Beschluss vom Schleswig Holsteinisches Oberverwaltungsgericht (1. Senat) - 1 LA 40/18

Tenor

Die Anträge der Kläger auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts - 5. Kammer, Einzelrichterin - vom 18. Juni 2018 werden abgelehnt.

Die Kläger tragen die Kosten des Zulassungsverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.

1

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe ist abzulehnen. Die beabsichtigte Rechtsverfolgung bietet keine hinreichende Aussicht auf Erfolg (§§ 166 VwGO, 114 ZPO), wie sich aus den nachfolgenden Gründen zu II. ergibt.

II.

2

Der (allein) auf den Zulassungsgrund nach § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG gestützte Zulassungsantrag bleibt ohne Erfolg.

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1. Das Verwaltungsgericht hat in seinem Urteil vom 15.06.2018 (S. 8 d. Abdr.) den Kläger zu 3. als „flüchtig“ angesehen. Die Kläger halten es insoweit für klärungsbedürftig, ob der Kläger zu 3. im Hinblick auf dessen Minderjährigkeit „durch eigenes Verhalten den Tatbestand des Art. 29 Abs. 2 Dublin-III-VO erfüllen und damit als „flüchtig“ gelten kann, so dass die Überstellungsfrist verlängert werden kann.“

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1.1 Die - rechtliche - Frage, ob die objektive Verwirklichung des Tatbestandsmerkmals „flüchtig“ durch die Minderjährigkeit des Klägers zu 3. in Frage gestellt wird, ist ohne weiteres zu verneinen, ohne dass es insoweit einer weiteren Klärung in einem Berufungsverfahren bedarf.

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Weder dem Wortlaut noch dem Sinn und Zweck der Regelung in Art. 29 Abs. 2 der Dublin-III-Verordnung ist ein Ansatzpunkt dafür zu entnehmen, dass die Erfüllung des Tatbestandsmerkmals „flüchtig“ von individuellen Merkmalen, insbesondere dem Lebensalter des Betroffenen abhängig ist. Zwar gelten nach Art. 6 der Dublin-III-Verordnung bestimmte „Garantien für Minderjährige“, doch zielen diese - ebenso wie die Bestimmungen in Art. 8, Art. 11 und Art. 16 der Dublin-III-Verordnung - auf das „Wohl des Kindes“, insbesondere in Bezug auf den Familienzusammenhalt und die Familienzusammenführung. Für die Frage, ob eine Person „flüchtig“ ist und deshalb die Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 2 S. 2 der Dublin-III-Verordnung verlängert werden darf, ist daraus nichts zu gewinnen.

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Die Möglichkeit der Verlängerung der Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 2 S. 2 der Dublin-III-Verordnung knüpft allein an die Tatsache an, dass die betroffene Person sich seiner Überstellung an den zuständigen Mitgliedstaat entzieht (vgl. Koehler, Praxiskommentar zum Europäischen Asylzuständigkeitssystem, 2018, Art. 29 Dublin-III-VO, Rn. 34). Das ist objektiv festzustellen; weder die beschränkte Geschäftsfähigkeit Minderjähriger (§ 106 BGB) noch deren u. U. geminderte Einsichtsfähigkeit (vgl. § 828 Abs. 3 BGB) oder Fragen der elterlichen Sorge (vgl. § 1631 BGB) vermögen die tatsächliche Feststellung zu beeinflussen, ob ein Minderjähriger als betroffene Person i. S. d. Art. 29 Abs. 2 S. 2 der Dublin-III-Verordnung „flüchtig“ ist. Das ist vielmehr - schon - dann der Fall, wenn sich der Minderjährige zur Zeit des Überstellungsversuchs an einem unbekannten Ort außerhalb des letzten, der zuständigen Behörde bekannten Aufenthaltsorts aufhält.

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1.2 Soweit erwogen wird, dass es nicht ausreiche, wenn der oder die Betreffende nicht angetroffen wird und bei dieser Gelegenheit sein/ihr aktueller Aufenthaltsort nicht ermittelt werden kann, vielmehr ein zu missbilligendes Verhalten erforderlich sei, ist daraus im vorliegenden Fall nichts zu gewinnen.

