Urteil vom Verwaltungsgericht Freiburg - 4 K 1608/21

Tenor

Der Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger zu 3 jugendhilferechtliche Eingliederungshilfe in Form einer qualifizierten Assistenz zu bewilligen.

Die Klagen der Kläger zu 1 und 2 werden abgewiesen.

Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers zu 3. Die Kläger zu 1 und 2 tragen die Hälfte der außergerichtlichen Kosten des Beklagten. Im Übrigen tragen die Beteiligten ihre außergerichtlichen Kosten selbst.

Tatbestand

Die Kläger verlangen von dem Beklagten die Bewilligung von Unterstützungsleistungen durch eine pädagogische Fachkraft.
Der Kläger zu 1 und 2 sind die Eltern des am X geborenen Klägers zu 3. Dieser leidet an frühkindlichem Autismus (ICD-10: F84.0), einer Chromosomenanomalie, einer Sehbehinderung, einer muskulären Hypotonie und einer neuromuskulären Kyphoskoliose.
In dem Arztbrief der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter des Universitätsklinikums X vom 10.01.2013 wird ausgeführt: Die tiefgreifende Entwicklungsstörung im Sinne eines frühkindlichen Autismus begründe eine seelische Behinderung. Von einer Intelligenzdiagnostik werde abgesehen, da eine solche aufgrund der autistischen Symptomatik nicht möglich sei.
In dem Arztbrief der Universitätsklinik X vom 19.06.2018 wird folgender Befund dokumentiert: Der Kläger zu 3 könne nur einzelne Silben sprechen und mache sich vor allem durch Lautieren und Gestik bemerkbar. In der Untersuchungssituation sei es nicht möglich, mit ihm Kontakt aufzunehmen. Auch auf Ansprache wende er sich nicht zu und nehme keinerlei Blickkontakt auf. Hinweise auf Stereotypien mit Drehen von Gegenständen sowie Wiederholungen von Handlungen. Einschränkungen der sozialen Interaktion mit wenigen Sozialkontakten und wenig Gespür für sozialangemessenes Verhalten. Im Alltag sei eine permanente Betreuung notwendig. Ohne Betreuung bestehe wegen Gefahrenblindheit eine Eigengefährdung.
Mit Schreiben vom 21.09.2020, eingegangen am 29.09.2020, beantragten die Kläger Hilfe zur Erziehung in Form einer Erziehungsbeistandschaft. Bei dem Kläger zu 3 bestehe eine dauerhafte Abweichung der seelischen Gesundheit mit der Folge einer nachhaltigen Beeinträchtigung am gesellschaftlichen Leben. Er benötige eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung, die sie - die Kläger zu 1 und 2 - physisch und psychisch überlaste; eine ausreichende Teilhabe und soziale Integration könnten sie nicht leisten. Deshalb benötigten sie die Unterstützung einer pädagogischen Fachkraft, die an den konkreten Schwierigkeiten und Bedürfnissen des Kindes anknüpfen und das soziale Umfeld miteinbeziehen solle, etwa bei der Integration in sportliche und musische Gruppen, da das Kind im Kontakt mit anderen Menschen Hilfe benötige und aufgrund seiner Behinderung nicht die Möglichkeit habe, mit anderen Kindern zu spielen.
In einem Gesprächsvermerk des Kommunalen Sozialen Dienstes (KSD) des Beklagten vom 11.10.2020 wird festgestellt, dass die Kläger zu 1 und 2 psychisch und physisch überlastet seien. Sie wünschten sich für ihr Kind eine fachkompetente Unterstützung, um mit ihm Hausaufgaben zu machen und ihn etwa zu einer integrativen Sportgruppe oder einer Musikgruppe zu begleiten.
In einer Aktennotiz des KSD des Beklagten vom 30.11.2020 wird ausgeführt: Die Klägerin zu 1 gehe mit dem Kind einmal wöchentlich zur Physiotherapie und zur Logopädie. Außerhalb der Schule werde das Kind von den Eltern - häufig von der Mutter allein - durchgehend versorgt und betreut. Das Kind benötige permanent die Anwesenheit einer vertrauten erwachsenen Person. Die Klägerin zu 1 sei sehr erschöpft und häufig nicht in der Lage, mit ihm Unternehmungen zu tätigen. Die Kontaktaufnahme zu anderen Kindern benötige viel Zeit und Unterstützung. Es sei nahezu unmöglich, im privaten Bereich sozialen Kontakt zu Gleichaltrigen aufzubauen und zu pflegen. Das Kind sei stets auf Hilfestellung angewiesen. Er zeige Interesse an anderen Kindern, wisse jedoch nicht, wie er Kontakt aufbauen soll. Er sei in seiner Teilhabe durch die bestehende Behinderung stark eingeschränkt. Dies betreffe insbesondere die Lebensbereiche Kommunikation, Selbstversorgung, interpersonelle Interaktion und Beziehung, Schule und Freizeit. Aus fachlicher Sicht ergebe sich im häuslichen Bereich ein Unterstützungsbedarf im Umfang von sieben Stunden wöchentlich.
