 06.04.2020 - 7101 Js 217/20). Die Sach- und Rechtslage gestaltete sich einfach und auch Anhaltspunkte für eine eingeschränkte Verteidigungsfähigkeit des Verurteilten waren weder ersichtlich noch vorgetragen. Unter diesen Umständen bestand keine Notwendigkeit für die Beiordnung eines Pflichtverteidigers. Dass dem Verurteilten möglicherweise eine Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe drohte, die in ihrer Dauer ein Jahr überschreiten würde, war gemessen an den oben angeführten Voraussetzungen für die Beiordnung im Vollstreckungsverfahren unerheblich.
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Dies steht auch nicht im Widerspruch zur Entscheidung des Senats vom 4. Februar 2021 (1 Ws 401/20), welche sich mit der Notwendigkeit der Pflichtverteidigerbestellung bei einer (durch nachträgliche Gesamtstrafenbildung) zu erwartenden Gesamtfreiheitsstrafe von mehr als 18 Monaten befasste. Anders als im vorliegenden Fall ging es hierbei um die Frage der Beiordnung eines Pflichtverteidigers im Erkenntnisverfahren.
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Die Kostenentscheidung folgt § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO.
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