Urteil vom Verwaltungsgericht Magdeburg (1. Kammer) - 1 A 84/14

Tatbestand

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Der Kläger begehrt die Feststellung der Rechtswidrigkeit einer polizeilichen Maßnahme anlässlich der Durchführung einer Versammlung.

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Seit fast 20 Jahren nimmt die „Initiative gegen das Vergessen“ den Jahrestag der Bombardierung Magdeburgs am 16.01.1945 zum Anlass für sog. Trauermärsche. Im September 2013 meldete die Initiative für den 18.01.2014 sieben Trauermärsche an. Zwei Tage vor dem Versammlungstermin änderte sie ihre Anmeldungen und vereinigte die sieben Versammlungen zu einem Trauermarsch, der am Bahnhof Thälmannwerk beginnen, nach Sudenburg führen und wieder zurück zum Bahnhof Thälmannwerk gelangen sollte. Die Teilnehmer dieser Versammlung, die nahezu ausschließlich mit der Bahn anreisen wollten, sollten sich am 18.01.2014 zwischen 12.00 Uhr und 13.00 Uhr in der Nähe des Bahnhofs Thälmannwerk in der Schilfbreite versammeln.

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Am 18.01.2014 gegen 10.25 Uhr meldete die Deutsche Bahn AG der Beklagten, dass wegen eines Kabelbrandes (vermutlich durch einen Anschlag verursacht) die Bahnstrecke Magdeburg – Halle im Bereich des Haltepunkts Magdeburg Süd-Ost gesperrt ist. Gegen 10.32 Uhr meldete sich der für die „Initiative gegen das Vergessen? auftretende Anmelder des Trauermarsches bei der Beklagten und bat um Prüfung, ob angesichts der im Internet verbreiteten Meldungen über Gegenproteste am Bahnhof Thälmannwerk der Trauermarsch beginnen könne. Auf den Hinweis der Beklagten, dass wegen eines Anschlages auf technische Anlagen Zugreisen zum Thälmannwerk bis auf Weiteres nicht möglich seien, schlug der Anmelder vor, einen Trauermarsch in „Ostelbien?, wie in einer der sieben ursprünglichen Anmeldungen angegeben, durchzuführen. Nach der Prüfung der Anreisemöglichkeiten über den Herrenkrugbahnhof, teilte die Beklagte dem Anmelder um 10.49 Uhr mit, dass die Versammlung dorthin verlegt werden könne. Gleichzeitig wies die Beklagte ihre Einsatzkräfte an, zur Sicherung des verlegten Versammlungsortes der Initiative keine gewaltgeneigten und sonst störwilligen Personen über die Elbbrücken in das „ostelbische“ Stadtgebiet zu lassen.

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Auf allen Elbbrücken richtete die Beklagte gegen 10.57 Uhr zunächst Kontrollstellen ein, an denen die eingesetzten Polizeikräfte Durchgangskontrollen zur Abhaltung von Störern vornehmen und Nichtstörer durchlassen sollten. Nachdem die Verlegung des Versammlungsortes der „Initiative gegen das Vergessen? in der Öffentlichkeit bekannt wurde, kam es zu einem verstärkten Zustrom von Gegendemonstranten auf die Elbbrücken und die dortigen Kontrollstellen.

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Gegen 12.27 Uhr ordnete die Beklagte die komplette Sperrung aller Elbbrücken an. Gegen 12.31 Uhr sperrten von der Beklagten eingesetzte Polizeikräfte die Jerusalembrücken vollständig ab. Die Beklagte lies lediglich Vertreter der Presse, Landtagsabgeordnete und in besonderen Einzelfällen Anwohner die Elbbrücken passieren. Gegen 12.49 Uhr besetzten ca. 100 Gegendemonstranten Gleise im Bereich des Herrenkrugbahnhofs. Aus diesem Grunde konnten die Teilnehmer der Versammlung der „Initiative gegen das Vergessen? auch den Bahnhof Herrenkrug nicht erreichen. Auf dem Weg dorthin warteten im Bereich des Bahnhofs Magdeburg – Neustadt zwei Züge der Deutschen Bahn AG auf ihre Weiterfahrt, in denen sich ca. 600 Teilnehmer der „Initiative gegen das Vergessen? befanden. Vor dem Bahnhof Neustadt versammelten sich gegen 13.50 Uhr ca. 600 Gegendemonstranten. Ein Teil dieser Gegendemonstranten griff die dort eingesetzten Polizeikräfte mit Flaschenwürfen und Pyrotechnik an. Im Bereich der Rückfront griffen Gegendemonstranten einen Zug der Deutschen Bahn, in dem sich Teilnehmer der Versammlung der „Initiative gegen das Vergessen? befanden, mit Flaschenwürfen an. Der Anmelder der „Initiative gegen das Vergessen? verlangte die schnelle Räumung der Gleise und drohte damit, aus den Zügen auszusteigen und einen spontanen Aufzug durchzuführen. Nachdem der Anmelder der Initiative und der Beklagte die Verlegung der Versammlung in den Süden der Stadt erörterten und die Beklagte die Rückfahrmöglichkeiten prüfte, verlegte der Anmelder der Initiative gegen 14.28 Uhr die Versammlung wieder in den Südteil der Stadt. Daraufhin hob die Beklagte gegen 14.34 Uhr die Sperrung der Elbbrücken auf.