Mit Bescheid vom 22.01.2021 lehnte der Beklagte den Antrag der Kläger vom 21.09.2020 auf der Grundlage des SGB IX ab. Zur Begründung führte er aus: Bei dem Kind liege eine Mehrfachbehinderung vor, weshalb es sich bei der gewünschten Maßnahme um Eingliederungshilfe zur soziale Teilhabe nach § 113 SGB IX in Form von Assistenzleistungen durch den Einsatz einer qualifizierten Fachkraft handele. Die Bedarfsermittlung habe einen Unterstützungsbedarf in Form einer Assistenzleistung von sieben Stunden pro Woche ergeben. Nach den §§ 136 ff. SGB IX sei für Leistungen der Sozialen Teilhabe ein Beitrag aus Einkommen und Vermögen zu erbringen. Das Vermögen der Kläger übersteige die Vermögensfreigrenze des § 139 SGB.
Auf gesonderten Antrag bewilligte der Beklagte durch Bescheide vom 01.02.2021 und 01.03.2021 dem Kläger zu 3 Eingliederungshilfe in Form einer Schulbegleitung auf Grundlage des SGB IX rückwirkend ab dem 14.09.2020, die bis heute fortbesteht. Zur Begründung heißt es, ein Beitrag aus Einkommen und Vermögen sei gemäß § 140 Abs. 3, § 138 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX für diese Leistung von den Klägern nicht zu erbringen.
10 
Mit Bescheid vom 04.02.2021 lehnte der Beklagte den Antrag der Kläger vom 21.09.2020 auf Grundlage des SGB VIII mit der Begründung ab, Hilfe zur Erziehung in Form einer Erziehungsbeistandschaft (§ 27, § 30 SGB VIII) sei keine geeignete Leistung. Ein Erziehungsdefizit seitens der Eltern, welches Voraussetzung für den Anspruch auf Hilfe zur Erziehung sei, liege nicht vor.
11 
Gegen diesen Bescheid erhoben die Kläger unter dem 12.02.2021 Widerspruch, den der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 28.04.2021 zurückwies. Er führte aus: Voraussetzung für die Gewährung einer Hilfe zur Erziehung sei eine Mangelsituation im Hinblick auf das erzieherische Verhalten der Eltern, die nach den Feststellungen des Kommunalen Sozialen Dienstes nicht vorliege. Des Weiteren gingen nach § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII die Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem SGB IX für junge Menschen mit körperlichen oder geistigen Behinderungen den Leistungen nach dem SGB VIII vor. Die hierfür geforderte Leistungskongruenz sei gegeben, weil die beantragte Unterstützung sowohl in Form einer Erziehungsbeistandschaft gemäß § 30 SGB VIII als auch als Assistenzleistung gemäß § 78 SGB IX erfolgen könne. Beide Leistungen hätten als Ziel, die Verselbstständigung bzw. die eigenständige Alltagsbewältigung durch Hilfestellung bzw. Bewältigung von Problemen im sozialen Umfeld bzw. bei der Teilhabe im gemeinschaftlichen und kulturellen Leben zu ermöglichen.
12 
Die Kläger zu 1 und 2 haben am 24.05.2021 Klage erhoben. Zur Begründung tragen sie vor: Für die Frage, ob ein Vorrang der Leistungen des SGB IX bestehe, komme es nicht darauf an, welche Erkrankungen, sondern welche Leistungen miteinander konkurrierten. Die beantragte Leistung nach § 30 SGB VIII reagiere auf den Bedarf infolge einer seelischen Erkrankung in Form des frühkindlichen Autismus. Insofern komme es nicht zu einer Leistungskonkurrenz.
13 
In dem Arztbrief des Klinikums X vom 18.06.2021 wird ausgeführt, dass die Kyphoskoliose des Klägers zu 3 neben den bestehenden krankengymnastischen Maßnahmen (auch unter Nutzung von Klettern) eine weitere Therapie erforderlich mache; zunächst werde der Versuch eines Korsetts unternommen. In dem Untersuchungsbericht der Klinik für Augenheilkunde des Universitätsklinikums X vom 06.08.2021 wird festgestellt, dass der Kläger zu 3 am linken Auge blind sei und sich das Sehvermögen auch operativ nicht mehr verbessern lasse. Der behandelnde Kinderarzt hob in seiner Stellungnahme vom 06.09.2021 hervor, dass ein zusätzlicher Unterstützungsbedarf dringend indiziert sei, weil aufgrund der Skoliose und des Autismus ein sehr großer Unterstützungsbedarf bestehe, den die Eltern wegen Überlastung momentan alleine nicht leisten könnten.
14 
In der mündlichen Verhandlung ist der Kläger zu 3 dem Verfahren unter Erweiterung des Klagebegehrens mit Zustimmung des Beklagten beigetreten.
15 
Die Kläger zu 1 und 2 beantragen,
16 
den Bescheid des Beklagten vom 04.02.2021 und dessen Widerspruchsbescheid vom 28.04.2021 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, ihnen eine Erziehungsbeistandschaft zu bewilligen.
