Urteil vom Verwaltungsgericht Köln - 7 K 5508/15
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten sofort vollstreckbar. Die Klägerin kann die Vollstreckung durch Leistung einer Sicherheit in Höhe von 110 % des Vollstreckungsbetrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
1
T a t b e s t a n d
2Die Klägerin ist am 00.00.1961 in Berlin geboren. Sie ist als thalidomidgeschädigte Person im Sinne des Conterganstiftungsgesetzes (ContStifG) anerkannt. Mit Datum vom 28.04.2014 beantragte sie bei der Beklagten die Überprüfung ihrer Bepunktung, da sich bei der Kontrolle ihres Gehörs eine beidseitige leichte Innenohrschwerhörigkeit herausgestellt habe. Die Klägerin führte hierzu aus:
3„...Ich habe schon immer schlecht gehört, musste in der Schule immer ganz vorne sitzen und hatte schon immer Probleme mit meinen Ohren. Mein HNO-Arzt verschrieb mir vor einem guten Jahr daher ein Hörgerät, das ich seitdem trage. Nun bin ich bei Professor Dr. N. , Arzt im Klinikum H. in N1. bzw. in der Poliklinik für HNO-Heilkunde, Ambulanz, in der Q.----------straße 00, 00000 N1. in Behandlung. Er glaubt, dass meine Innenohrschwerhörigkeit mit Contergan zusammenhängt. Demnächst findet noch eine MR-Untersuchung statt. Zusammen mit den Bildern bekomme ich von Professor N. einen abschließenden Befundbericht, den ich Ihnen dann umgehend zukommen lassen werde. ...“
4Die Beklagte wertete dies mit Schreiben vom 02.05.2014 als formlosen Revisionsantrag und bat um Vorlage aktueller medizinischer Unterlagen. Mit Schreiben vom 13.07.2014 übersandte die Klägerin der Beklagten die ihr vorliegenden Untersuchungsbefunde einschließlich einer CD mit den MRT-Aufnahmen. Sie teilte mit, dass nach der Aussage von Prof. Dr. N. bei ihr das Gleichgewichtsorgan nur schwer erregbar sei, was angeboren und in seinen Augen ein Conterganschaden sei. Außerdem seien die Haarzellen im Innenohr nur vermindert bzw. ungenügend vorhanden. Den Befundbericht Prof. Dr. N. reichte die Klägerin am 25.09.2014 nach.
5Mit Bescheid vom 25.03.2015 gab die Beklagte dem Revisionsantrag der Klägerin teilweise statt und erhöhte die Gesamtpunktzahl von 33,50 Punkten auf 36,83 Punkte. Ab dem 01.04.2015 ergab sich damit eine monatliche Rente von 2.551,00 Euro. Der Nachzahlungsbetrag belief sich auf 40.315,66 Euro. Dem lag die Anerkennung einer beiderseitigen leichten Schwerhörigkeit durch die zuständige medizinische Sachverständige Dr. X. vom 15.01.2015 zugrunde, die eine schriftliche Erklärung der Mutter der Klägerin, Frau F. M. , vom 08.12.2014 verwies.