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Am 08.02.2014 hat der Kläger Klage beim Verwaltungsgericht Magdeburg erhoben. Zur Begründung seines Begehrens trägt er vor: Er habe am 18.01.2014 in Magdeburg friedlich an einer der angemeldeten Versammlungen in Magdeburg Ost teilnehmen und danach seinen Garten im Osten der Stadt aufsuchen wollen. Er habe zum Erreichen der Versammlungsorte die Elbe vom Westen in den Ostteil im Bereich Walter-Rathenau-Str./Markgrafenstr./Jerusalembrücke gegen 14.03 Uhr überqueren wollen. Dabei habe er festgestellt, dass die Elbbrücken hermetisch abgeriegelt waren. Ein Polizeibeamter habe ihm an der Jerusalembrücke den Zugang zu den Versammlungen am Herrenkrug und in der Herrenkrugstraße/Breitscheidstraße in „Ostelbien“ untersagt. Eine Überquerung der Brücke sei ihm ohne Nennung einer Begründung und ohne Angabe einer Rechtsgrundlage verweigert worden. Es hätten keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür vorgelegen, dass er in dem von dem Aufenthaltsverbot bzw. Platzverweis umfassten Bereich Straftaten begehen würde. Er sei in seinem Grundrecht auf Versammlungsfreiheit und in seinem Recht auf allgemeine Handlungsfreiheit in schwerwiegender Weise eingeschränkt worden. Da er auch zukünftig an Versammlungen in Magdeburg teilnehmen werde, läge zudem eine Wiederholungsgefahr vor. Es sei nicht nachvollziehbar, dass trotz der massiven Anzahl der eingesetzten Polizeikräfte ein polizeilicher Notstand vorgelegen haben soll.

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Der Kläger beantragt,

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festzustellen, dass die Sperrung der Jerusalembrücken durch die Beklagte am 18.01.2014 rechtswidrig war.