17 
Der Kläger zu 3 beantragt,
18 
den Beklagten zu verpflichten, ihm die begehrte Maßnahme als Eingliederungshilfe zu gewähren.
19 
Der Beklagte beantragt,
20 
die Klagen abzuweisen.
21 
Zur Begründung führt er aus: Voraussetzung für das Rangverhältnis nach § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII sei nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, dass sowohl ein Anspruch auf Jugendhilfe als auch ein Anspruch auf Sozialhilfe (bzw. Schwerbehindertenhilfe) gegeben sei und beide Leistungen gleich, gleichartig, einander entsprechend, kongruent, einander überschneidend oder deckungsgleich seien. Mithin komme es nicht auf die Konkurrenz der Erkrankungen, sondern lediglich auf die Kongruenz der Leistung an, die bei Erziehungsbeistandschaft und Assistenzleistungen gegeben sei.
22 
Wegen der weiteren Einzelheiten zum Sach- und Streitstand wird auf die Verwaltungsakten und die gewechselten Schriftsätze verwiesen.

Entscheidungsgründe

23 
Die Klagen sind zulässig, aber nur im tenorierten Umfang begründet.
24 
I. Die Klagen sind als Verpflichtungsklagen (§ 42 Abs. 1 Alt. 2 VwGO) staathaft. Die Klage des Klägers zu 3 ist im Übrigen als Untätigkeitsklage (§ 75 Satz 1 VwGO) zulässig.
25 
Den Antrag vom 21.09.2020 hat der Beklagte zurecht - nach dem Meistbegünstigungsprinzip (vgl. etwa BSG, Urteil vom 06.04.2011 - B 4 AS 119/10 R -, juris Rn. 29 m.w.N.) auch als Antrag des Klägers zu 3 auf Bewilligung von Eingliederungshilfe ausgelegt, aber hierüber nur auf Grundlage des SGB IX entschieden. Eine Entscheidung darüber, ob dem Kläger zu 3 ein Anspruch auf die begehrte Leistung als Maßnahme der jugendhilferechtlichen Eingliederungshilfe gemäß § 35a SGB VIII zusteht, hat der Beklagte aber ohne ersichtlichen Grund nicht getroffen.
26 
Die Klagen sind auch sonst zulässig. Insbesondere hat der Beklagte der Klageerweiterung in der mündlichen Verhandlung gemäß § 91 Abs. 1 VwGO zugestimmt.
27 
II. Die Klagen der Kläger zu 1 und 2 sind nicht begründet. Sie haben keinen Anspruch auf Hilfe zur Erziehung in Form einer Erziehungsbeistandschaft gemäß § 27 Abs. 1 i.V.m. § 30 SGB VIII. Soweit diese Leistung vom Beklagten abgelehnt wurde, sind der Bescheid des Beklagten vom 04.02.2021 und dessen Widerspruchsbescheid vom 28.04.2021 rechtmäßig und verletzen die Kläger zu 1 und 2 nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
28 
Ein Anspruch auf Hilfe zur Erziehung setzt gemäß § 27 Abs. 1 SGB VIII voraus, dass eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist. Dies ist der Fall, wenn ein erzieherischer Bedarf des Kindes vorliegt und diese Mangellage durch die Erziehungsleistung der Personensorgeberechtigten nicht behoben wird. Es kommt also zwar auf einen (objektiven) Mangel an und nicht auf einen (subjektiven) Makel in der Person des Erzogenen oder des Erziehenden, jedoch muss es sich um einen objektiven Ausfall von Erziehungsleistungen der Eltern handeln. Für die Leistungsgewährung genügt nicht jede beliebige Mangelsituation im Sozialisationsumfeld eines Kindes oder eines Jugendlichen. Vorrausetzung ist ein spezifisch erzieherischer Bedarf infolge eines Erziehungsdefizits. Die Hilfe zur Erziehung ist eine die elterliche Erziehung ergänzende und unterstützende, diese notfalls auch ersetzende Hilfe und steht deswegen nach § 27 SGB VIII dem Personensorgeberechtigten und (nicht dem Kind bzw. dem Jugendlichen selbst) zu (vgl. BVerwG, Beschluss vom 12.07.2005 - 5 B 56.05 -, juris Rn. 5; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 22.09.2011 - 12 A 1596/10 -, juris Rn. 18, 23).