6Es ergab sich hiernach folgende Berechnung:
7Orthopädie Augen HNO Innere
8100 – 33,5 100 – 0 100 – 5 100 – 0
9100 100 100 100
10100 x 0,6650 x 1,0000 x 0,9500 x 1,0000 = 63,1750
11100 - 63,1750 = 36,83
12Eine Bepunktung wegen einer Veränderung des Gleichgewichtsorgans lehnte die Beklagte hingegen ab. Hierbei verwies sie auf Gutachten von Frau Dr. X. vom 28.10.2014 und vom 25.11.2014. Diese vertrat die Auffassung, eine Veränderung des Gleichgewichtsorgans sei nicht anzuerkennen, da das Labyrinth beiderseits erregbar sei. Im letztgenannten Gutachten ist dazu ausgeführt:
13„Die beiderseits verplumpten Labyrinthe würde ich als Fehlbildung anerkennen, jedoch sind keine Punkte anzuerkennen, da ja keine Funktionsbeeinträchtigung vorliegt, weil die Labyrinthe beidseits ihre Funktion ausweislich der thermischen Vestibularisprüfung erfüllen.“
14Die Klägerin erhob hiergegen Widerspruch. Sie verwies auf eine Erklärung von Prof. Dr. N. , der eine verzögerte Erregbarkeit festgestellt habe. Die Punktetabelle bewerte die fehlende Anlage oder die Fehlbildung des Gleichgewichtsorgans. Funktionsbeeinträchtigungen seien nicht erwähnt. Sie habe verschiedene Probleme, die zu einer korrekten Funktion des Gleichgewichtsorgans in Widerspruch stünden. Sie habe große Probleme, im Dunkeln oder bei Müdigkeit geradeaus zu gehen und habe einen ziemlichen „Rechtsdrall“. Beim Reiten sitze sie nie mittig im Sattel, so dass sie ihren Sitz ständig korrigieren müsse. Sie trinke keinen Alkohol, weil ihr bereits bei geringsten Mengen schwummrig und schwindelig werde. Auch bei körperlicher Anstrengung und abruptem Aufstehen verspüre sie ein Schwindelgefühl. Leitern, Aussichtsplattformen oder Abgründe meide sie. Mit dem Fahrrad „eiere“ sie durch die Gegend; auch das Balancieren sei sehr schwierig.
15Mit Widerspruchsbescheid vom 09.09.2015 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin als unbegründet zurück. Sie verwies auf ein weiteres Gutachten von Frau Dr. X. , in welchem sie ausführte:
16„... ich habe mit die Gleichgewichtsuntersuchungen der LMU N1. noch einmal angesehen, überall ist dokumentiert: „annähernd seitengleich“. Nur die Optokinetik ist beidseits verlangsamt. Daraus eine Fehlfunktion herzuleiten halte ich für nicht zulässig.
17Außerdem ist in dem Vorblatt zur neurootologischen Untersuchung die Frage nach Schwindel von der Patientin verneint worden. Das steht im Widerspruch zu den jetzt vorliegenden Aussagen.
18Ich finde nicht, dass eine anatomische Veränderung ohne Auswirkung auf die Funktion entschädigt werden sollte, das ist aber meiner Meinung nach eine juristisch zu klärende Fragestellung.“
19Die Klägerin hat am 18.09.2015 Klage erhoben.
20Frau Dr. X. habe eine Schädigung durchaus festgestellt, indem sie eine anatomische Veränderung bejaht habe. Frau Dr. X. habe ihre Feststellungen ohne persönliche Untersuchung der Klägerin getroffen. Prof. N. habe dagegen eine ausführliche Anamnese und Diagnostik durchgeführt. Sie – die Klägerin – leide unter Schwindel. Dass sie auf die erstmalige Nachfrage nach Schwindel nicht reagiert habe, liege daran, dass sie ihre Beschwerden eher als Gleichgewichtsstörung aufgefasst habe. Sie legt nochmals die ärztliche Bescheinigung Prof. Dr. N. vom 22.09.2014 vor (Bl. 46 der Gerichtsakte).
21Im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 23.01.2018 hat sich die Beklagte zu einer erneuten fachärztlichen Begutachtung bereit erklärt. Für das weitere Verfahren haben die Beteiligten übereinstimmend auf weitere mündliche Verhandlung verzichtet.
22Die Beklagte hat daraufhin den Fachärzten für Hals-, Nasen- und Ohren-Heilkunde Dr. L. X. und Dr. H1. Q1. die folgenden Fragen zur Begutachtung vorgelegt:
23„1. Ist es trotz der offenbar möglichen thermischen Erregbarkeit des Gleichgewichtsorgans der Klägerin (= kein Ausfall des Gleichgewichtssinns) möglich, dass die von der Klägerin in der Klageschrift beschriebenen Symptome auf die vorliegende diskrete Schädigung des Gleichgewichtsorgans zurückzuführen sind (= Beeinträchtigung des Gleichgewichtssinns)?
242. Falls ja: Sind die Symptome genügend für die Anerkennung eines „Gleichgewichtsschadens“ (gegebenenfalls: Ab welcher Schwere der Symptomatik?), oder bedarf es immer des vollständigen Ausfalls des Gleichgewichtssinns?
