Beschluss vom Verwaltungsgericht Hamburg (9. Kammer) - 9 AE 2938/19
Tenor
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens trägt die Antragstellerin.
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Herrn Rechtsanwalt … wird abgelehnt.
Gründe
I.
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Die Entscheidung ergeht nach § 76 Abs. 4 Satz 1 AsylG durch ein Mitglied der Kammer als Einzelrichterin.
II.
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Der Antrag vom 21. Juni 2019, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung gemäß § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO zu verpflichten, der zuständigen Ausländerbehörde mitzuteilen, dass eine Abschiebung der Antragstellerin vorläufig für die Dauer von sechs Monaten nicht durchgeführt werden kann, hat keinen Erfolg.
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1. Der Antrag ist zwar zulässig. Insbesondere ist er nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO statthaft. Zwar kann eine Antragstellerin vorläufigen Rechtsschutz gegen die auf § 34a Abs. 1 AsylG gestützte Abschiebungsanordnung grundsätzlich nur durch einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung geltend machen (§ 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG). Diese Frist endete am 19. November 2018, ohne dass die Antragstellerin um vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht hat. Daneben ist ein Antrag gemäß § 123 Abs. 1 VwGO, gestützt auf Abschiebungshindernisse, die im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO geprüft werden, grundsätzlich nicht zulässig (VG Hamburg, Beschl. v. 11.1.2018, 9 AE 52/18, n.v.). Allerdings ist ein Antrag nach § 123 Abs. 1 VwGO entsprechend der Wertung des § 80 Abs. 7 VwGO dann als statthaft anzusehen, wenn mit ihm Abschiebungshindernisse geltend gemacht werden, die auf Umständen beruhen, die sich nach Ablauf der Frist des § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG verändert haben oder die der Antragsteller bis zum Ablauf dieser Frist ohne Verschulden nicht geltend machen konnte (vgl. zur Begründung ausführlich VG Hamburg, Beschl. v. 11.1.2018, 9 AE 52/18, n.v.).
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Nach diesen Grundsätzen ist der Antrag vom 21. Juni 2019 statthaft. Die Antragstellerin macht geltend, dass die Frist nach Art. 29 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsange-hörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz (im Folgenden: Dublin III-VO), innerhalb der sie nach Italien überstellt werden kann, abgelaufen sei und daher gemäß Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO die Zuständigkeit für die Durchführung ihres Asylverfahrens auf die Bundesrepublik Deutschland übergegangen sei. Dies ist ein Umstand, der erst nach Ablauf der Frist des § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG eingetreten ist. Denn die Überstellungsfrist lief nach Ansicht der Antragstellerin am 23. April 2019 (sechs Monate nach der Zustimmungserklärung Italiens vom 23. Oktober 2018) ab.
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2. Der Antrag ist jedoch nicht begründet.
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Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn diese Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Voraussetzung hierfür ist gemäß § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO, dass die Antragstellerin die Eilbedürftigkeit einer vorläufigen Regelung (Anordnungsgrund) sowie das Bestehen des materiellen Anspruchs, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird (Anordnungsanspruch), glaubhaft macht.
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Die Antragstellerin hat vorliegend jedoch keinen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Sie hat nicht glaubhaft gemacht, dass die Bundesrepublik Deutschland wegen Ablaufs der Überstellungsfrist für die Prüfung ihres Antrages auf internationalen Schutz zuständig geworden ist.
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a) Für die Prüfung des Antrages der Antragstellerin auf internationalen Schutz ist Italien zuständig. Dies folgt aus Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO. Nach dieser Vorschrift ist für die Zwecke der Verordnung die Situation eines mit dem Antragsteller einreisenden minderjährigen Familienangehörigen untrennbar mit der Situation seines Familienangehörigen verbunden und fällt in die Zuständigkeit des Mitgliedstaats, der für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz dieses Familienangehörigen zuständig ist, auch wenn der Minderjährige selbst kein Antragsteller ist, sofern dies dem Wohl des Minderjährigen dient. Die Antragstellerin ist die minderjährige Tochter von B. (Klägerin zu 1) des Verfahrens 9 A 5843/18) und mit ihr gemeinsam eingereist. Für die Prüfung des Antrags ihrer Mutter auf internationalen Schutz ist Italien zuständig (vgl. zur ausführlichen Begründung den Beschluss des Gerichts vom 4. März 2019 [9 AE 5844/18, juris] betreffend den Antrag der Mutter und Geschwister der Antragstellerin auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage gegen die Abschiebungsanordnung). Die Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens der Mutter ist zwischenzeitlich auch nicht auf die Bundesrepublik Deutschland übergegangen. Insbesondere ist hinsichtlich der Mutter die sechsmonatige Überstellungsfrist noch nicht abgelaufen. Denn die Frist begann gemäß Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO mit der Entscheidung über den Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO am 4. März 2019 zu laufen und endet daher mit Ablauf des 4. September 2019. Es bestehen auch keine Anhaltspunkte dafür, dass eine Durchführung des Asylverfahrens der Antragstellerin in Italien nicht ihrem Wohl entsprechen könnte, insbesondere da auf diese Weise eine Trennung von ihrer Mutter verhindert wird.