29 
Das Erfordernis eines Erziehungsdefizits folgt neben dem Wortlaut auch daraus, dass der Gesetzgeber die bis dahin in § 27 Abs. 4 SGB VIII angesiedelte und als Anspruch der Personensorgeberechtigten ausgestaltete Eingliederungshilfe zum 01.04.1993 ((BGBl. I, 237 ff.) von der Hilfe zur Erziehung gelöst und mittels des neuen § 35a SGB VIII als eigenen Anspruch des seelisch behinderten Kindes bzw. Jugendlichen geregelt hat (vgl. - mit Nachweisen aus der Gesetzesbegründung - VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 06.04.2005 - 9 S 2633/03 -, juris Rn. 22 f.). Während im Rahmen des § 27 SGB VIII ausschließlich darauf abzustellen ist, ob ein objektiver Ausfall von Erziehungsleistungen der Eltern vorliegt, kommt es für § 35a SGB VIII darauf an, ob aufgrund der Teilhabebeeinträchtigung infolge einer seelischen Behinderung ein Unterstützungsbedarf besteht. Die Schaffung des neuen Leistungstatbestandes der Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche in § 35a SGB VIII wollte dem Umstand Rechnung tragen, dass der Teilhabebeeinträchtigung eines seelisch behinderten Kindes oder Jugendlichen nicht in jedem Fall ein erzieherisches Defizit zugrunde liegt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 12.07.2005 - 5 B 56.05 -, juris Rn. 6).
30 
Ein Erziehungsdefizit der personensorgeberechtigten Kläger zu 1 und 2 im Sinne des § 27 Abs. 1 SGB VIII liegt nicht vor.
31 
Nach den Feststellungen des Beklagten erfolgt die Betreuung des Kindes außerhalb der Schule ausschließlich durch die Eltern, insbesondere durch die Klägerin zu 1. Aufgrund der tiefgreifenden Entwicklungsstörung des Kindes besteht durchgehend ein hoher Betreuungsbedarf. Die sich hieraus ergebende Überlastung der Eltern und ein deshalb bestehender Unterstützungsbedarf begründen für sich genommen allerdings noch keine erzieherische Mangelsituation. Denn der Hilfebedarf beruht nicht auf einem feststellbaren Erziehungsdefizit der Eltern, sondern auf der großen, permanenten Hilfsbedürftigkeit des Kindes infolge des frühkindlichen Autismus, die wohl bei allen Eltern zu einer Überlastung und einem Bedarf an (externer) Unterstützung führen würde. Dafür, dass daneben auch ein erzieherischer Mangel der Eltern vorliegt, ist in den Akten nichts ersichtlich. Auch die Kläger haben hierfür nichts vorgetragen. Insbesondere ist der Wunsch nach Hilfe durch eine pädagogische Fachkraft zur Förderung der sozialen Integration des Kindes nicht Ausdruck eines Erziehungsdefizits, sondern zielt im Gegenteil auf eine „bestmögliche Förderung“ des Kindes (AS. 43 der Verwaltungsakte). Mit dem festgestellten Hilfebedarf soll dementsprechend auch nicht eine defizitäre Erziehungsleistung der Eltern ausgeglichen, sondern die Teilhabebeeinträchtigung des Kindes abgemildert werden. Dies ist Aufgabe der Eingliederungshilfe (vgl. § 90 SGB IX).
32 
III. Die Klage des Klägers zu 3 ist begründet. Er hat einen Anspruch auf Eingliederungshilfe gemäß § 35a Abs. 1 SGB VIII in Form einer (qualifizierten) Assistenz gemäß § 35a Abs. 3 SGB VIII i.V.m. § 113 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 2, § 78 Abs. 1, Abs. 2 Satz 2 und 3 SGB IX im Umfang von sieben Stunden wöchentlich.
33 
1. Die Voraussetzungen des § 35a Abs. 1 SGB VIII liegen vor. Die bestehende tiefgreifende Entwicklungsstörung des Klägers zu 3 im Sinne eines frühkindlichen Autismus (ICD-10 F 84.0) stellt eine seelische Behinderung dar (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 15.03.2016 - L 20 SO 545/11 - juris Rn. 110; LSG Bayern, Beschluss vom 21.01.2015 - L 8 SO 316/14 B ER - juris Rn. 38), die zu einer Teilhabebeeinträchtigung führt. Dies ist nach Aktenlage offenkundig und wurde von dem Beklagten nicht in Zweifel gezogen.
34 
2. Es besteht ein Hilfebedarf im häuslichen Bereich in Form einer qualifizierten Assistenz im Umfang von sieben Stunden wöchentlich.
35 
Eingliederungshilfe wird gemäß § 35a Abs. 2 SGB VIII nach dem Bedarf im Einzelfall geleistet. Hinsichtlich der Form der Leistung verweist § 35a Abs. 3 SGB VIII u.a. auf § 113 SGB IX, der Assistenzleistungen als Leistungen zur sozialen Teilhabe nennt (Abs. 2 Nr. 2) und insoweit auf § 78 SGB IX verweist (Abs. 3). Gemäß § 78 Abs. 2 SGB IX umfassen Assistenzleistungen neben der Übernahme von Handlungen zur Alltagsbewältigung und der Begleitung (Nr. 1) auch die Befähigung der Leistungsberechtigten zu einer eigenständigen Alltagsbewältigung (Nr. 2), wobei diese Leistungen von Fachkräften als qualifizierte Assistenz erbracht werden und insbesondere Anleitung und Übung der Verständigung mit der Umwelt umfassen.