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Die Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Zur Klageerwiderung trägt sie im Wesentlichen vor: Die Klage sei nicht zulässig. Die streitige polizeiliche Absperrung sei ein Realakt gewesen und könne auf die polizeiliche Generalklausel gestützt werden. Bei der streitigen Maßnahme habe es sich um keinen Platzverweis gehandelt. Keinesfalls hätten Polizeibeamte dem Kläger ausdrücklich oder eindeutig erklärt, er dürfe (irgend-) ein Gebiet nicht betreten. Der Kläger sollte nur die von der Sperrung betroffenen Brücken nicht queren. Theoretisch hätte er gleichwohl den Bereich „Ostelbiens“ über die Autobahn oder über Schönebeck betreten können. Die Absperrungen seien nicht gegen Personen gerichtet gewesen, welche die Absicht gehabt hätten, an den Versammlungen in den Bereichen Herrenkrugbahnhof und Herrenkrugstraße/Breitscheidstraße teilzunehmen. Diese Personen seien von den Brückensperrungen nur reflexartig betroffen gewesen. Die Sperrung der Elbbrücken sei ein geeignetes und erforderliches polizeiliches Mittel gewesen. Wegen des großen Andrangs unfriedlicher und sonst störwilliger Gegendemonstranten hätten Durchlässe nicht mehr gehalten werden können. Durchbrüche mit körperlichen Konfrontationen wären nicht mehr zu vermeiden gewesen. Nur feste Polizeiketten seien in der Lage gewesen, Personengruppen abzuhalten. Gegen 13.20 Uhr hätten sich an den Nordbrücken ca. 2.000 Personen befunden und gegen 12.51 hätten ca. 200 Personen des linksextremen Lagers versucht, die Polizeikette auf der Strombrücke zu durchbrechen. Die Beklagte habe die Versammlung der „Initiative gegen das Vergessen“ vor gewaltbereiten Gegendemonstranten schützen müssen. Geringere Mittel in Form von anderweitigen Absperrlinien seien in Anbetracht der dynamischen Lage und auf Grund der Straßentopographie „Ostelbiens“ im Augenblick der polizeilichen Lagebewältigung nicht möglich gewesen. Zeitliche Verzögerungen zum Zugang den beiden in „Ostelbien? angemeldeten Gegendemonstrationen seien angesichts der jeweils angemeldeten Dauer von mehr als sechs Stunden keine unangemessene Einschränkung. Die Rechtsprechung erachte Verzögerungen von 75 Minuten durch Identitätsfeststellungen an einer Kontrollstelle bei (Groß-)Demonstrationen für zumutbar. Schon gegen 13.10 Uhr sei die Öffnung der Brücken in Ost-West-Richtung angeordnet worden.

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In der mündlichen Verhandlung vom 02.07.2015 hat das Gericht zu den Umständen der Sperrung der Jerusalembrücken den verantwortlichen Einsatzleiter der Beklagten, den Zeugen L., vernommen. Hinsichtlich der Einzelheiten der Beweisaufnahme wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung Bezug genommen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte und den beigezogenen Verwaltungsvorgang verwiesen. Diese Unterlagen waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Entscheidungsfindung.

Entscheidungsgründe

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Die auf die nachträgliche Feststellung der Rechtswidrigkeit der Sperrung der Jerusalembrücken am 18.01.2014 gerichtete Klage ist zulässig.

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Der Kläger hat für das von ihm verfolgte Begehren das erforderliche Feststellungsinteresse. Dabei kann dahinstehen, ob in Fällen wie dem des Klägers die Klage in entsprechender Anwendung von § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO als Fortsetzungsfeststellungsklage oder als allgemeine Feststellungsklage nach § 43 VwGO statthaft ist. Denn für beide Klagearten besteht das gleichermaßen erforderliche schutzwürdige Interesse des Klägers an der begehrten Feststellung. Es folgt – ausgehend von der Behauptung, die streitige Brückensperrung habe ihn an der von ihm beabsichtigten Teilnahme an einer der im östlichen Teil des Stadtgebietes angemeldeten Versammlungen gehindert – aus der möglichen unmittelbaren wie mittelbaren Betroffenheit im grundrechtsrelevanten Bereich der Versammlungsfreiheit nach Art. 8 Abs. 1 GG und hinsichtlich der Freiheit der Person nach Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG (vgl. VG Frankfurt a. M., U. v. 24.09.2014 – 5 K 659/14.F -, juris, Rdnr. 16 m. w. N.).

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Die Klage ist auch begründet.

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Die Sperrung der Jerusalembrücken durch die Beklagte am 18.01.2014, durch die dem Kläger gegen 14.03 Uhr die Überquerung der Elbe von Westen in den Ostteil der Stadt Magdeburg verwehrt wurde, war rechtswidrig und verletzte den Kläger in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO).

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Die Rechtmäßigkeit der Sperre der Jerusalembrücken am 18.01.2014 bis 14.34 Uhr beurteilt sich nach § 36 Abs. 2 SOG LSA (Betretens- und Aufenthaltsverbot) und nicht nach der polizeilichen Generalklausel des § 13 SOG LSA. Die Sperrung der Elbbrücke wirkte gegenüber dem hiervon betroffenen Kläger wie ein Verbot, die auf der östlichen Seite der Elbe befindlichen Stadtteile zu betreten und sich dort aufzuhalten. Die Möglichkeit des Klägers über einen längeren Umweg über die Autobahn oder über Schönebeck die östlichen Stadtteile von Magdeburg betreten zu können, war im Zeitpunkt der polizeilichen Maßnahme – wie es die Beklagte in der Klageerwiderung selbst vortrug – nur theoretischer Natur. Die Polizeiabsperrung ist das Verbot, einen bestimmten Ort zu betreten oder sich in einem größeren Gefahrenbereich aufzuhalten.

