Gerichtsbescheid vom Verwaltungsgericht Hamburg (19. Kammer) - 19 A 3945/16

Tenor

Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 27.07.2016 - soweit dieser entgegensteht - verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

Gerichtskosten werden nicht erhoben. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens.

Der Gerichtsbescheid ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Gerichtsbescheids vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils vollstreckbaren Betrages leistet.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft durch die Beklagte.

2

Der am … 1989 geborene Kläger ist nach den Feststellungen der Beklagten eritreischer Staatsangehöriger. Er stellte am 28.04.2016 einen Asylantrag.

3

Mit Bescheid vom 27.07.2016 erkannte die Beklagte dem Kläger den subsidiären Schutzstatus zu und lehnte den Asylantrag im Übrigen ab. Die Ablehnung begründete sie im Wesentlichen damit, dass der Kläger keine individuellen Verfolgungsgründe geltend gemacht habe.

4

Gegen den Bescheid hat der Kläger am 16.08.2016 Klage beim Verwaltungsgericht Hamburg erhoben und beantragt sinngemäß,

5

die Beklagte unter teilweiser Aufhebung ihres Bescheides vom 27.07.2016 zu verpflichten, ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

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Die Beklagte beantragt,

7

die Klage abzuweisen.

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Sie bezieht sich zur Begründung auf den angefochtenen Bescheid.

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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, der Asylakte sowie der beigezogenen Ausländerakte Bezug genommen, die dem Gericht sämtlich zum Zeitpunkt der Entscheidung vorlagen.

Entscheidungsgründe

I.

10

Die Entscheidung ergeht im Einverständnis der Beteiligten durch die Berichterstatterin anstelle der Kammer, § 87a Abs. 2, 3 VwGO.

II.

11

Das Gericht entscheidet gemäß § 84 Abs. 1 VwGO durch Gerichtsbescheid, weil die Sache keine besonderen Schwierigkeiten sachlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Die Beteiligten sind vorher gehört worden.

III.

12

Die zulässige Klage ist begründet.

13

1. Die Verpflichtungsklage ist zulässig. Sie ist insbesondere nicht verfristet. Die Beklagte hat nicht nachgewiesen, dass der angefochtene Bescheid dem Kläger vor dem 02.08.2016 zugegangen ist, so dass die am 16.08.2016 eingereichte Klage innerhalb der Klagefrist des § 74 Abs. 1 AsylG anhängig gemacht wurde.

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2. Die Klage hat auch in der Sache Erfolg. Der Bescheid vom 27.07.2016 ist rechtswidrig, soweit er die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ablehnt und den Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Der Kläger hat zum maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses des Gerichtsbescheids (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

15

Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft richtet sich nach § 3 Abs. 4 Satz 1 i.V.m. Abs. 1 AsylG. Gemäß § 3 Abs. 4 Satz 1 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, grundsätzlich die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 18. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II, S. 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftslandes) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.

16

Das Gericht ist aufgrund der glaubhaften Angaben des Klägers davon überzeugt, dass ihm mit der notwendigen Wahrscheinlichkeit eine Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a AsylG durch einen relevanten Akteur im Sinne des § 3c AsylG (dazu a)) aufgrund eines Verfolgungsgrundes im Sinne des § 3b AsylG (dazu b)) droht. Der Kläger kann sich der Verfolgung auch nicht durch eine "reuige" Rückkehr entziehen (dazu c)). Ausschlussgründe bestehen keine (dazu d)).

17

a) Es besteht nach Überzeugung der Berichterstatterin für den Kläger, weil er Eritrea im dienstpflichtigen Alter verlassen hat und/oder mit dem Eintritt der Dienstpflicht nicht nach Eritrea zurückgekehrt ist, eine beachtliche Wahrscheinlichkeit, bei einer Rückkehr nach Eritrea durch die dortigen staatlichen Stellen verfolgt zu werden (so auch VG Hamburg, GB v. 26.10.2016, 4 A 1646/16, juris; VG Schwerin, Urt. v. 8.7.2016, 15 A 190/15 As, juris; VG Frankfurt, GB v. 4.2.2015, 8 K 2300/14.F.A, juris).

18

An der eritreischen Staatsangehörigkeit des Klägers, von der auch die Beklagte ausgeht, bestehen nach dem Inhalt der Anhörungsniederschrift und dem sonstigen Akteninhalt keine Zweifel.