253. Falls nein: Bestehen Zweifel am Untersuchungsbefund betreffend die gleichmäßige thermische Erregbarkeit des Gleichgewichtssinns der Klägerin?
264. Gibt es andere naheliegende Ursachen, die für die beklagten Schwindelsymptome ursächlich sein könnten?
275. Bestünde Bereitschaft, die Klägerin körperlich zu untersuchen, um das Bestehen der beklagten Symptome und/oder die Ursächlichkeit der diskreten Schädigung der Gleichgewichtsorgane für diese Symptome und/oder andere Ursachen für die beklagten Schwindelsymptome zu untersuchen?“
28Die beiden Fachärzte erstellten daraufhin das gemeinsame Gutachten vom 30.04.2018, in welchem ausgeführt wird:
29„...wir haben die Sachlage unabhängig voneinander bearbeitet und gemeinsam besprochen. Wir stellen zusammen auf der Basis der bekannten Aktenlage abschließend folgendes fest:
30Einleitend wollen wir vorab das Thema Schwindel allgemein beschreiben.
31„Schwindel“ ist ein Symptom und keine Diagnose. Wenn ein Mensch Schwindel beklagt, bedeutet das eine Unsicherheit über die Lage des Körpers in der Umgebung. Dafür gibt es viele Ursachen, da das menschliche Gleichgewichtssystem aus vielen Komponenten besteht, die das Symptom, die Beschwerde Schwindel hervorrufen können. Neben den Labyrinthen, als Sitz eines Teiles des Gleichgewichtssystems im Innenohr, zählen unter anderem die Tiefensensibilität, das visuelle System und der Tastsinn dazu. Die Verarbeitung der verschiedenen Impulse und Informationen aus diesen Organen wird dann im Gehirn vorgenommen. Das Vestibular-Organ ist, im Vergleich mit den Hauptursachen, vergleichsweise selten als maßgebliche Kausalität für Schwindel verantwortlich.
32Zu dem konkreten Fall ist festzustellen, dass es sich bei einem anerkennungsfähigen Schaden um einen vorgeburtlichen Schaden handeln muss. Wenn sich also ein so guter Gleichgewichtssinn im Leben entwickeln konnte, dass wie hier zum Beispiel Radfahren erlernt wurde, so ist ein späterer Verlust dieser Fähigkeit im fortgeschrittenen Leben nicht auf einen vorgeburtlichen Schaden zurückzuführen. Dies gilt insbesondere dann, wenn eine Erregbarkeit des Labyrinth-Organes besteht und bestand. Die Schwindelbeschwerden müssen dann andere Ursachen haben.
33Zu Ihren Fragen:
341. Nein. Wenn beide Gleichgewichtsorgane, wie nachgewiesen, thermisch seitengleich erregbar sind, ist die Funktion der Bogengänge nicht gestört. Der von der Patientin geklagte Schwindel ist nicht darauf, nicht auf einen vorgeburtlichen Conterganschaden zurückzuführen.
352. Nein (Eine Anerkennung ist nicht möglich, weil als Anerkennungsvoraussetzung ein vorgeburtlicher Ausfall definiert wurde und ein Ausfall nicht vorliegt.)
363. Der Untersuchungsbefund ist eindeutig.
374. Schwindel wird nur in einem sehr geringen Ausmaß durch das Labyrinth-Organ hervorgerufen. Der Ausdruck „Gleichgewichts-Organ“ ist diesbezüglich verwirrend. Die meisten Ursachen finden sich außerhalb des HNO-Gebietes.