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Rechtsgrundlage für die Polizeiabsperrung ist grundsätzlich das Betretensverbot als eine Form des Platzverweises (§ 36 Abs. 1, 2. Alt. SOG LSA) oder das Aufenthaltsverbot (§ 36 Abs. 2 SOG LSA). Die Absperrung kann durch die Anordnung von Polizeibeamten, quergestellte Dienstfahrzeuge, durch Flatterleinen (meist rot/weiß mit Aufschrift Polizeiabsperrung) oder jede andere schlüssige Handlung ausgeführt werden (Schmidtbauer, in: Schmidtbauer/Steiner, Bayerisches Polizeiaufgabengesetz, Kommentar, 3. Aufl. 2011, Art. 16, Rdnr. 19 f.). Auch durch das Aufstellen von Absperrgittern oder die Bildung einer Polizeikette kann eine solche Absperrung erfolgen. Entscheidend ist nur, ob die Absperrung hinsichtlich ihrer Wirkung dazu führt, dass der von ihr Betroffene einen bestimmten Ort nicht mehr betreten oder sich nicht mehr in einem bestimmten größeren Bereich nicht mehr aufhalten kann.

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Die Sperrung der Elbbrücken am 18.01.2014 zielte darauf ab, weiträumig den Zugang von Gegendemonstranten zur Aufzugsroute der „Initiative gegen das Vergessen? zu unterbinden. Eine solche (weiträumige) Absperrung des Ortes einer angemeldeten Versammlung zugunsten ihrer Teilnehmer, um ihn von angekündigten Blockadeaktionen von Gegendemonstranten oder Übergriffen von Gewalttätern freizuhalten stellt sich in aller Regel als Betretungs- oder gar als Aufenthaltsverbot dar (vgl. Schmidtbauer, a. a. O., Rdnr. 19).

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Ein Rückgriff auf die polizeiliche Generalklausel des § 13 SOG LSA scheidet vorliegend wegen des Vorrangs der speziellen Eingriffbefugnisse in § 36 Abs. 2 und Abs. 1, 2. Alt. SOG LSA sowie in § 20 Abs. 2 Nr. 6 und Abs. 3 SOG LSA für sog. Kontrollstellen als Rechtsgrundlage aus. Ein solcher Rückgriff kommt allenfalls in Betracht, wenn sich die Beeinträchtigungen insoweit als weniger schwerwiegend als in den ausdrücklich in den §§ 14 ff. SOG LSA geregelten Fällen darstellen (vgl. zum dortigen insoweit inhaltsgleichen Landesrecht: NdsOVG, U. v. 30.08.2012 – 11 LB 372/10 -, juris, Rdnr. 69). Der Katalog der polizeilichen Standardbefugnisse hat gegenüber solchen Maßnahmen abschließenden Charakter, deren Eingriffsintensität die der vergleichbaren Standartmaßnahmen übersteigt. Das ergibt sich aus dem Grundsatz des Gesetzesvorbehalts, der um so höhere Anforderungen an die Regelungsdichte einer Rechtgrundlage stellt, je intensiver die in Frage stehende Maßnahme in die Rechte des Betroffenen eingreift (Rachor, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 5. Aufl. 2012, Rdnr. E 717 ff.). Die streitige Sperrung der Elbbrücken müsste demzufolge weniger schwerwiegend sein als die Einrichtung einer Kontrollstelle nebst deren Sicherung durch eine Absperrung (vgl. § 20 Abs. 3 Satz 2, 2. Alt. SOG LSA) oder ein Platzverweis oder ein Aufenthaltsverbot. Für die streitige, nahezu vollständige Absperrung der Elbbrücken am 18.01.2014 bis 14.34 Uhr lässt sich das aber nicht feststellen. Etwas anderes mag für den Fall gelten, in dem der Betroffene durch die polizeiliche Absperrung am Verlassen einer Ortslage gehindert wird und diese polizeiliche Maßnahme hinsichtlich der Intensität in das Grundrecht auf Freizügigkeit hinter einer Ingewahrsamnahme zurückbleibt (vgl. NdsOVG, B. v. 26.09.2006 – 11 LA 196/05 -, juris, Rdnr. 19).