19

Als Verfolgungshandlungen gelten gemäß § 3a AsylG solche Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (BGBl. 1952 II S. 685, 953) - Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) - keine Abweichung zulässig ist, darunter das Verbot der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung und das Verbot der Zwangsarbeit.

20

Für die Frage der Verfolgungswahrscheinlichkeit im Falle der Rückkehr bzw. Einreise in den Heimatstaat kann zu Gunsten der Beklagten von der Geltung des Maßstabs der beachtlichen Wahrscheinlichkeit ausgegangen werden. Dieser setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen (BVerwG, Urt. v. 20.2.2013, 10 C 23/12, BVerwGE 146, 67, juris Rn. 32). Dabei ist eine "qualifizierende" Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, Urt. v. 1.6.2011, 10 C 25/10, BVerwGE 140, 22, 33, juris Rn. 24; Urt. v. 5.11.1991, 9 C 118/90, BVerwGE 89, 162, 169 f.).

21

Das Gericht geht - gemessen an diesem Maßstab - aufgrund der aktuellen Lage, die sich aus den nachfolgend genannten Erkenntnismitteln ergibt, davon aus, dass einem Rückkehrer, dem das Umgehen der nationalen Dienstpflicht vorgeworfen werden kann, die Gefahr von Verfolgungshandlungen im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3a AsylG droht.

22

Der Kläger hat zu erwarten, dass im Falle seiner Rückkehr nach Eritrea die dortigen Behörden gegen ihn aufgrund der Umgehung der nationalen Dienstpflicht außergerichtlich und willkürlich eine Haftstrafe unter prekären Haftbedingungen vollstrecken werden, welche eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung i.S.d. Art. 3 EMRK darstellt.

23

Der Kläger wird mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit als Deserteur bzw. Nationaldienstverweigerer behandelt werden. Für den Kläger besteht die Pflicht zur Ableistung des Nationaldienstes (dazu (1)). Desertion und Dienstverweigerung werden mit unmenschlicher und erniedrigender Behandlung geahndet. Die Verfolgung als Deserteur bzw. Dienstverweigerer droht allen Personen, die Eritrea im dienstpflichtigen Alter verlassen haben oder nach Eintritt der Dienstpflicht unfreiwillig wieder einreisen (dazu (2)). Bei der drohenden Bestrafung handelt es sich nicht um einen Vorgang, der vom Anwendungsbereich des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge ausgeschlossen wäre (dazu (3)).

24

(1) Der 27-jährige Kläger ist derzeit nach der eritreischen Praxis nationaldienstpflichtig.

25

Nach der eritreischen Proclamation on National Service von 1995 sind alle eritreischen Staatsangehörigen gleich welchen Geschlechts im Alter zwischen 18 und 50 Jahren verpflichtet, einen 18-monatigen Nationaldienst zu absolvieren. Dieser beinhaltet eine sechsmonatige militärische Ausbildung und einen sich an diese anschließenden zwölfmonatigen aktiven Dienst im Militär oder in (zivilen) Entwicklungsarbeiten. Die Dienstdauer kann im Fall eines Krieges oder einer allgemeinen Mobilmachung über diese Zeitdauer hinaus verlängert werden. In der Praxis und wegen der von der eritreischen Regierung proklamierten "no war no peace"-Situation im Verhältnis zu Äthiopien ist der Nationaldienst allerdings zeitlich unbefristet und dauert meist mehrere Jahre (durchschnittlich fünf bis zehn, häufig auch länger), wobei einerseits Frauen deutlich früher als Männer entlassen werden, andererseits eine Entlassung aus dem militärischen Teil des Nationaldienstes kaum vorkommt (Schweizer Staatssekretariat für Migration, Focus Eritrea. Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016 (SEM 2016), S. 45 ff. m.w.N.; European Asylum Support Office, EASO-Bericht über Herkunftsländer-Informationen, Länderfokus Eritrea, Mai 2015 (EASO 2015), S. 40 m.w.N.; s.a. Human Rights Council, Report of the Commission of Inquiry on Human Rights in Eritrea, 9.5.2016, A/HRC/32/47 (HRC 2016), S. 7).

26

In der Praxis werden Eritreer im Alter von ca. 16 bis ca. 50 Jahren als dienstpflichtig behandelt, allerdings werden teilweise auch jüngere Eritreer rekrutiert. Maßgeblich ist dabei nicht das tatsächliche Alter, sondern häufig das Aussehen (EASO 2015, S. 37, 40 m.w.N.; Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH), Eritrea: Rekrutierung von Minderjährigen. Auskunft. 21.1.2015, S. 2 ff. m.w.N.).