36 
Der Beklagte hat für den Kläger zu 3 einen Hilfebedarf in Form einer Assistenzleistung durch eine Fachkraft im Umfang von sieben Stunden pro Woche ermittelt. Insoweit wird auf die Ausführungen im Bescheid vom 22.01.2021 und die Verwaltungsakten verwiesen. Der Bedarfsfeststellung des Beklagten sind die Kläger nicht entgegengetreten.
37 
3. Entgegen der Auffassung des Beklagten steht dem Anspruch auf jugendhilferechtliche Eingliederungshilfe gemäß § 35a SGB VIII nicht entgegen, dass gemäß § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem SGB IX für junge Menschen, die körperlich oder geistig behindert oder von einer solchen Behinderung bedroht sind, den Leistungen nach dem SGB VIII vorgehen.
38 
Zwar besteht bei dem Kläger zu 3 eine körperliche Behinderung und möglicherweise auch eine - soweit ersichtlich bisher nicht ärztlich festgestellte - geistige Behinderung (ICD-10: F70) im Sinn von § 2 Abs. 1 SGB IX. Auch kommt es für § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII nicht darauf an, ob der Schwerpunkt des Bedarfs bzw. des Leistungszwecks in der körperlichen/geistigen oder der seelischen Behinderung liegt. Für den Vorrang des SGB IX ist nicht einmal erforderlich, dass die körperliche und/oder geistige Behinderung für den Hilfebedarf - im Sinne der conditio-sine-qua-non-Formel - mitursächlich ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 09.02.2012 - 5 C 3/11 -, juris Rn. 29 ff.).
39 
Der Vorrang des SGB IX nach § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB gilt aber nur, wenn eine Leistung der Eingliederungshilfe auf Grundlage des SGB IX tatsächlich erbracht wird. Da dem Anspruch auf Assistenzleistungen gemäß § 99 Abs. 1, § 113 Abs. 2 Nr. 2 i.V.m. § 78 SGB IX die Pflicht der Kläger nach § 140 Abs. 1 SGB IX entgegensteht, die erforderlichen Mittel für die Leistung aus ihrem Vermögen aufzubringen, besteht keine Leistung der Eingliederungshilfe nach dem SGB IX, die den Leistungen der Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII vorgeht. Dies ergibt sich aus Folgendem:
40 
§ 10 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII regelt unmittelbar nur das Konkurrenz- bzw. Rangverhältnis konkurrierender Leistungsansprüche der Jugendhilfe und der Sozialhilfe. Sie dient dazu, den vorrangig in der Pflicht stehenden Leistungsträger zu ermitteln, d.h. den primär leistungspflichtigen Schuldner zu bestimmen. Dementsprechend setzt § 10 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII das Bestehen konkurrierender Leistungsansprüche voraus. Denn nur das Nebeneinander inhaltsgleicher oder gleichartiger Ansprüchen gegen unterschiedliche Leistungsträger macht eine Entscheidung darüber erforderlich, wer von ihnen letztlich die Kosten der gewährten Hilfe zu tragen hat. Die Prüfung und Feststellung, ob derartige Ansprüche gegeben sind, ist dem vorgelagert.
41 
Die Vorschrift setzt also voraus, dass sowohl ein Anspruch auf jugendhilferechtliche Eingliederungshilfe als auch ein Anspruch auf sozialhilferechtliche Eingliederungshilfe besteht. In diesem Fall sind - im Interesse des Hilfeempfängers, der hierdurch keinen Nachteil erleiden soll - beide Hilfeträger leistungsverpflichtet (vgl. BVerwG, Urteil vom 09.02.2012 - 5 C 3.11 -, juris Rn. 30 f.). Dem entspricht verfahrensrechtlich, dass sich die Zuständigkeit eines Rehabilitationsträgers i.S.d. § 6 SGB IX gegenüber dem Antragsteller eines Rehabilitationsantrags i.S.d. § 14 SGB IX auf alle Rechtsgrundlagen erstreckt, die in der jeweiligen Bedarfssituation in Betracht kommen; es muss auch geleistet werden, wenn die Behörde für die beantragte Leistung gar nicht Rehabilitationsträger i.S.d. § 6 SGB IX ist (vgl. BSG, Urteil vom 26.06.2007 - B 1 KR 34/06 R -, juris Rn. 27; Urteil vom 20.11.2008 - B 3 KN 4/07 KR R -, juris Rn. 24; Urteil vom 20.10.2009 - B 5 R 5/07 R -, juris Rn. 14 ff.). Der Nachrang des Trägers der Jugendhilfe nach § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII wird allein über eine Kostenerstattung zwischen den verschiedenen Rehabilitationsträgern hergestellt (vgl. BVerwG, Urteil vom 19.10.2011 - 5 C 6/11 -, juris Rn. 16).
42 
Dass § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII gegenüber dem Leistungsberechtigten keine anspruchsausschließende Wirkung zukommen kann, zeigt sich im vorliegenden Fall überdies auch daran, dass anderenfalls gerade die Mehrfachbehinderung des Klägers zu 3 (neben der seelischen Behinderung auch körperliche und möglicherweise geistige Behinderung) dazu führen würde, dass ihm die begehrte Assistenzleistung nicht bewilligt würde. Ein solches Ergebnis wäre mit den einfachgesetzlichen und verfassungsrechtlichen Wertungen kaum zu vereinbaren.