385. Eine körperliche Untersuchung bringt hier keinen Erkenntnisgewinn, da die Aktenlage die vom HNO Arzt zu beurteilende Sachlage klärt.“
39Die Klägerin tritt dem entgegen und verweist darauf, dass die Punktetabelle nicht auf die Symptomatik, sondern auf die körperliche Schädigung abstelle. Außerdem könne sich eine Organschädigung im Laufe des Lebens verschlimmern und Symptome erst später auftreten. Zudem habe Frau Dr. X. , die letztlich Partei sei, in ihrem Befundbericht vom 25.11.2014 eindeutig festgestellt, dass die beidseits verklumpten Labyrinthe als Fehlbildung anzuerkennen sind. Die Verklumpung sei eine vorgeburtliche Schädigung. Außer im Fall einer Meningitis, an der sie nie gelitten habe, trete sie nach Medikamenteneinnahme in der Embryonalphase auf. Die Anlage des Innenohrs und die Ausbildung des Gleichgewichtsorgans fänden zur gleichen Zeit in der dritten bis siebten Schwangerschaftswoche statt. Die Innenohrschwerhörigkeit der Klägerin sei anerkannt. Sie leide, wie bereits mehrfach vorgetragen, nicht unter Schwindelgefühlen, sondern unter Gleichgewichtsproblemen.
40Sie beantragt,
41die Beklagte unter teilweiser Aufhebung des Bescheides vom 25.03.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.09.2015 zu verpflichten, ihr höhere Leistungen nach dem ContStifG wegen einer Fehlbildung des Vestibularisorgans zu gewähren.
42Die Beklagte beantragt,
43die Klage abzuweisen.
44Entschädigungspflichtig sei nur der Ausfall des Gleichgewichtssinns ein- oder beidseitig infolge des Fehlens oder einer entsprechenden Schädigung/Fehlbildung des Vestibularisorgans. Für diese – bei beidseitigem Ausfall ganz erhebliche, bei einseitigem Ausfall immer noch spürbare, in der Regel aber kompensierbare – Beeinträchtigung der Lebensqualität würden 5 bzw. 20 Punkte vergeben. Sei der Gleichgewichtssinn trotz einer Schädigung des Vestibularisorgans noch vorhanden, könnten Schadenpunkte nicht vergeben werden. Im Fall der Klägerin liege nur eine Untererregbarkeit des Organs vor. Mögliche Verschlimmerungen seien als Folgeschäden nicht entschädigungsfähig.
45In einem am 21.01.2019 eingegangenen Schriftsatz hat die Beklagte diese Einschätzung nochmals bekräftigt.
46Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten (3 Bände) Bezug genommen.
47E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
48Die Entscheidung ergeht im Einverständnis der Beteiligten ohne einen weiteren Termin zur mündlichen Verhandlung, § 101 Abs. 2 VwGO.
49Die Klage ist nicht begründet.
50Der Bescheid der Beklagten vom 25.03.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.09.2015 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Bewilligung höherer Leistungen nach dem Conterganstiftungsgesetz (ContStifG) aufgrund einer Fehlbildung des Vestibularisorgans.
51Gemäß § 12 Abs. 1 ContStifG werden Leistungen wegen Fehlbildungen gewährt, die mit der Einnahme thalidomidhaltiger Präparate der Grünenthal GmbH durch die Mutter während der Schwangerschaft in Verbindung gebracht werden können. Die Höhe der Leistungen richtet sich nach der Schwere des Körperschadens und der hierdurch hervorgerufenen Körperfunktionsstörungen, § 13 Abs. 2 Satz 1 ContStifG. Die Schwere des Körperschadens wird durch die Medizinische Punktetabelle konkretisiert, die sich in Anlage 2 der Richtlinien des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend für die Gewährung von Leistungen wegen Conterganschadensfällen vom 09.03.2017 findet. Bei der Bewertung des Schadens ist auszugehen vom Schweregrad der Fehlbildung, wie er bei der Geburt vorlag oder angelegt war, unter Berücksichtigung der zu erwartenden körperlichen Behinderung, § 7 Abs. 2 und § 8 Abs. 2 der Richtlinien. Eine Erhöhung oder Verminderung der Conterganrente bei einer Änderung der Körperfunktionsstörungen nach bestandskräftiger Entscheidung über den Antrag findet nicht statt, § 8 Abs. 3 Satz 1 der Richtlinien. Hiermit ist in Übereinstimmung mit den Vorgaben des § 12 Abs. 1 ContStifG zum Ausdruck gebracht, dass Bezugspunkt der Schadensbewertung die bei Geburt bestehende oder wenigstens angelegte Fehlbildung ist. Hingegen sind Folgeschäden einer Fehlbildung – zum Beispiel die Verschlechterung von Körperfunktionen durch Verschleiß von geschädigten oder die Überlastung von gesunden Organen oder Schäden durch Untersuchungen und Behandlungen im Verlauf des Lebens – bei der Bewertung der Schwere des thalidomidbedingten Körperschadens nicht zu berücksichtigen. Derartige Folge- und Spätschäden sollten nach dem Willen des Gesetzgebers durch die pauschale und deutliche Erhöhung der Conterganrenten, durch jährliche Sonderzahlungen und durch die Bewilligung von Leistungen für „spezifische Bedarfe“ abgegolten werden, ohne die Punktebewertung im Einzelfall zu ändern,
52vgl. die Begründung des Gesetzentwurfs für das 1. Gesetz zur Änderung des ContStifG vom 08.04.2008, BT-Drs. 16/8743, S. 1; Begründung des Gesetzentwurfs für das 2. Gesetz zur Änderung des ContStifG vom 24.03.2009, BT-Drs. 16/12413, S. 7; Begründung des Gesetzentwurfs für das 3. Gesetz zur Änderung des ContStifG vom 12.03.2013, BT-Drs. 17/12678, S. 1, 4 und 7.