27

Die Behörden teilen die Rekruten entweder für eine zivile oder für eine militärische Verwendung ein, ohne dass letztere darauf Einfluss hätten. Ein legales vorzeitiges Verlassen des Nationaldienstes ist nur in Ausnahmefällen möglich (SEM 2016, S. 50 m.w.N.). Nationaldienstleistende verdienen monatlich 500 Nakfa (entspricht ca. 22 USD), was zur Sicherung des Lebensunterhalts zu gering ist. Nach einer jüngst von der Regierung angekündigten Lohnreform sollen die Löhne der zivilen Komponente erheblich steigen; an Anhaltspunkten, dass dies bereits umgesetzt wurde, fehlt es aber (SEM 2016, S. 52 f. m.w.N.).

28

(2) Dem Kläger droht, weil er Eritrea im dienstpflichtigen Alter verlassen hat und/oder sich seiner Dienstpflicht durch seinen Aufenthalt in Deutschland aktiv entzieht, eine Haftstrafe von ungewisser Länge und unter den oben geschilderten unmenschlichen und erniedrigenden Bedingungen.

29

Deserteuren bzw. Dienstverweigerern, die das Land verlassen haben, drohen Haftstrafen, welche außergerichtlich - häufig von den Militärvorgesetzten - verhängt werden und deren Dauer willkürlich festgesetzt wird (Bericht des Auswärtigen Amts über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea, Stand: November 2016, verfügbar über die Asyldokumentation des Gerichts (AA 11/2016), S. 16 f.). Die Haftdauer beträgt in der Regel zwischen sechs Monaten und zwei Jahren (vgl. SEM 2016, S. 28 m.w.N.; Amnesty International, Eritrea: Just Deserters: Why Indefinite National Service in Eritrea Has Created a Generation of Refugees, 2.12.2015, S. 9, 44; Refugee Board of Canada, Eritrea: Situation of People Returning to the Country After They Either Spent Time Abroad, Claimed Refugee Status, or Were Seeking Asylum (September 2014-June 2015), 18.11.2015).

30

In den Haftanstalten kommt es zu Folter, die Haft erfolgt teilweise ohne Kontakt zur Außenwelt und ohne Benachrichtigung der Angehörigen ("incommunicado", vgl. EASO 2015, S. 42 u. 47 m.w.N.; AA 11/2016, S. 15, 17).

31

Bei der Haft in Eritrea handelt es sich um eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung (mit diesem Ergebnis auch HRC 2016, S. 8). Die Haftbedingungen sind prekär; im Bericht des European Asylum Support Office (EASO 2015, S. 46 f.) heißt es dazu unter sorgfältiger Analyse des Quellenmaterials:

32

- "Einige Haftanstalten sind unterirdisch oder befinden sich in Schiffscontainern. In diesen kann es aufgrund des Klimas in Eritrea extrem heiß werden.
- Die Zellen sind oft derart überfüllt, dass sich die Häftlinge nur abwechselnd oder gar nicht hinlegen können.
- Die hygienischen Bedingungen sind schlecht. In manchen Gefängnissen gibt es anstelle einer Toilette nur ein Loch im Boden oder einen Kübel. Hofgang wird oft nicht erlaubt. Es gibt kaum medizinische Versorgung.
- Die Essensrationen sind klein und wenig nahrhaft, der Zugang zu Trinkwasser eingeschränkt.
- Teils werden die Häftlinge misshandelt oder gefoltert (…) und zu Zwangsarbeit eingesetzt.
- Angehörige haben häufig keinen Zugang zu den Häftlingen.
- Frauen werden üblicherweise getrennt von Männern untergebracht. Dennoch gibt es Berichte über sexuellen Missbrauch und Vergewaltigung z.B. durch Wächter.
- Aufgrund dieser schwierigen Umstände kommt es Berichten zufolge immer wieder zu Todesfällen in Haft."

33

Das Gericht geht aufgrund der Berichtslage davon aus, dass die dargestellte Verfolgung als Deserteur bzw. Dienstverweigerer nicht nur Personen betrifft, die sich aus dem aktiven Dienst entfernt haben oder zu einer erfolgten Einberufung nicht erschienen sind, sondern dass als Dienstverweigerer auch solche Personen bestraft werden, die Eritrea im oder kurz vor dem - nach dem Aussehen der Person bestimmten - dienstpflichtigen Alter verlassen haben (so auch VG Saarland, Urt. v. 17.1.2017, 3 K 2357/16, juris mit Verweis auf VG Saarland, Urt. v. 22.1.2015, 3 K 403/14, juris.) oder sich ihrer Dienstpflicht durch einen Aufenthalt im Ausland dauerhaft entziehen (a.A. VG Hamburg, Urteil v. 6.12.2016, 4 A 5515/16).