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Für die Sperrung der Jerusalembrücken kommt als Rechtsgrundlage auch kein Platzverweis in Form eines Betretungsverbotes i. S. v. § 36 Abs. 1, 2. Alt. SOG LSA in Betracht. Denn der Platzverweis kann sich nur auf einen konkreten, räumlich begrenzten Ort und nicht auf einen darüber hinausgehenden örtlichen Bereich i. S. d. § 36 Abs. 2 SOG beziehen. Die Sperrung sämtlicher Elbbrücken innerhalb des Stadtgebietes von Magdeburg führte jedenfalls für einen Fußgänger zu einem Verbot, die östlich der Elbe liegenden Stadtteile der Landeshauptstadt zu betreten und sich dort aufzuhalten. Für eine von der Sperrung der Jerusalembrücken betroffene Person, welche eine der parallel über den linken Elbarm verlaufenden Brücken zu Fuß überqueren wollte, wirkte die Sperrung der Brücke faktisch wie ein Aufenthaltsverbot i. S. v. § 36 Abs. 2 SOG LSA. Die Möglichkeit über die Autobahn oder über Schönebeck einen auf der östlichen Seite der Elbe gelegenen Stadtteil zu erreichen bestand für einen Fußgänger während der Zeit der Sperrung sämtlicher Elbbrücken im Stadtgebiet am 18.01.2014 – wie die Beklagte im gerichtlichen Verfahren selbst ausführte – nur theoretisch.

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Die auf § 36 Abs. 2 SOG LSA zu stützende Sperrung der Jerusalembrücken am 18.01.2014 bis 14.34 Uhr war rechtswidrig, weil ein Aufenthaltsverbot gegen einen Nichtstörer nicht erlassen werden kann und die Sperrung der Brücken auf unverhältnismäßige Weise in die Grundrechte des Klägers eingriff.

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Auf der Grundlage des § 36 Abs. 2 SOG LSA darf ein Aufenthaltsverbot gegenüber einem Nichtstörer ausgesprochen werden. Denn das Aufenthaltsverbot des § 36 Abs. 2 SOG LSA setzt voraus, dass Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass der Adressat des Aufenthaltsverbotes innerhalb des vom Verbot erfassten Gebietes eine Straftat begehen wird. Die Tatsachen für die Annahme der Begehung einer Straftat müssen sich in jedem Fall auf den Adressaten beziehen und können nicht losgelöst von ihm betrachtet und durch einen Gruppenbezug ersetzt werden (VG Frankfurt, U. v. 01.12.2014 – 5 K 2486/13.F -, juris, Rdnr. 24).

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Hinsichtlich des Klägers ist nicht bekannt, dass es Hinweise gab, er werde im östlichen Stadtgebiet eine Straftat begehen. Zur Überzeugung des Gerichts ist nicht festzustellen, dass der Kläger Störer im polizeirechtlichen Sinne (§§ 7, 8 SOG LSA) war. Es bestehen weder Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger an einer Blockade der Versammlung der „Initiative gegen das Vergessen? teilnehmen oder gar sich an Ausschreitungen gegen diese Versammlung beteiligten wollte. Noch besteht irgendein Anhalt dafür, dass der Anschein bestanden hat, dass vom Kläger derartige Gefahren ausgehen können. Auch aus der informatorischen Anhörung in der mündlichen Verhandlung ergaben sich im Nachhinein keine Hinweise dafür, dass der Kläger im östlichen Stadtgebiet der Landeshauptstadt eine Straftat begehen wollte oder etwa sein Verhalten hierfür einen Verdacht nahelegte.

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Das auch gegen einen Nichtstörer gerichtete Aufenthaltsverbot verletzte darüber hinaus und dessen ungeachtet den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Mittel (§ 5 SOG LSA). Bei eine Beschränkung der Freizügigkeit oder Versammlungsfreiheit gegen einen Nichtstörer ist bei der Ausübung des behördlichen Ermessens der besonderen Bedeutung der betroffenen Grundrechte Rechnung zu tragen und an die Zulässigkeit der Freiheitsbeschränkungen ein besonders strenger Maßstab anzulegen.