53Damit sollte dem sich im Verlauf des Lebens sich regelmäßig verschlechternden Gesundheitsstatus der Leistungsempfänger Rechnung getragen und eine fortdauernde Unsicherheit mit entsprechenden Streitigkeiten über die Punktebewertung vorgebeugt werden. Deshalb sind Körperschäden, die ein contergangeschädigter Mensch im Lauf seines Lebens durch anderweitige Erkrankungen, Unfälle oder altersbedingten Verschleiß oder auch operative Eingriffe erwirbt, keine thalidomidbedingten Fehlbildungen und können bei Punktevergabe nicht berücksichtigt werden.
54Vor diesem Hintergrund ist die von der Beklagten ausgesprochene Ablehnung einer höheren Bepunktung aufgrund einer Fehlbildung des Vestibularisorgans und hierdurch verursachter Gleichgewichtsstörungen rechtlich nicht zu beanstanden. Die diagnostizierten Fehlbildungen im Bereich des Innenohrs stellen keinen über die bereits zuerkannte beiderseitige leichte Schwerhörigkeit hinausgehenden entschädigungsfähigen Tatbestand dar.
55Das paarige Vestibularisorgan (auch Verstibularapparat oder Gleichgewichtsorgan) befindet sich im Innenohr und unterteilt sich in fünf einzelne Bestandteile, drei Bogengänge und die als Maculaorgane bezeichneten Strukturen Sacculus („Säckchen“) und Utriculus („kleiner Schlauch“). Die Bogengänge dienen dem Drehsinn; das Sacculus erfasst vertikale, Utriculus horizontale Beschleunigungen. Die so erfassten Sinneswahrnehmungen werden über den 8. Hirnnerv weitergeleitet.
56Vgl. Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 263. Auflage 2012; wikipedia.org/wiki/Gleichgewichtsorgan.
57Die Sachverständige Frau Dr. X. hat bereits in ihrer der Widerspruchsentscheidung zugrunde liegenden Stellungnahme ausgeführt, dass nach den in der LMU N1. durchgeführten Gleichgewichtsuntersuchungen eine „annähernd seitengleiche“ Funktion attestiert ist. Insbesondere war der Vestibularisapparat bei der Klägerin gleichmäßig thermisch erregbar, was unstreitig als objektivierbarer Beleg seiner Funktionstüchtigkeit gelten kann. Zudem heißt es im RAD-Befund vom 11.09.2013 u.a.: „...Kein Nachweis einer Pathologie im Verlauf des 7. Und 8. Hirnnerven beidseits. Regelrechte Anatomie der Innenohrstrukturen beidseits. Der innere Gehörgang erscheint beidseits frei...“. Hiermit in Übereinstimmung steht auch die von der Klägerin vorgelegte ärztliche Bescheinigung der LMU Prof. Dr. J. N. vom 22.09.2014, derzufolge beide Vestibularisorgane annähernd seitengleich erregbar, wenngleich beidseits verplumpt im Sinne einer „diskreten Fehlbildung“ seien. Frau Dr. X. und Herr Dr. Q1. haben in ihrer gemeinsamen Stellungnahme vom 30.04.2018 nachvollziehbar dargelegt, dass sich im Fall einer seitengleichen thermischen Erregbarkeit beider Vestibularisorgane der Schluss auf die Funktionsfähigkeit auch der Bogengänge ziehen lässt. Die dargestellte „diskrete Schädigung“ des Gleichgewichtsorgans lässt daher nach der Auffassung beider nicht den Schluss auf eine Funktionsbeeinträchtigung zu.