34

Zwar sind Fälle, in denen tatsächlich eine Rückführung von Eritreern stattgefunden hat, selten, und gestatten die eritreischen Behörden Menschenrechtsbeobachtern keinen Zugang, sodass die Quellenlage eingeschränkt ist (vgl. SEM 2016, S. 5 f.). Die vorliegenden Berichte belegen aber, dass mit Personen, die das Land trotz ihrer grundsätzlich bestehenden Dienstpflicht verlassen haben, wie mit Deserteuren umgegangen wird (so im Ergebnis auch SEM 2016, S. 5 f. sowie UK Upper Tribunal (Immigration and Asylum Chamber), Urt. v. 7.10.2016, MST and Others, CG [2016] (IAC), Rn. 431).

35

Die Commission of Inquiry on Human Rights in Eritrea (HRC 2016, S. 25) berichtet von 313 Eritreern, die 2016 zwangsweise aus dem Sudan rückgeführt wurden. Alle Betroffenen wurden inhaftiert, auch jene, die vor ihrer Ausreise noch nicht zum Nationaldienst herangezogen worden waren. Auch das European Asylum Support Office weist unter Bezugnahme auf die eritreischen Gesetze darauf hin, dass alle Personen, welche sich im dienstpflichtigen Alter außerhalb Eritreas aufhalten, ohne ihre Dienstpflicht erfüllt zu haben, als Wehrdienstverweigerer angesehen werden (EASO, Country of Origin Report Eri-trea, November 2016 (EASO 2016), S. 29). Dem dürfte auch die eritreische Praxis entsprechen. Die - gesetzlich nicht vorgesehene - Reueerklärung (vgl. dazu nachstehend c)) sieht als strafbares Verhalten an, "den Nationaldienst nicht erfüllt" zu haben ("I regret having committed an offence by not completing the national service"). Das Staatssekretariat für Migration der Schweiz (SEM 2016, S. 44) kommt vor diesem Hintergrund zu folgendem Schluss: "Personen im dienstpflichtigen Alter, welche den Dienst noch nicht angetreten haben oder dem Aufgebot keine Folge geleistet haben, sehen die Behörden als Dienstverweigerer an. Sie werden wohl für einige Monate inhaftiert und anschließend militärisch ausgebildet." Dies entspricht ersichtlich auch dem Kenntnisstand des Auswärtigen Amtes, das davon ausgeht, dass eritreische Behörden "das Umgehen der nationalen Dienstpflicht" als Delikt ansehen, das zur Verhängung von Haftstrafen führen kann (AA 11/2016, S. 17).

36

Diese Einschätzung wird auch nicht durch den Bericht des Klägers in seiner Anhörung widerlegt, dass er nach seiner Abschiebung aus Saudi-Arabien eine Woche in Eritrea gelebt habe und ihm dort nichts wiederfahren sei, da seine Eltern die 2%-Steuer gezahlt hätten. Der Kläger hat sich nämlich nur eine Woche in Eritrea aufgehalten. Aufgrund der Kürze des Aufenthalts lässt sich nicht ausschließen, dass es zu den oben geschilderten Maßnahmen durch die eritreische Regierung gekommen wäre, wenn der Kläger im Land geblieben wäre.

37

(3) Bei der drohenden Bestrafung handelt es sich nicht um einen Vorgang, der vom Anwendungsbereich des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge gemäß § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG ausgeschlossen ist (in diese Richtung aber VG Ansbach, Urt. v. 26.9.2016, AN 3 K 16.30584, juris; VG Augsburg, Urt. v. 11.8.2016, Au 1 K 16.30744, juris; VG Potsdam, Urt. v. 17.2.2016, VG 6 K 1995/15.A, juris Rn. 17; VG München, Urt. v. 31.5.2016, M 12 K 16.30787, juris Rn. 26). Diese Bestimmung sieht vor, dass die Bestrafung für die Verweigerung des Militärdienstes dann eine Verfolgungshandlung darstellt, wenn diese in einem Konflikt erfolgt und der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG fallen. Daraus kann aber nicht der Umkehrschluss gezogen werden, dass die Bestrafung, die dienstpflichtige Eritreer zu erwarten haben, wegen ihrer Anknüpfung an einen Militärdienst keinen Flüchtlingsschutz rechtfertigen kann.