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In der Begründung des Zulassungsantrags wird nicht in Frage gestellt, dass der Kläger zu 3. am Tag des Überstellungsversuchs, dem 20.03.2018, „flüchtig“ war, indem er sich der Überstellung durch Änderung seines Aufenthaltsorts entzogen hat. Die dazu dem erstinstanzlichen Urteil (Tatbestand, S. 5 des Urt.-Abdr., Gründe, S. 8 [zu IV. 1.c.i] des Urt.-Abdr.) zu entnehmenden Feststellungen und deren rechtliche Bewertung sind aus der Sicht des Senats überzeugend.

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Selbst wenn es insoweit einer (verhaltensbezogenen) Missbilligung bedürfte, läge diese vorliegend auf der Hand: Der Kläger zu 3. war zur Zeit des Überstellungsversuchs am 20.03.2018 (noch) verpflichtet, in der Aufnahmeeinrichtung zu wohnen (§ 47 Abs. 1 S. 1 AsylG); er musste deshalb auch für die zuständigen Behörden erreichbar sein (§ 47 Abs. 3 AsylG). Wie sich aus den erstinstanzlichen Feststellungen ergibt, war Kläger zur Zeit des Überstellungsversuchs in Wahrheit nicht in …, sondern in einem anderen, den zuständigen Stellen nicht bekannten Zimmer der 2.000 Plätze umfassenden Aufnahmeeinrichtung. Die Angabe seines Vaters, wonach er „in … sei, weil sie auch ihn abschieben wollten“ (s. S. 3 der Verhandlungsniederschrift vom 04.06.2018 [Bl. 75 d. A.]) belegt die Absicht, sich der Überstellung zu entziehen und damit ein in Bezug auf das effektive Funktionieren des Dublin-Systems bezogenes obstruktives Verhalten. Soweit insoweit nicht (nur) ein Verhalten des Klägers zu 3., sondern (auch) ein solches seines Vaters in Rede steht, muss der Kläger zu 3. sich dieses zurechnen lassen (vgl. Art. 2 lit. g [3. Spstr.] der Dublin-III-VO).

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1.3 Der Senat sieht - unabhängig davon - keine Anhaltspunkte dafür, dass durch die Verlängerung der Überstellungsfrist gem. Art. 29 Abs. 2 S. 2 der Dublin-III-VO (auch) ein missbilligtes Verhalten des Ausländers sanktioniert werden soll. Insoweit ist dem Beschluss des VGH Mannheim vom 15.03.2017 (11 S 2151/16, Juris, Rn. 20) zu folgen, wonach Sinn und Zweck des Art. 29 Abs. 2 S. 2 der Dublin-III-VO darin liegt, das effektive Funktionieren des Dublin-Systems zu sichern.

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Dieses wäre erheblich beeinträchtigt, wenn Überstellungen nicht zeitnah erfolgen könnten, weil dem Gründe entgegenstehen, die nicht in die Verantwortungssphäre des überstellenden Mitgliedsstaats fallen. Es wäre zudem mit erheblichen Ermittlungs- bzw. Beweisschwierigkeiten verbunden, wenn den Betroffenen nachgewiesen werden müsste, dass sie sich gerade, um eine Überstellung unmöglich zu machen oder zu erschweren, von ihrer Wohnung entfernt bzw. sich verborgen hätten. Es muss genügen, dass der zuständigen Behörde der Aufenthalt zum Zeitpunkt des Überstellungsversuchs nicht bekannt war und es auch keine verlässlichen, von dem Betroffenen und seinen Familienangehörigen zu „liefernden“ Anhaltspunkte gab, wie der aktuelle Aufenthalt in zumutbarer Weise und zeitnah hätte ermittelt werden können.

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2. Die Frage, ob „bei Maßnahmen der Überstellung, welche sich auf Familien beziehen, der Tatbestand ‚flüchtig‘ i. S. d. Art. 29 Abs. 2 Dublin-III-VO für alle Familienmitglieder erfüllt ist, wenn eine minderjährige Person ein vorwerfbares Verhalten zeigt“, führt ebenfalls nicht zur Berufungszulassung.

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Die Frage wäre zwar unbeschadet der speziellen Umstände des Einzelfalles in einem Berufungsverfahren entscheidungserheblich, ihre Klärung bedarf indes nicht der Durchführung eines Berufungsverfahrens.

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2.1 Das Verwaltungsgericht ist davon ausgegangen, dass wegen der Flüchtigkeit des Klägers zu 3. die „gesamte Familie als „flüchtig zu bewerten“ sei (S. 8 des Urt.-Abdr.), was dazu führt, dass die Verlängerung der Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 2 S. 2 der Dublin-III-VO auch für die Kläger zu 1.-2. und 4.-8. gilt.