58Diese Aussage wird durch den Verfahrensablauf gestützt. Die Klägerin hat Funktionsstörungen des Gleichgewichtsorgans erstmals mit der Vorlage des Befundberichts 2014, also mehr als 50 Jahre nach Schadenseintritt geltend gemacht. Während für die Schwerhörigkeit, die zum Grund des Revisionsantrages gemacht wurde, eine Erklärung der Mutter und eine eigene Erklärung der Klägerin zur Schulzeit vorlagen, ergeben sich aus der medizinischen Akte keinerlei Anhaltspunkte für Gleichgewichtsstörungen oder Schwindel im zeitlichen Verlauf bis 2014. Die Klägerin hat insoweit offenbar eine vollkommen normale körperliche Entwicklung durchlaufen. Wenn nunmehr vorgetragen wird, sie – die Klägerin – habe auf die erstmalige Nachfrage nach Schwindel nicht reagiert, weil sie ihre vorhandenen Beschwerden als Gleichgewichtsstörung aufgefasst habe, ist das nicht nachvollziehbar. Schwindel und Gleichgewichtsstörung sind aus Sicht des medizinischen Laien kaum abzugrenzen und werden selbst in der Fachliteratur teils synonym verwendet. Selbst wenn man davon ausgeht, dass unter einer Gleichgewichtsstörung eher Beschwerden in horizontaler oder vertikaler Richtung, unter Schwindel eher Beschwerden in Bezug auf die Drehbeschleunigung gefasst werden, bringt dieses Schweigen aus Sicht einer Antragstellerin keinerlei Sinn. Vor diesem Hintergrund finden sich keine Anhaltspunkte für eine bereits bei Geburt vorhandene oder wenigstens angelegte Funktionsbeeinträchtigung.
59Soweit die Klägerin heute darüber klagt, in der Dunkelheit oder bei Mündigkeit nicht hinreichend geradeaus gehen zu können, beim abrupten Aufstehen ein Schwindelgefühl zu verspüren oder Höhen zu meiden etc., ergibt sich nichts Abweichendes. In ihrer allgemeinen Beschreibung vom 30.04.2018 haben beide Sachverständige nachvollziehbar ausgeführt, dass Schwindelgefühle durchaus zahlreiche Ursachen haben können, da das menschliche Gleichgewichtssystem aus vielen Komponenten besteht, die das Symptom, die Beschwerde Schwindel hervorrufen können. Neben den Labyrinthen, als Sitz eines Teiles des Gleichgewichtssystems im Innenohr, zählen unter anderem die Tiefensensibilität, das visuelle System und der Tastsinn dazu. Die Verarbeitung der verschiedenen Impulse und Informationen aus diesen Organen wird dann im Gehirn vorgenommen. Das Vestibular-Organ sei, im Vergleich mit den Hauptursachen, vergleichsweise selten als maßgebliche Kausalität für Schwindel verantwortlich. Dem tritt der Umstand zur Seite, dass im Fall der Klägerin die Vestibularis-Organe aufgrund der objektivierbaren Befunde durchaus funktionstüchtig sind.
