Beschluss vom Verwaltungsgericht Hamburg (15. Kammer) - 15 E 3299/14

Tenor

Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin vom 7. Juli 2014 gegen die Entziehung der Fahrerlaubnis mit Bescheid vom 20. Juni 2014 wird wiederhergestellt.

Die Kosten des Verfahrens trägt die Antragsgegnerin bei einem Streitwert von 2.500,- €.

Gründe

I.

1

Die Antragstellerin begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen die Entziehung ihrer Fahrerlaubnis.

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Die 1979 geborene Antragstellerin verfügte – nach Aktenlage trotz einer im Bundesgebiet bis zum 17. Februar 2008 bestehenden Fahrerlaubnissperre – über eine am 14. März 2007 ausgestellte, unbefristet gültige ausländische Fahrerlaubnis (polnischer EU-Führerschein Klasse B).

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Am Sonntag, dem 23. März 2014 um 02:25 Uhr war die Antragstellerin als Fahrzeugführerin an einem Verkehrsunfall beteiligt. In eine Blutentnahme und Urinprobe willigte sie ein. Deren Untersuchung erbrachte eine Konzentration von ca. 5,7 ng/ml Kokain und 140 ng/ml Benzoylecgonin. Benzoylecgonin ist ein Metabolit des Kokains.

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Gegen die Antragstellerin wird unter dem Az. 760 Js .../14 seitens der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Lübeck (Staatsanwaltschaft) ein Strafverfahren wegen Gefährdung des Straßenverkehrs infolge des Genusses alkoholischer Getränke oder anderer berauschender Mittel geführt.

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Mit Bescheid vom 20. Juni 2014 entzog die Antragsgegnerin der Antragstellerin die Fahrerlaubnis: In ihrer Blutprobe sei Benzoylecgonin festgestellt worden. Hieraus ergebe sich, dass sie Kokain konsumiert habe. Wer diese Substanz einnehme, sei ungeeignet, ein Kraftfahrzeug zu führen. Ferner ordnete die Antragsgegnerin die sofortige Vollziehung des Bescheids mit der Begründung an, dass zum Schutz von Gesundheit und Leben anderer Verkehrsteilnehmer Personen, die zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet seien, unverzüglich von der aktiven, motorisierten Teilnahme am öffentlichen Straßenverkehr ausgeschlossen werden müssten. Die Antragstellerin habe durch das Führen eines Kraftfahrzeugs im öffentlichen Straßenverkehr unter dem Einfluss von harten Drogen ihre Nichteignung bewiesen.

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Am 7. Juli 2014 legte die mittlerweile anwaltlich vertretene Antragstellerin hiergegen Widerspruch ein: Das gegen die Antragstellerin geführte Ermittlungsverfahren wegen des Vorwurfs einer Gefährdung des Straßenverkehrs gemäß § 315c StGB beruhe auf dem identischen Sachverhalt, der auch Grundlage der angegriffenen verkehrsbehördlichen Entscheidung sei. Dies sei jedoch nicht zulässig, da in dem Strafverfahren die Entziehung der Fahrerlaubnis aufgrund von § 69 StGB i.V.m. § 69b StGB in Betracht komme, so dass die Sperrwirkung des § 3 Abs. 3 StVG bestehe.

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Am 8. Juli 2014 hat die Antragstellerin aus denselben Gründen bei Gericht beantragt, die aufschiebende Wirkung ihres Widerspruchs wiederherzustellen sowie die Verpflichtung, den Führerschein der Antragstellerin mit einem Sperrvermerk zu versehen, aufzuheben.