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Die Umstände, dass

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- die Beklagte eine Trennung der Familie hingenommen hätte, da von der am 20.03.2018 versuchten Überstellung die Klägerin zu 2. (Mutter) und der an Fieber erkrankte Kläger zu 8. ausgenommen wurden und (zunächst) in der Erstaufnahmeeinrichtung in Neumünster bleiben sollten sowie
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- die Überstellung der Kläger zu 1. und 4.-7. letztlich an der Weigerung des Flugkapitäns scheiterte, diese zu befördern,
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sind vorliegend unerheblich. Sie sind einzelfallbezogen und lassen die Frage unberührt, ob das Verhalten des „flüchtigen“ Klägers zu 3. Auswirkungen auf die für die übrigen Kläger maßgebliche Überstellungsfrist hat.

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2.2 Die aufgeworfene Frage ist im Interesse der Kläger dahingehend zu präzisieren, dass die darin angesprochene „Person“ Teil der Familie (Art. 2 lit. g der Dublin-III-VO) und „minderjährig“ ist (Art. 2 lit. i der Dublin-III-VO), wie es vorliegend in Bezug auf den Kläger zu 3. der Fall ist. Ob dieser Person ein bestimmtes Verhalten „vorwerfbar“ ist, ist unerheblich (s. o. 1.2 und 1.3).

20

Das Verwaltungsgericht ist davon ausgegangen, dass die Familie wegen einer nach Art. 6 GG und Art. 8 EMRK nicht zumutbaren (vorübergehenden) Trennung des Klägers zu 3. von seiner Familie bezüglich der Bewertung, ob die Überstellungsfrist zu Recht wegen Flüchtigkeit verlängert werden darf, „als Einheit zu behandeln“ ist (S. 9 des Urt.-Abdr.).

21

Damit hat das Verwaltungsgericht nicht etwa die Flüchtigkeit eines Familienmitglieds den anderen Familienmitgliedern „zugerechnet“ oder deren Flüchtigkeit fingiert, sondern die Flüchtigkeit des Klägers zu 3. zum Anknüpfungspunkt für eine für alle Familienmitglieder geltende - einheitliche - Verlängerung der Überstellungsfrist genommen.

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Das ist rechtlich nicht zu beanstanden.

23

In der Begründung des Zulassungsantrags werden keine Ansatzpunkte aufgezeigt, die insoweit einen - grundsatzbedeutsamen - Klärungsbedarf begründen.

24

Soweit die Kläger auf Art. 20 Abs. 3 der Dublin-III-VO verweisen, bestätigt diese Norm die erstinstanzliche Erkenntnis. Indem dort die Situation eines minderjährigen Familienangehörigen „untrennbar“ mit der seiner Familie verbunden wird, wird der - durch Art. 8 Abs. 1 EMRK und Art. 6 Abs. 1 GG gebotene (vgl. BVerfG Beschl. v. 12.05.1987, 2 BvR 1226/83 u. a., NJW 1988, 626) und durch die „Charta der Grundrechte der Europäischen Union“ (ABl. EU C 83/389; Art. 7, Art. 24 Abs. 3) gewährleistete - Schutz der Familieneinheit zum Ausdruck gebracht. Dem entspricht auch der Erwägungsgrund 15 der Dublin-III-VO, wonach durch die gemeinsame „Bearbeitung der von den Mitgliedern einer Familie gestellten Anträge auf internationalen Schutz durch ein und denselben Mitgliedstaat“ sichergestellt werden kann, dass „die Mitglieder einer Familie nicht voneinander getrennt werden“, ferner auch Art. 14 Abs. 1 lit. a der Richtlinie 2008/115/EG (Rückführungsrichtlinie).

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Indem die an das Verhalten des „flüchtigen“ Klägers zu 3. anknüpfende Verlängerung der Überstellungsfrist auch für die anderen Mitglieder seiner Familie Anwendung findet, wird dem Gebot der Wahrung der Familieneinheit entsprochen. Wollte man demgegenüber eine Verlängerung der Überstellungsfrist allein auf den „flüchtigen“ Kläger beschränken, würde dies der Trennung von seiner Familie geradezu Vorschub leisten.

26

3. Der Zulassungsantrag ist nach alledem abzulehnen.

27

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO und § 83b AsylG.

28

Das Urteil des Verwaltungsgerichts ist rechtskräftig (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG).

29

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).


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