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Das Vorgehen gegen Nichtstörer muss sich auf das sachlich und zeitlich Unumgängliche beschränken. Die Maßnahme muss nicht nur zur Gefahrenabwehr geeignet, sondern auch erforderlich und angemessen sein. Von mehreren voraussichtlich gleich geeigneten Mitteln ist dasjenige zu wählen, das den Einzelnen und die Allgemeinheit am wenigsten beeinträchtigt. Das Gebot der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne verlangt, dass die Schwere des Eingriffs bei einer Gesamtabwägung nicht außer Verhältnis zu dem Gewicht der ihn rechtfertigenden Gründe stehen darf. Die Prüfung an diesem Maßstab kann dazu führen, dass ein an sich geeignetes und erforderliches Mittel des Rechtsgüterschutzes nicht angewandt werden darf, weil die davon ausgehenden Grundrechtsbeeinträchtigungen den Zuwachs an Rechtsgüterschutz überwiegen, so dass der Einsatz des Schutzmittels als unangemessen erscheint. Um diese Anforderungen zu erfüllen, darf insbesondere ein Vorgehen gegen die eigentlichen Störer bzw. eine Beseitigung der Gefahr durch die Polizei auf andere Weise keine Aussicht auf Erfolg versprechen (vgl. NdsOVG, B. v. 26.09.2006 – a. a. O., Rdnr. 22).

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Zwar steht das Gebot, vor der Inanspruchnahme von Nichtstörern eigene Kräfte gegen die Störer einzusetzen, unter dem Vorbehalt der Verfügbarkeit solcher Kräfte und ist eine ständige lückenlose Präsenz der Polizeikräfte über weite Teile des Gebietes einer Großstadt nicht möglich. Andererseits ist aber allgemein anerkannt, dass polizeiliche Verfügungen nicht lediglich der Erleichterung polizeilicher Arbeit dienen. Faktische Schwierigkeiten bei der Ermittlung von Störern rechtfertigen deshalb nicht ohne Weiteres die Beeinträchtigung von Rechtsgütern Dritter. Außerdem genügt die pauschale Behauptung einer Behörde nicht, dass sie wegen der Wahrnehmung anderer Polizeiaufgaben und trotz der Hinzuziehung externer Kräfte zu einem wirksamen Schutz der Aufzugsroute einer Versammlung ohne die Inanspruchnahme von Nichtstörern voraussichtlich nicht in der Lage sei. Vielmehr bedarf es konkreter Nachweise (vgl. NdsOVG, B. v. 26.09.2006 – a. a. O., Rdnr. 23).

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Diesen verfassungsrechtlichen Vorgaben ist die Einsatzleitung der Polizei im maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses der streitigen Anordnung (sog. ex ante-Prognose) nicht hinreichend gerecht geworden.

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Es ist trotz der am 18.01.2014 gegen 12.30 Uhr und auch noch gegen 14.00 Uhr bestehenden Gefahrenlage nicht zu ersehen, dass die Versammlung der „Initiative gegen das Vergessen“ nicht durch weniger belastende Maßnahmen gegen die friedlichen Teilnehmer einer Gegendemonstration oder andere Nichtstörer hätte geschützt werden können und die Sperrung der Jerusalembrücken und der anderen Elbbrücken im Gebiet der Landeshauptstadt Magdeburg erforderlich war. Als weniger in die Rechte des Nichtstörers eingreifende Maßnahme wäre eine Absperrung eines Schutzstreifens der Aufzugsroute der „Initiative gegen das Vergessen? und die Einrichtung von Kontrollstellen an den Elbbrücken in Betracht gekommen, um störungswillige Gegendemonstranten vom Versammlungsort der „Initiative gegen das Vergessen? fern zu halten. Gegebenenfalls hätten die Kontrollstellen auf der Grundlage des § 20 Abs. 3 Satz 2, 2. Alt. SOG LSA durch geeignete Absperrungen gesichert werden können. Die Beklagte hat im gerichtlichen Verfahren selbst vorgetragen, sie habe am 18.01.2014 zur Sicherung der angemeldeten Versammlungen im Stadtgebiet 2.600 Polizisten und 900 Kräfte der Bahnpolizei eingesetzt. Demzufolge ist nicht nachvollziehbar, weshalb die Beklagte nicht nach der Verlegung des Versammlungsortes der „Initiative gegen das Vergessen“ um 10.49 Uhr die bereits um 10.57 Uhr eingerichteten Kontrollstellen und die geänderte Aufzugsroute der „Initiative gegen das Vergessen? absichern konnte. Es ist zwar nicht zu verkennen, dass sich potentielle Störer von Nichtstörern oft nur schwer unterscheiden lassen. Dies enthebt die Polizei aber nicht von der Pflicht, so weit wie möglich Differenzierungen vorzunehmen und in erster Linie gegen die Störer vorzugehen (vgl. NdsOVG, B. v. 26.09.2006 – a. a. O., Rdnr. 30).