43 
III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1, § 159 Satz 1 VwGO i.V.m. § 100 Abs. 1 ZPO. Gerichtskosten werden gemäß § 188 Satz 2 Halbsatz 1 VwGO nicht erhoben.
44 
Die Voraussetzungen für eine Zulassung der Berufung durch das Verwaltungsgericht (vgl. § 124a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 Nr. 3 und 4 VwGO) liegen nicht vor.

Gründe

23 
Die Klagen sind zulässig, aber nur im tenorierten Umfang begründet.
24 
I. Die Klagen sind als Verpflichtungsklagen (§ 42 Abs. 1 Alt. 2 VwGO) staathaft. Die Klage des Klägers zu 3 ist im Übrigen als Untätigkeitsklage (§ 75 Satz 1 VwGO) zulässig.
25 
Den Antrag vom 21.09.2020 hat der Beklagte zurecht - nach dem Meistbegünstigungsprinzip (vgl. etwa BSG, Urteil vom 06.04.2011 - B 4 AS 119/10 R -, juris Rn. 29 m.w.N.) auch als Antrag des Klägers zu 3 auf Bewilligung von Eingliederungshilfe ausgelegt, aber hierüber nur auf Grundlage des SGB IX entschieden. Eine Entscheidung darüber, ob dem Kläger zu 3 ein Anspruch auf die begehrte Leistung als Maßnahme der jugendhilferechtlichen Eingliederungshilfe gemäß § 35a SGB VIII zusteht, hat der Beklagte aber ohne ersichtlichen Grund nicht getroffen.
26 
Die Klagen sind auch sonst zulässig. Insbesondere hat der Beklagte der Klageerweiterung in der mündlichen Verhandlung gemäß § 91 Abs. 1 VwGO zugestimmt.
27 
II. Die Klagen der Kläger zu 1 und 2 sind nicht begründet. Sie haben keinen Anspruch auf Hilfe zur Erziehung in Form einer Erziehungsbeistandschaft gemäß § 27 Abs. 1 i.V.m. § 30 SGB VIII. Soweit diese Leistung vom Beklagten abgelehnt wurde, sind der Bescheid des Beklagten vom 04.02.2021 und dessen Widerspruchsbescheid vom 28.04.2021 rechtmäßig und verletzen die Kläger zu 1 und 2 nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
28 
Ein Anspruch auf Hilfe zur Erziehung setzt gemäß § 27 Abs. 1 SGB VIII voraus, dass eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist. Dies ist der Fall, wenn ein erzieherischer Bedarf des Kindes vorliegt und diese Mangellage durch die Erziehungsleistung der Personensorgeberechtigten nicht behoben wird. Es kommt also zwar auf einen (objektiven) Mangel an und nicht auf einen (subjektiven) Makel in der Person des Erzogenen oder des Erziehenden, jedoch muss es sich um einen objektiven Ausfall von Erziehungsleistungen der Eltern handeln. Für die Leistungsgewährung genügt nicht jede beliebige Mangelsituation im Sozialisationsumfeld eines Kindes oder eines Jugendlichen. Vorrausetzung ist ein spezifisch erzieherischer Bedarf infolge eines Erziehungsdefizits. Die Hilfe zur Erziehung ist eine die elterliche Erziehung ergänzende und unterstützende, diese notfalls auch ersetzende Hilfe und steht deswegen nach § 27 SGB VIII dem Personensorgeberechtigten und (nicht dem Kind bzw. dem Jugendlichen selbst) zu (vgl. BVerwG, Beschluss vom 12.07.2005 - 5 B 56.05 -, juris Rn. 5; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 22.09.2011 - 12 A 1596/10 -, juris Rn. 18, 23).
29 
Das Erfordernis eines Erziehungsdefizits folgt neben dem Wortlaut auch daraus, dass der Gesetzgeber die bis dahin in § 27 Abs. 4 SGB VIII angesiedelte und als Anspruch der Personensorgeberechtigten ausgestaltete Eingliederungshilfe zum 01.04.1993 ((BGBl. I, 237 ff.) von der Hilfe zur Erziehung gelöst und mittels des neuen § 35a SGB VIII als eigenen Anspruch des seelisch behinderten Kindes bzw. Jugendlichen geregelt hat (vgl. - mit Nachweisen aus der Gesetzesbegründung - VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 06.04.2005 - 9 S 2633/03 -, juris Rn. 22 f.). Während im Rahmen des § 27 SGB VIII ausschließlich darauf abzustellen ist, ob ein objektiver Ausfall von Erziehungsleistungen der Eltern vorliegt, kommt es für § 35a SGB VIII darauf an, ob aufgrund der Teilhabebeeinträchtigung infolge einer seelischen Behinderung ein Unterstützungsbedarf besteht. Die Schaffung des neuen Leistungstatbestandes der Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche in § 35a SGB VIII wollte dem Umstand Rechnung tragen, dass der Teilhabebeeinträchtigung eines seelisch behinderten Kindes oder Jugendlichen nicht in jedem Fall ein erzieherisches Defizit zugrunde liegt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 12.07.2005 - 5 B 56.05 -, juris Rn. 6).