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Die Antragsgegnerin tritt ihrem Begehren entgegen und führt zur Begründung aus: Die Antragstellerin habe Kokain konsumiert. Die Einnahme von Kokain schließe jedoch unabhängig davon, ob ein Kraftfahrzeug unter dem Einfluss der Droge geführt wurde, die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen aus. Besondere Umstände, die eine abweichende Beurteilung im Fall der Antragstellerin rechtfertigen könnten, seien nicht ersichtlich. Der Entziehung der Fahrerlaubnis stehe auch § 3 Abs. 3 StVG nicht entgegen. Diese Regelung diene – ebenso wie die Regelung in § 3 Abs. 4 StVG – dazu, die Entscheidungen der Strafgerichte der Verwaltungsbehörden so aufeinander abzustimmen, dass Doppelprüfungen und einander widersprechende Entscheidungen vermieden würden. Die Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 69 Abs. 1 StGB knüpfe an das Begehen einer rechtswidrigen Tat bei oder im Zusammenhang mit dem Führen eines Kraftfahrzeugs bzw. Verletzungen der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers an. Hierauf komme es hingegen für die streitgegenständliche Entscheidung gar nicht an. Maßgeblich sei hierfür der bloße Konsum des Kokains, da bereits die Einnahme dieser Substanz gemäß der Regelvermutung in Nummer 9.1 der Anlage 4 FeV die Fahrungeeignetheit begründe.

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Laut einer Mitteilung der Staatsanwaltschaft vom 25. August 2014 steht aufgrund eines inzwischen eingeholten Gutachtens des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein fest, dass der Tatbestand der Straßenverkehrsgefährdung nicht verwirklicht wurde, da von einer rauschmittelbedingten relativen Fahruntüchtigkeit der Antragstellerin nicht ausgegangen werden könne. Ermittelt werde jedoch weiterhin wegen des Vorwurfs des Fahrens ohne Fahrerlaubnis.

II.

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Der Antrag der Antragstellerin auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ihres Widerspruchs vom 7. Juli 2014 gegen die für sofort vollziehbar erklärte Entziehung der Fahrerlaubnis führt zum Erfolg.

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Der Antrag ist zulässig; insbesondere kann er bereits vor Erhebung der Anfechtungsklage gestellt werden (§ 80 Abs. 5 Satz 2 VwGO).

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Er erweist sich auch als begründet. Die aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs ist wiederherzustellen, weil der angegriffene Bescheid vom 20. Juni 2014 bei der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nur gebotenen summarischen Prüfung mit überwiegender Wahrscheinlichkeit rechtswidrig sein und die Antragstellerin in ihren Rechten verletzen dürfte. Die von der Antragstellerin geltend gemachten Belange überwiegen deshalb das von der Antragsgegnerin vertretene öffentliche Interesse daran, ihre Teilnahme am Straßenverkehr unverzüglich zu verhindern.

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Die angefochtene Fahrerlaubnisentziehung dürfte hier aufgrund des noch andauernden strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens wegen des Berücksichtigungsverbots des § 3 Abs. 3 StVG (noch) nicht zulässig sein:

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Zwar ist nach § 3 Abs. 1 S. 1 StVG i.V.m § 6 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. c) StVG und § 46 Abs. 1 FeV die Fahrerlaubnisbehörde verpflichtet, eine Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn der Inhaber sich als zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet erweist. Gemäß § 46 Abs. 1 S. 2 FeV gilt dies insbesondere, wenn Erkrankungen oder Mängel nach den Anlagen 4, 5 oder 6 FeV vorliegen. Die Entziehung der Fahrerlaubnis stellt dabei eine gebundene Entscheidung dar; ein Ermessensspielraum wird der Behörde nicht eingeräumt. Nach Nr. 9.1 der Anlage 4 zur FeV stellt es für den Regelfall einen die Fahreignung ausschließenden Mangel dar, wenn der Inhaber einer Fahrerlaubnis Betäubungsmittel im Sinne des BtMG einnimmt. Hiervon ist im Fall der Antragstellerin auch auszugehen. Denn sie muss das Betäubungsmittel Kokain (Anlage 3 zu § 1 Abs. 1 BtMG) aufgenommen haben, da dieses sowie dessen Abbauprodukt Benzoylecgonin in der am 23. März 2014 entnommenen Blutprobe nachgewiesen werden konnte.