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b) Die Antragstellerin hat nicht glaubhaft gemacht, dass die Zuständigkeit zur Prüfung ihres Antrages auf internationalen Schutz wegen Ablaufs der Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO auf die Bundesrepublik Deutschland übergegangen ist. Denn für die Überstellung der Antragstellerin läuft keine isolierte Frist, die mangels Stellung eines Antrages nach § 80 Abs. 5 VwGO mit der Annahme des Aufnahmegesuchs durch Italien begonnen hätte, sondern die Überstellungsfrist richtet sich nach der Frist für die Überstellung ihrer Mutter. Dies folgt aus Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO. Danach ist die Situation eines mit dem Antragsteller (hier: der Mutter) einreisenden minderjährigen Familienangehörigen (hier: der Antragstellerin) untrennbar (Hervorhebung durch das Gericht) mit der Situation seines Familienangehörigen verbunden, und fällt in die Zuständigkeit des Mitgliedstaats, der für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz dieses Familienangehörigen zuständig ist, sofern dies dem Wohl des Minderjährigen dient. Insbesondere aus der Formulierung, dass die Situation des Minderjährigen „untrennbar“ mit der Situation seines Familienangehörigen verbunden sein soll, folgt, dass in den Fällen des Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO die Zuständigkeit zur Durchführung des Asylverfahrens der Minderjährigen grundsätzlich stets akzessorisch von der Zuständigkeit zur Durchführung des Asylverfahrens der Familienangehörigen abhängt (ebenso VGH München, Urt. v. 29.3.2017, 15 B 16.50082, juris Rn. 17) und keine eigenständige Zuständigkeitsbestimmung für die Minderjährige erfolgt. Auch der Europäische Gerichtshof geht davon aus, dass nach Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO die Situation des Kindes nur dann (Hervorhebung durch das Gericht) unabhängig von derjenigen seiner Eltern zu behandeln ist, wenn eine Prüfung im Verbund mit den Eltern nachweislich nicht dem Wohl des Kindes dient (EuGH, Urt. v. 23.1.2019, C-661/17, juris Rn. 88). Wenn jedoch die Zuständigkeit für die Minderjährige nicht eigenständig zu prüfen ist, schließt dies auch aus, für sie isoliert einen Zuständigkeitsübergang nach Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO wegen Ablaufs der Überstellungsfrist zu prüfen. Vielmehr richtet sich auch insoweit die Zuständigkeit stets nach der Zuständigkeit zur Durchführung des Asylverfahrens der Familienangehörigen. Die Zuständigkeit zur Durchführung des Asylverfahrens der Minderjährigen geht daher nach Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO über, wenn die Zuständigkeit zur Durchführung des Asylverfahrens der Familienangehörigen übergeht, mithin wenn in Bezug auf die Familienangehörige die Überstellungsfrist abgelaufen ist (so im Ergebnis auch VG Greifswald, Urt. v. 15.5.2017, 6 A 1095/16 As HGW, juris Rn. 16 f.; VG München, Urt. v. 8.1.2015, M 11 K 14.50184, juris Rn. 14 f.). Hierfür spricht auch, dass Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO Fristen für die Überstellung „des Antragstellers oder einer anderen Person im Sinne von Art. 18 Abs. 1 lit. c oder d“ bestimmt und in Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO mit „Antragsteller“ der Familienangehörige des Minderjährigen gemeint ist. Zudem würde eine voneinander unabhängige Bestimmung der Überstellungsfristen für eine Minderjährige und ihre Familienangehörige, die zu unterschiedlichen Zuständigkeiten und daher einer möglichen Trennung der Familie führen würde, dem Ziel der Dublin III-VO, die Familieneinheit zu wahren, zuwiderlaufen. Dieses Ziel kommt nicht nur in Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO zum Ausdruck, sondern auch in den Zuständigkeitskriterien der Art. 9-11 sowie den Erwägungsgründen (vgl. auch OVG Schleswig, Beschl. v. 14.9.2018, 1 LA 40/18, juris Rn. 24). Danach sollte, im Einklang mit der EMRK und der EU-Grundrechtecharta, bei der Anwendung der Verordnung die Achtung des Familienlebens eine vorrangige Erwägung der Mitgliedstaaten sein (Erwägungsgrund 14). Mit der gemeinsamen Bearbeitung der von den Mitgliedern einer Familie gestellten Anträge auf internationalen Schutz durch ein und denselben Mitgliedstaat könne sichergestellt werden, dass die Anträge sorgfältig geprüft werden, diesbezügliche Entscheidungen kohärent sind und dass die Mitglieder einer Familie nicht voneinander getrennt werden (Erwägungsgrund 15).
III.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 83b AsylG, § 154 Abs. 1 VwGO.
IV.
- 11
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Herrn Rechtsanwalt … ist abzulehnen, weil die Voraussetzungen nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO nicht vorliegen. Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes hatte nach den obigen Ausführungen trotz des anzulegenden großzügigen Maßstabs, der nur eine gewisse Erfolgswahrscheinlichkeit voraussetzt (OVG Hamburg, Beschl. v. 5.12.2018, 1 So 108/18, juris Rn. 12), keine hinreichende Aussicht auf Erfolg.
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Referenzen
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- § 76 Abs. 4 Satz 1 AsylG 1x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 123 6x
- § 34a Abs. 1 AsylG 1x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 80 5x
- § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG 3x (nicht zugeordnet)
- ZPO § 920 Arrestgesuch 1x
- VwGO § 154 1x
- VwGO § 166 1x
- ZPO § 114 Voraussetzungen 1x
- 9 AE 52/18 2x (nicht zugeordnet)
- 9 A 5843/18 1x (nicht zugeordnet)
- 9 AE 5844/18 1x (nicht zugeordnet)
- 6 A 1095/16 1x (nicht zugeordnet)
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