38

Denn die Prüfung der Flüchtlingseigenschaft darf im Zusammenhang mit Militärdienst nicht ausschließlich anhand des Regelbeispiels des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG erfolgen. Vielmehr ist diese auch unter Berücksichtigung der anderen Regelbeispiele durchzuführen, insbesondere ist zu prüfen, ob die drohende Bestrafung unverhältnismäßig oder diskriminierend ist. Ob dies der Fall ist, ist danach zu beurteilen, welche Rechte verletzt werden und auf welche Art und Weise dies geschieht. Der Zweck des Regelbeispiels ist folglich nicht ein Ausschluss von Fällen, die nicht die Voraussetzungen des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG erfüllen. Das Regelbeispiel indiziert lediglich, dass im Falle der Bestrafung für Verweigerung eines Militärdienstes, der die dort genannten Voraussetzungen erfüllt, von einer Verfolgungshandlung auszugehen ist, ohne eine Aussage über andere Fälle von Verfolgung im Zusammenhang mit Militärdienstverweigerung zu treffen (s. zum Ganzen Marx, AsylVfG, 8. Auflage 2014, § 3a Rn. 35-37 m.w.N.).

39

Vorliegend ist folglich zu berücksichtigen, dass die Bestrafung für die Flucht vor dem Nationaldienst weit über das Maß des Angemessenen hinausgeht und ihrerseits eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung darstellt (s.o., b)) und dass gemäß § 3a Abs. 2 Nr. 3 AsylG unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung als Verfolgung i.S.d. § 3 AsylG anzusehen ist. Hinzu kommt, dass es sich bei dem eritreischen Nationaldienst nicht um einen gewöhnlichen Militärdienst und damit nicht um einen solchen im Sinne des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG handelt, sondern um einen zeitlich unbefristeten Arbeitsdienst unter menschenrechtswidrigen Bedingungen (s.a. oben, a)), welcher als Zwangsarbeit zu qualifizieren ist. Die Commission of Inquiry on Human Rights in Eri-trea führt dazu zutreffend aus, dass obligatorischer Militär- bzw. Nationaldienst zwar nicht zwangsläufig eine Menschenrechtsverletzung sei, sich der eritreische Nationaldienst jedoch von dem Militärdienst anderer Staaten durch die unbegrenzte und willkürliche Dauer, die die gesetzlich vorgesehene Dauer von 18 Monaten regelmäßig um mehr als ein Jahrzehnt überschreite, durch die Heranziehung der Dienstpflichtigen in Form von Zwangsarbeit für ein weites Spektrum an wirtschaftlichen Tätigkeiten und durch die Begehung von Vergewaltigung und Folter in den Militärlagern sowie das Vorhandensein weiterer häufig unmenschlicher Bedingungen unterscheide (HRC 2016, S. 8).

40

b) Diese Verfolgungshandlung erfolgt nach den Erkenntnissen des Gerichts aus Gründen der politischen Überzeugung. Dabei ist es gemäß § 3b Abs. 2 AsylG unerheblich, ob der Asylsuchende tatsächlich die politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden.