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Jedoch steht – jedenfalls gegenwärtig – der Entziehung der Fahrerlaubnis im Fall der Antragstellerin das Berücksichtigungsverbot des § 3 Abs. 3 StVG entgegen. Danach darf die Fahrerlaubnisbehörde einen Sachverhalt, der Gegenstand eines Strafverfahrens ist, in einem Entziehungsverfahren nicht berücksichtigen, solange gegen den Inhaber der Fahrerlaubnis ein Strafverfahren anhängig ist, in dem die Entziehung der Fahrerlaubnis in Betracht kommt. Diese Vorschrift steht in engem Zusammenhang mit der Vorschrift des § 3 Abs. 4 StVG, wonach die Fahrerlaubnisbehörde, wenn sie in einem Entziehungsverfahren einen Sachverhalt berücksichtigen will, der Gegenstand der Urteilsfindung in einem Strafverfahren gegen den Inhaber der Fahrerlaubnis gewesen ist, vom Inhalt des Urteils insoweit nicht abweichen darf, als es sich auf die Feststellung des Sachverhalts oder die Beurteilung der Schuldfrage oder die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen bezieht.

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Beide Vorschriften dienen dazu, Doppelprüfungen und sich widersprechende Entscheidungen der Strafgerichte und der Fahrerlaubnisbehörden zu vermeiden. Es soll verhindert werden, dass derselbe einer Eignungsbeurteilung zugrundeliegende Sachverhalt unterschiedlich bewertet wird; die Beurteilung durch den Strafrichter soll in diesen Fällen den Vorrang haben (vgl. nur BVerwG, Urteil vom 28.06.2012 – 3 C 30/11, juris Rn. 36). § 3 Abs. 3 und 4 StVG dienen mithin demselben Regelungsziel. Das Berücksichtigungsverbot nach § 3 Abs. 3 StVG stellt dabei ein vorübergehendes Verfahrenshindernis dar, das nach Abschluss des Strafverfahrens in das Verbot des § 3 Abs. 4 StVG übergeht (vgl. BVerwG, Urteil vom 28.06.2012, a.a.O.). Dabei stehen beide Regelungen nicht nur der Entziehung der Fahrerlaubnis, sondern auch vorbereitenden Aufklärungsmaßnahmen wie der Anforderung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens entgegen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 19.08.2013 – 10 S 1266/13, juris Rn. 10 f. m.w.N.).

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Im Zeitpunkt der streitgegenständlichen Fahrerlaubnisentziehung vom 20. Juni 2014 war das aufgrund des Vorfalls am 23. März 2014 eingeleitete Ermittlungsverfahren gegen die Antragstellerin wegen des Verdachts einer Straßenverkehrsgefährdung nach § 315c StGB sowie des Fahrens ohne Fahrerlaubnis nach § 21 StVG noch anhängig (und ist auch gegenwärtig noch nicht abgeschlossen). In diesem Verfahren kommt auch weiterhin die Entziehung der Fahrerlaubnis jedenfalls nach § 69 Abs. 1 StGB in Betracht. Daher steht § 3 Abs. 3 StVG der Entziehung der Fahrerlaubnis entgegen.