30 
Ein Erziehungsdefizit der personensorgeberechtigten Kläger zu 1 und 2 im Sinne des § 27 Abs. 1 SGB VIII liegt nicht vor.
31 
Nach den Feststellungen des Beklagten erfolgt die Betreuung des Kindes außerhalb der Schule ausschließlich durch die Eltern, insbesondere durch die Klägerin zu 1. Aufgrund der tiefgreifenden Entwicklungsstörung des Kindes besteht durchgehend ein hoher Betreuungsbedarf. Die sich hieraus ergebende Überlastung der Eltern und ein deshalb bestehender Unterstützungsbedarf begründen für sich genommen allerdings noch keine erzieherische Mangelsituation. Denn der Hilfebedarf beruht nicht auf einem feststellbaren Erziehungsdefizit der Eltern, sondern auf der großen, permanenten Hilfsbedürftigkeit des Kindes infolge des frühkindlichen Autismus, die wohl bei allen Eltern zu einer Überlastung und einem Bedarf an (externer) Unterstützung führen würde. Dafür, dass daneben auch ein erzieherischer Mangel der Eltern vorliegt, ist in den Akten nichts ersichtlich. Auch die Kläger haben hierfür nichts vorgetragen. Insbesondere ist der Wunsch nach Hilfe durch eine pädagogische Fachkraft zur Förderung der sozialen Integration des Kindes nicht Ausdruck eines Erziehungsdefizits, sondern zielt im Gegenteil auf eine „bestmögliche Förderung“ des Kindes (AS. 43 der Verwaltungsakte). Mit dem festgestellten Hilfebedarf soll dementsprechend auch nicht eine defizitäre Erziehungsleistung der Eltern ausgeglichen, sondern die Teilhabebeeinträchtigung des Kindes abgemildert werden. Dies ist Aufgabe der Eingliederungshilfe (vgl. § 90 SGB IX).
32 
III. Die Klage des Klägers zu 3 ist begründet. Er hat einen Anspruch auf Eingliederungshilfe gemäß § 35a Abs. 1 SGB VIII in Form einer (qualifizierten) Assistenz gemäß § 35a Abs. 3 SGB VIII i.V.m. § 113 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 2, § 78 Abs. 1, Abs. 2 Satz 2 und 3 SGB IX im Umfang von sieben Stunden wöchentlich.
33 
1. Die Voraussetzungen des § 35a Abs. 1 SGB VIII liegen vor. Die bestehende tiefgreifende Entwicklungsstörung des Klägers zu 3 im Sinne eines frühkindlichen Autismus (ICD-10 F 84.0) stellt eine seelische Behinderung dar (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 15.03.2016 - L 20 SO 545/11 - juris Rn. 110; LSG Bayern, Beschluss vom 21.01.2015 - L 8 SO 316/14 B ER - juris Rn. 38), die zu einer Teilhabebeeinträchtigung führt. Dies ist nach Aktenlage offenkundig und wurde von dem Beklagten nicht in Zweifel gezogen.
34 
2. Es besteht ein Hilfebedarf im häuslichen Bereich in Form einer qualifizierten Assistenz im Umfang von sieben Stunden wöchentlich.
35 
Eingliederungshilfe wird gemäß § 35a Abs. 2 SGB VIII nach dem Bedarf im Einzelfall geleistet. Hinsichtlich der Form der Leistung verweist § 35a Abs. 3 SGB VIII u.a. auf § 113 SGB IX, der Assistenzleistungen als Leistungen zur sozialen Teilhabe nennt (Abs. 2 Nr. 2) und insoweit auf § 78 SGB IX verweist (Abs. 3). Gemäß § 78 Abs. 2 SGB IX umfassen Assistenzleistungen neben der Übernahme von Handlungen zur Alltagsbewältigung und der Begleitung (Nr. 1) auch die Befähigung der Leistungsberechtigten zu einer eigenständigen Alltagsbewältigung (Nr. 2), wobei diese Leistungen von Fachkräften als qualifizierte Assistenz erbracht werden und insbesondere Anleitung und Übung der Verständigung mit der Umwelt umfassen.
36 
Der Beklagte hat für den Kläger zu 3 einen Hilfebedarf in Form einer Assistenzleistung durch eine Fachkraft im Umfang von sieben Stunden pro Woche ermittelt. Insoweit wird auf die Ausführungen im Bescheid vom 22.01.2021 und die Verwaltungsakten verwiesen. Der Bedarfsfeststellung des Beklagten sind die Kläger nicht entgegengetreten.
37 
3. Entgegen der Auffassung des Beklagten steht dem Anspruch auf jugendhilferechtliche Eingliederungshilfe gemäß § 35a SGB VIII nicht entgegen, dass gemäß § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem SGB IX für junge Menschen, die körperlich oder geistig behindert oder von einer solchen Behinderung bedroht sind, den Leistungen nach dem SGB VIII vorgehen.