41

Personen, die Eritrea im dienstpflichtigen Alter verlassen haben und/oder sich im dienstpflichtigen Alter im Ausland aufhalten, ohne den Nationaldienst bereits abgeleistet zu haben, droht Verfolgung deswegen, weil sie mit der Dienstverweigerung bzw. Desertion eine Straftat begangen haben, die eine Haft unter den oben ausgeführten unmenschlichen Bedingungen zur Folge hat. Dass es sich dabei um eine Verfolgung aufgrund der politischen Überzeugung handelt, ergibt sich für das Gericht aus dem ideologischen Stellenwert, den der Nationaldienst als "Schule der Nation" (vgl. EASO 2016, S. 13) im eritreischen Staat einnimmt. Zweck das Nationaldienstes ist gemäß der Nationaldienst-Proklamation von 1995 u.a. "den Mut, die Entschlossenheit und das Heldentum, das unser Volk in den letzten dreißig Jahren gezeigt hat, zu erhalten und den künftigen Generationen weiterzugeben; eine Generation zu schaffen, die Arbeit und Disziplin liebt und am Wiederaufbau der Nation teilnehmen und dienen will; das Gefühl der nationalen Einheit in unserem Volk zu stärken um subnationale Gefühle zu eliminieren" (vgl. den Text der Proklamation bei EASO 2015, S. 32). Wer sich dem Nationaldienst entzieht, wird folglich als politischer Gegner des Regimes betrachtet (SEM 2016, S. 21; HRC 2016, S. 13 ("Verrat"); VG Saarland, Urt. v. 17.1.2017, 3 K 2357/16, juris; VG Darmstadt, Urt. v. 6.10.2015, 4 K 1658/14.DA.A, juris, Rn. 28; VG Minden, Urt. v. 13.11.2014, 10 K 2815/13.A, juris, Rn. 43-45; ebenso das österreichische Bundesverwaltungsgericht, Entsch. v. 24.5.2016, BVwG W226 2120345-1, abrufbar unter rdb.manz.at; UK Upper Tribunal, Urt. v. 7.10.2016, a.a.O., Rn. 431; in diese Richtung auch VG Frankfurt, GB v. 4.2.2015, 8 K 2300/14.F.A, juris, UA S. 4; a.A. VG Ansbach, Urt. v. 26.9.2016, AN 3 K 16.30584, juris.; VG Augsburg, Urt. v. 11.8.2016, Au 1 K 16.30744, juris; VG Braunschweig, Urt. v. 7.7.2015, 7 A 368/14, juris). Dafür spricht auch die Härte, mit der der eritreische Staat - ggf. auch noch Jahre nach den Vergehen - gegen Deserteure und Dienstverweigerer vorgeht, sowie die Tatsache, dass für Desertion regelmäßig auch Verwandte der Betroffenen zur Rechenschaft gezogen werden (vgl. EASO 2015, S. 41 und den vom VG Darmstadt, a.a.O., juris, Rn. 28, entschiedenen Sachverhalt).

42

c) Der Kläger kann sich der Verfolgung auch nicht durch eine "reuige" Rückkehr entziehen.

43

Zwar soll es nach Auskunft der eritreischen Behörden möglich sein, freiwillig straffrei nach Eritrea zurückzukehren, wenn der Status des Rückkehrers vorher mit den eritreischen Behörden geregelt wird. Dies bedeutet, dass der Rückkehrer eine Diaspora- oder Aufbausteuer von 2% des Jahreseinkommens bezahlt und ein Reueschreiben mit folgendem Wortlaut unterzeichnet: "Ich bestätige, dass ich eine Straftat begangen habe, indem ich den Nationaldienst nicht erfüllt habe, und bin bereit, angemessene Bestrafung zur gegebenen Zeit anzunehmen" (SEM 2016, S. 33). Gegen einen wirksamen Schutz vor Verfolgung spricht bereits der Wortlaut des Reueschreibens, der eine Bestrafung in Aussicht stellt. Zwar scheint die Praxis der Straffreiheit im Hinblick auf im Exil lebende Eritreer, die Eritrea für vorübergehende Reisen aufsuchen, derzeit angewandt zu werden (SEM 2016, S. 43). Jedoch scheint es keine rechtliche Grundlage für diese Praxis zu geben (vgl. SEM 2016, S. 29). Vor dem Hintergrund einer sich auch in der Vergangenheit immer wieder ändernden Praxis der eritreischen Behörden bestehen durchgreifende Zweifel daran, dass die Zahlung der Diasporasteuer und die Unterzeichnung des Reueschreibens mit hinreichender Sicherheit vor Bestrafung schützen (so auch UK Upper Tribunal, Urt. v. 7.10.2016, Rn. 431; Immigration and Refugee Board of Canada, a.a.O.; SEM 2016, S. 43; SFH, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse v. 15.8.2016 zu Eritrea: Rückkehr), zumal nicht davon auszugehen ist, dass Asylsuchende in Deutschland rechtzeitig vor ihrer zwangsweisen Rückkehr ihren Status regeln können.

44

d) Gründe, die zum Ausschluss der Flüchtlingseigenschaft führen (vgl. § 3 Abs. 2 bis 4 AsylG), sind nicht ersichtlich.

45

Akteure, die Schutz bieten könnten (§ 3d AsylG), sind nicht gegeben; eine inländische Fluchtalternative (§ 3e AsylG) besteht ebenfalls nicht.

IV.

46

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83 b AsylG, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus § 167 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711, 709 Satz 2 ZPO.

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