60Neue wissenschaftliche Erkenntnisse sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Bei dieser Sachlage besteht kein Anlass zu weiterer Aufklärung durch ein gerichtliches Sachverständigengutachten einschließlich einer körperlichen Untersuchung der Klägerin. Die seitens der Beklagten vorgelegten fachärztlichen Stellungnahmen bauen auf den von der Klägerin selbst beigebrachten Befundberichten der LMU N1. auf und stellen diese keineswegs in Abrede. Konkrete Tatsachen, die Zweifel an der Objektivität oder Unabhängigkeit der Sachverständigen aufkommen lassen, sind nicht ersichtlich. Nicht berechtigt ist die Annahme, sie stünden gleichsam „im Lager der Beklagten“ und seien folglich um eine ihr günstige Begutachtung bemüht. Dessen ungeachtet beleibt darauf hinzuweisen, dass die Zahl der Fachärzte und Fachärztinnen mit speziellen Kenntnissen und Erfahrungen auf dem Gebiet der Einordnung von Thalidomid-Schädigungen eng begrenzt ist.
61Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 19.01.2016 - 16 A 817/15 -.
62Eine höhere Bepunktung ergibt sich auch nicht allein aus dem Umstand, dass auch die Beklagte eine Verplumpung von Innenohrstrukturen und eine verzögerte Erregbarkeit der Vestibularisorgane nicht in Abrede stellt. Solange dies nicht zu einer Funktionsbeeinträchtigung führt, ergibt sich daraus kein Entschädigungstatbestand, obgleich Nr. 4.26 der medizinischen Punktetabelle auch die „Fehlbildung des Gleichgewichtsorgans“ aufführt. Denn die Höhe der Leistungen nach dem ContStifG richtet sich nach der Schwere des Körperschadens und der hierdurch hervorgerufenen Körperfunktionsstörung, § 13 Abs. 2 Satz 1 ContStifG. Bei den zumeist im Vordergrund stehenden orthopädischen Schäden fallen Körperschaden und Funktionsstörung regelmäßig zusammen. Bei der Schädigung innerer Organe besteht ein solcher Automatismus nicht. Es widerspräche vielmehr in der Regel der Zielsetzung des ContStifG, einen Ausgleich auch für solche Fehlbildungen innerer Organe zu gewähren, die sich nicht in Funktionsbeeinträchtigungen manifestieren. Da hier nicht mit hinreichender Gewissheit feststeht, dass die (unterstellten) Funktionsstörungen auf den attestierten Fehlbildungen beruhen, liegt kein Entschädigungstatbestand vor.
63Vgl. für den umgekehrten Fall einer nicht dargelegten Fehlbildung (nur „Untererregbarkeit“ des Gleichgewichtsorgans bei Schwindelsymptomatik) vgl. Urteil der Kammer vom 01.08.2017 - 7 K 2052/15 -.
64Angesichts dessen kann auch offen bleiben, wie es zu werten ist, dass der RAD-Befund vom 11.09.2013 eine regelrechte Anatomie der Innenohrstrukturen beidseits attestiert, eine Fehlbildung der vestibularen Strukturen auch vorliegend also keineswegs offenkundig ist.
65Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 2 VwGO.
66Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11 und § 711 ZPO.
67Rechtsmittelbelehrung
68Gegen dieses Urteil steht den Beteiligten die Berufung an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen zu, wenn sie von diesem zugelassen wird. Die Berufung ist nur zuzulassen, wenn
69- 70
1. ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen,
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2. die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist,
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3. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
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4. das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
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5. ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.
Die Zulassung der Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, schriftlich zu beantragen. Der Antrag auf Zulassung der Berufung muss das angefochtene Urteil bezeichnen.
76Statt in Schriftform kann die Einlegung des Antrags auf Zulassung der Berufung auch als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a der Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) erfolgen.
77Die Gründe, aus denen die Berufung zugelassen werden soll, sind innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils darzulegen. Die Begründung ist schriftlich oder als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der ERVV bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, einzureichen, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist.
78Vor dem Oberverwaltungsgericht und bei Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Oberverwaltungsgericht eingeleitet wird, muss sich jeder Beteiligte durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Als Prozessbevollmächtigte sind Rechtsanwälte oder Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, die die Befähigung zum Richteramt besitzen, für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts auch eigene Beschäftigte oder Beschäftigte anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts mit Befähigung zum Richteramt zugelassen. Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 4 der Verwaltungsgerichtsordnung im Übrigen bezeichneten ihnen kraft Gesetzes gleichgestellten Personen zugelassen.
79Die Antragsschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.
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Referenzen
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