38 
Zwar besteht bei dem Kläger zu 3 eine körperliche Behinderung und möglicherweise auch eine - soweit ersichtlich bisher nicht ärztlich festgestellte - geistige Behinderung (ICD-10: F70) im Sinn von § 2 Abs. 1 SGB IX. Auch kommt es für § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII nicht darauf an, ob der Schwerpunkt des Bedarfs bzw. des Leistungszwecks in der körperlichen/geistigen oder der seelischen Behinderung liegt. Für den Vorrang des SGB IX ist nicht einmal erforderlich, dass die körperliche und/oder geistige Behinderung für den Hilfebedarf - im Sinne der conditio-sine-qua-non-Formel - mitursächlich ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 09.02.2012 - 5 C 3/11 -, juris Rn. 29 ff.).
39 
Der Vorrang des SGB IX nach § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB gilt aber nur, wenn eine Leistung der Eingliederungshilfe auf Grundlage des SGB IX tatsächlich erbracht wird. Da dem Anspruch auf Assistenzleistungen gemäß § 99 Abs. 1, § 113 Abs. 2 Nr. 2 i.V.m. § 78 SGB IX die Pflicht der Kläger nach § 140 Abs. 1 SGB IX entgegensteht, die erforderlichen Mittel für die Leistung aus ihrem Vermögen aufzubringen, besteht keine Leistung der Eingliederungshilfe nach dem SGB IX, die den Leistungen der Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII vorgeht. Dies ergibt sich aus Folgendem:
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§ 10 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII regelt unmittelbar nur das Konkurrenz- bzw. Rangverhältnis konkurrierender Leistungsansprüche der Jugendhilfe und der Sozialhilfe. Sie dient dazu, den vorrangig in der Pflicht stehenden Leistungsträger zu ermitteln, d.h. den primär leistungspflichtigen Schuldner zu bestimmen. Dementsprechend setzt § 10 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII das Bestehen konkurrierender Leistungsansprüche voraus. Denn nur das Nebeneinander inhaltsgleicher oder gleichartiger Ansprüchen gegen unterschiedliche Leistungsträger macht eine Entscheidung darüber erforderlich, wer von ihnen letztlich die Kosten der gewährten Hilfe zu tragen hat. Die Prüfung und Feststellung, ob derartige Ansprüche gegeben sind, ist dem vorgelagert.
41 
Die Vorschrift setzt also voraus, dass sowohl ein Anspruch auf jugendhilferechtliche Eingliederungshilfe als auch ein Anspruch auf sozialhilferechtliche Eingliederungshilfe besteht. In diesem Fall sind - im Interesse des Hilfeempfängers, der hierdurch keinen Nachteil erleiden soll - beide Hilfeträger leistungsverpflichtet (vgl. BVerwG, Urteil vom 09.02.2012 - 5 C 3.11 -, juris Rn. 30 f.). Dem entspricht verfahrensrechtlich, dass sich die Zuständigkeit eines Rehabilitationsträgers i.S.d. § 6 SGB IX gegenüber dem Antragsteller eines Rehabilitationsantrags i.S.d. § 14 SGB IX auf alle Rechtsgrundlagen erstreckt, die in der jeweiligen Bedarfssituation in Betracht kommen; es muss auch geleistet werden, wenn die Behörde für die beantragte Leistung gar nicht Rehabilitationsträger i.S.d. § 6 SGB IX ist (vgl. BSG, Urteil vom 26.06.2007 - B 1 KR 34/06 R -, juris Rn. 27; Urteil vom 20.11.2008 - B 3 KN 4/07 KR R -, juris Rn. 24; Urteil vom 20.10.2009 - B 5 R 5/07 R -, juris Rn. 14 ff.). Der Nachrang des Trägers der Jugendhilfe nach § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII wird allein über eine Kostenerstattung zwischen den verschiedenen Rehabilitationsträgern hergestellt (vgl. BVerwG, Urteil vom 19.10.2011 - 5 C 6/11 -, juris Rn. 16).
42 
Dass § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII gegenüber dem Leistungsberechtigten keine anspruchsausschließende Wirkung zukommen kann, zeigt sich im vorliegenden Fall überdies auch daran, dass anderenfalls gerade die Mehrfachbehinderung des Klägers zu 3 (neben der seelischen Behinderung auch körperliche und möglicherweise geistige Behinderung) dazu führen würde, dass ihm die begehrte Assistenzleistung nicht bewilligt würde. Ein solches Ergebnis wäre mit den einfachgesetzlichen und verfassungsrechtlichen Wertungen kaum zu vereinbaren.
43 
III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1, § 159 Satz 1 VwGO i.V.m. § 100 Abs. 1 ZPO. Gerichtskosten werden gemäß § 188 Satz 2 Halbsatz 1 VwGO nicht erhoben.
44 
Die Voraussetzungen für eine Zulassung der Berufung durch das Verwaltungsgericht (vgl. § 124a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 Nr. 3 und 4 VwGO) liegen nicht vor.

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