30

Die Einrichtung von Kontrollstellen auf den Elbbrücken wäre grundsätzlich ein wirksames Instrumentarium gewesen, um Personen am Überqueren der Brücken zu hindern. Liegen nämlich Anhaltspunkte für die Begehung von Straftaten vor, darf die Polizei die verdächtigten Personen anhalten, ihre Identität ermitteln und einen Datenabgleich vornehmen. Stellt sich dabei heraus, dass der Betreffende bereits als Gewalttäter in Erscheinung getreten ist, kommt eine Ingewahrsamnahme aus präventiven Gründen in Betracht. Auf diese Weise hätten am 18.01.2014 auf den Elbbrücken erkennbar gewaltbereite Personen „herausgefiltert“ werden können, während Nichtstörern die Überquerung der Brücken hätte ermöglicht werden können. Darüber hinaus kann eine Ingewahrsamnahme nach § 37 Abs. 1 Nr. 2 SOG LSA schon gerechtfertigt sein, um eine unmittelbar bevorstehende Begehung einer Ordnungswidrigkeit von erheblicher Gefahr für die Allgemeinheit, wozu auch ein Verstoß nach § 26 Abs. 2 Nr. 1 VersG LSA gehört, zu verhindern. Dies würde dann auch für Personen gelten, bei denen der konkrete Verdacht bestand, dass sie sich an rechtswidrigen Blockadeaktionen innerhalb einer für die Aufzugsroute der „Initiative gegen das Vergessen? errichteten Schutzzone beteiligen wollten (vgl. NdsOVG, B. v. 26.09.2006 – a. a. O., Rdnr. 27).

31

In seiner Vernehmung konnte der Einsatzleiter der Beklagten vom 18.01.2014 zwar nachvollziehbar schildern, dass auf der westlichen Seite der Elbe zahlreiche gewaltbereite Gegendemonstranten unterwegs waren und versuchten, die östliche Seite der Elbe zu erreichen. Auch ist seine Einschätzung nachvollziehbar, dass von diesem Teil der Gegendemonstranten die Gefahr der Störung der Versammlung der „Initiative gegen das Vergessen“ ausging. Das Gericht kann jedoch nicht nachvollziehen, weshalb dieser Gefahr nur durch die Sperrung der Elbbrücken und nicht auch durch die o. g. – für die Nichtstörer weniger belastenden – polizeirechtlichen Maßnahmen begegnet werden konnte. Auch sofern die Gefahr bestanden haben sollte, dass gewaltbereite Gegendemonstranten die Kontrollstellen an den Jerusalembrücken überrennen, hätte die Beklagte dem durch eine Verstärkung der an den Brücken eingesetzten Polizeikräfte Rechnung tragen können. Der Zeuge L. hat in seiner Vernehmung selbst eingeräumt, die Kontrollstellen hätten durch die Zuführung weiterer Kräfte verstärkt werden können. Der Hinweis des Zeugen, dass dann andere Aufgaben hätten vernachlässigt werden müssen, ist nachvollziehbar, aber keine ausreichende Begründung dafür, zusätzliche Polizeikräfte für die Verstärkung von Kontrollstellen vorzuhalten. Auch lassen sich die Brücken als Zugänge zu den östlichen Stadtteilen Magdeburgs deutlich einfacher kontrollieren als die Wege zu der geplanten Route der „Initiative gegen das Vergessen“ in den Stadtteilen westlich der Elbe.

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Darüber hinaus erscheint es fraglich, weshalb die Sperrung der Jerusalembrücken um 14.03 Uhr, als der Kläger sie überqueren wollte, noch erforderlich war. Denn der Einsatzleiter der Beklagten, der Zeuge L. hatte bereits um 13.10 Uhr angeordnet, soweit möglich, den Individualverkehr an den Brücken wieder zuzulassen. Es käme aber vor, dass solche Informationen nicht bei jedem Polizeivollzugsbeamten sofort ankommen. Diese Anordnung des Einsatzleiters spricht jedenfalls gegen eine von ihm erkannte Notwendigkeit einer Sperrung der Elbbrücken über 13.10 Uhr hinaus.