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Etwas anderes ergibt sich hier auch nicht daraus, dass zwischenzeitlich die Staatsanwaltschaft mitgeteilt hat, dass nach einem nunmehr vorliegenden Gutachten von einer Strafbarkeit nach § 315c StGB nicht mehr auszugehen ist, so dass sich die Ermittlungen nur noch auf den Vorwurf des Fahrens ohne Fahrerlaubnis gem. § 21 StVG beziehen. Denn zum einen ist das Fahren ohne Fahrerlaubnis eine typische Verkehrsstraftat im Sinne des § 69 Abs. 1 StGB, die wegen der fehlenden Kraftfahreignung regelmäßig die Entziehung der Fahrerlaubnis bzw. die Verhängung einer isolierten Sperrfrist für die Neuerteilung der Fahrerlaubnis rechtfertigt (vgl. Burmann/Heß/Jahnke/Janker, Straßenverkehrsrecht, 23. Auflage, § 21 StVG Rn. 19). Zum anderen kommt es für das Berücksichtigungsverbot des § 3 Abs. 3 StVG allein darauf an, ob sich die strafrechtlichen Untersuchungen wegen eines bestimmten Lebenssachverhalts auf eine Straftat erstrecken, die ihrer Art nach die Entziehung der Fahrerlaubnis zu rechtfertigen vermag, d.h. ob es um eine Straftat im Sinne des § 69 StGB geht, und ob das förmliche Ermittlungsverfahren noch andauert. Es ist dabei unerheblich, ob eine Fahrerlaubnisentziehung im konkreten Fall mehr oder weniger wahrscheinlich ist. Die Bindungswirkung des § 3 Abs. 3 StVG besteht dann ab der Einleitung des Strafverfahrens, d.h. ab diesem Zeitpunkt ist der Vorgang, auf den sich die strafrechtlichen Ermittlungen erstrecken, auch im Hinblick auf die Fahreignung vorrangig durch die Strafverfolgungsbehörden zu bewerten (vgl. BVerwG, Urteil vom 28.06.2012 – 3 C 30.11, juris Rn. 33 f.; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 19.08.2013 – 10 S 1266/13, juris Rn. 12 f. m.w.N. und Beschluss vom 19.02.2007 – 10 S 3032/06, juris Rn. 4). Aus diesem Grund kann die Antragsgegnerin den anlässlich des Verkehrsunfalls vom 23. März 2014 bekannt gewordenen Kokainkonsum der Antragstellerin – auch wenn dieser für sich genommen nicht (mehr) Gegenstand des Strafverfahrens ist – jedenfalls gegenwärtig nicht zur Grundlage einer Fahrerlaubnisentziehung machen.

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Im Übrigen ist es der Fahrerlaubnisbehörde verwehrt, nach Einleitung des Strafverfahrens eingetretene Erkenntnisse und Entwicklungen zu berücksichtigen oder die strafrechtliche Bewertung inzident vorwegzunehmen. Denn selbst wenn die Einstellung eines Ermittlungsverfahrens nur noch als Formalie erscheint, ist eine andere Entscheidung bis zur förmlichen Einstellung gleichwohl nicht ausgeschlossen. Daher ist im Interesse der Rechtssicherheit für das Bestehen des Berücksichtigungsverbots des § 3 Abs. 3 StVG auf die datumsmäßig bestimmte Einstellungsentscheidung abzustellen. Erst wenn das Verfahren durch ein Strafurteil oder eine Einstellungsentscheidung abgeschlossen wird, ist ein Zugriff der Fahrerlaubnisbehörde wieder möglich, weil erst dann widersprechende Entscheidungen der Fahrerlaubnisbehörde und ggf. des Strafgerichts (aufgrund von § 3 Abs. 4 StVG) ausgeschlossen werden können (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 19.08.2013 – 10 S 1266/13, juris Rn. 14; Burmann/Heß/Jahnke/Janker, a.a.O., § 3 StVG Rn. 10 m.w.N.).

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Folglich ist – trotz des allein aufgrund des erwiesenen Kokainkonsums voraussichtlich zu bejahenden Eignungsmangels – jedenfalls zum gegenwärtigen Zeitpunkt, zu dem die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft gegen die Antragstellerin noch andauern, die Antragsgegnerin gehindert, im Hinblick auf den Vorfall vom 23. März 2014 Maßnahmen zu ergreifen und die Fahrerlaubnis zu entziehen (vgl. auch VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 19.02.2007 – 10 S 3032/06, juris Rn. 5).

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Die trotz des Berücksichtigungsverbots bereits verfügte Entziehung der Fahrerlaubnis verletzt die Antragstellerin auch in ihren Rechten (vgl. Burmann/Heß/Jahnke/Janker, a.a.O., § 3 StVG Rn. 10 m.w.N.).

III.

22

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.

23

Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 53 Abs. 2 Nr. 2 i.V.m. § 52 Abs. 1 GKG. Dabei ist der Streitwert der Eilsache mit der Hälfte des in der Hauptsache anzunehmenden Streitwerts festzusetzen.

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