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Hinzu kommt, dass es nach den Angaben des Einsatzleiters in der mündlichen Verhandlung an den Jerusalembrücken zu keinen Durchbruchsversuchen seitens gewaltbereiter Gegendemonstranten oder Auseinandersetzungen zwischen Gegendemonstranten und den eingesetzten Polizeikräften gekommen ist.

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Auch waren die mit der nahezu vollständigen Sperrung aller Elbbrücken verbundenen Eingriffe in die Grundrechte der Versammlungsfreiheit und der Freizügigkeit gegenüber Nichtstörern nicht angemessen. Denn es hätte trotz einer erheblichen Gefahrenlage zumindest der schnellstmöglichen Einrichtung einer kontrollierbaren Einlassstelle bedurft, die es den Interessenten an der Teilnahme der angemeldeten Gegendemonstrationen ermöglicht hätte, die angemeldeten Versammlungsorte aufzusuchen. Die Beklagte hat im gerichtlichen Verfahren selbst vorgetragen, sie habe die Einrichtung einer solchen Durchlassstelle an der Fußgängerbrücke am Herrenkrug beabsichtigt. Weshalb die Einrichtung einer solchen Übergangsstelle für friedliche Gegendemonstranten nicht zeitnah, jedenfalls noch nicht bis 14.03 Uhr, der Beklagten möglich war, als der Kläger die Jerusalembrücken zum Zwecke des Erreichens der Versammlungsorte der Gegendemonstrationen aufgesucht hatte, ist nicht ersichtlich. Dass die ständigen Bewegungen von gewaltbereiten Gegendemonstranten auch der Öffnung der Herrenkrugbrücke, die deutlich leichter als eine durch den Kraftfahrzeugverkehr genutzte Brücke zu kontrollieren ist, entgegen gestanden hätten, kann seitens des Gerichts nicht nachvollzogen werden.

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Soweit die Beklagte darauf hinweist, dass die Sperrung der Jerusalembrücken gegen 14.34 Uhr schon wieder aufgehoben worden sei und den Teilnehmern einer Versammlung zeitliche Verzögerungen an der Teilnahme von bis zu 75 Minuten, insbesondere durch Kontrollen, zumutbar seien, ist das nicht entscheidungserheblich. Denn die Absperrung eines Zugangs zu einem Versammlungsort hat gegenüber dem potentiellen Teilnehmer einer Versammlung eine viel erheblichere Einwirkung als die Errichtung einer Kontrollstelle. Denn bei einer Kontrollstelle kann er durch eine frühzeitige Anreise seine rechtzeitige Teilnahme an der Versammlung ermöglichen. Bei der (nahezu) vollständigen Sperrung seines Zugangs zum Versammlungsort kann er in der Regel noch gar nicht absehen, wann die Sperre aufgehoben wird und wann und von wo aus er den Versammlungsort noch erreichen kann. Womöglich muss er beim Erreichen der Sperre von seinem Ziel an der Versammlung teilnehmen zu wollen Abstand nehmen.

36

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 Satz 1 VwGO; diejenige über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus §§ 167 VwGO, 708 Nr. 11, 711 ZPO.

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Die Berufung ist gemäß der §§ 124a Abs. 1 S.1, 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zuzulassen. Die Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung. Denn die Frage, auf welcher Rechtsgrundlage und unter welchen Voraussetzungen die nahezu gänzliche Abriegelung mehrerer Stadtteile einer Großstadt durch die Polizei in Sachsen-Anhalt rechtlich zulässig ist, ist in der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts des Landes Sachsen-Anhalt bislang nicht geklärt.

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Die Festsetzung des Streitwertes beruht auf den §§ 63 Abs. 2 Satz 1, 52 Abs. 1 GKG. Unter Berücksichtigung der Empfehlungen in Ziffer 35. 1 von Verwaltungsrichtern erarbeiteten Streitwertkataloges wird das Interesse des Klägers an der Verfolgung seines Begehrens mit 5.000,00 Euro bemessen.


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