Beschluss vom Verwaltungsgericht Münster - 8 L 785/21
Tenor
Der Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung aufgegeben, über den Antrag des Antragstellers auf Erlass von Beseitigungsverfügungen unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden. Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.
Die Kosten des Verfahrens tragen der Antragsteller und die Antragsgegnerin jeweils zur Hälfte.
Der Streitwert wird auf 30.000,- Euro festgesetzt.
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G r ü n d e
2I. Der Hauptantrag des Antragstellers ist unbegründet.
3Der Antragsteller hat keinen Anordnungsanspruch auf die begehrten Maßnahmen glaubhaft gemacht (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO).
4Mit seinem Hauptantrag begehrt der Antragsteller die „Untersagung des Geschäftsbetriebes mit E-Tretrollern im free-floating-System“, „den Erlass entsprechender Beseitigungsverfügungen“ sowie „die eigene Beseitigung durch die Antragsgegnerin und die sofortige Exekution der notwendigen sofortigen Beseitigungsverfügungen, sollten diese fruchtlos bleiben“ (vgl. S. 3 des Schriftsatzes des Antragstellers vom 8. Dezember 2021, Bl. 97 GA).
5Das einstweilige Rechtsschutzverfahren nach § 123 VwGO dient regelmäßig nur der vorläufigen Regelung eines Rechtsverhältnisses; einem Antragsteller soll grundsätzlich nicht bereits das gewährt werden, was er nur in einem Hauptsacheverfahren erreichen kann. Eine - wie vorliegend begehrte - Vorwegnahme der Entscheidung in der Hauptsache kommt nur ausnahmsweise aus Gründen des effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG) in Betracht, nämlich dann, wenn das Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache für den jeweiligen Antragsteller schlechthin unzumutbar wäre. Dies setzt unter dem Gesichtspunkt der Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs voraus, dass das Rechtsschutzbegehren in der Hauptsache schon aufgrund der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes lediglich summarischen Prüfung bei Anlegung eines strengen Maßstabes an die Erfolgsaussichten erkennbar Erfolg haben wird. Dies ist bei Entscheidungen, die im pflichtgemäßen Ermessen der Behörde liegen, jedoch regelmäßig nur der Fall, wenn das Ermessen zugunsten des Antragstellers auf Null reduziert ist. Außerdem muss der jeweilige Antragsteller im Rahmen des Anordnungsgrundes glaubhaft machen, dass ihm ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstehen, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre.
6Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 18. Juli 2019 – 18 B 1823/18 –, juris Rn. 9; HessVGH, Beschluss vom 13. Oktober 2011 – 7 D 1692/11 –, juris Rn. 11.
7Nach diesen Maßstäben hat der Antragsteller keinen Anordnungsanspruch auf die begehrten Maßnahmen glaubhaft gemacht.
8Ein Anspruch auf Erlass von Beseitigungsverfügungen steht dem Antragsteller nicht zu. Das Begehren des Antragstellers ist auf eine vollständige Untersagung des „free-floating Models“ aller Betreiber in N. gerichtet. Der Erlass von Beseitigungsverfügungen nach § 22 Satz 1 StrWG NRW steht im Ermessen der zuständigen Behörde. Eine nach den oben genannten Maßstäben erforderliche Ermessensreduktion auf Null ist vorliegend nicht gegeben. Dies setzt voraus, dass der Erlass einer Beseitigungsverfügung die einzig ermessensfehlerfreie Entscheidung der Antragsgegnerin ist. Eine Ermessensreduktion auf Null ist nur dann anzunehmen, wenn in der Sache keine rechtmäßigen Alternativen bestehen, es also nur ein ermessensfehlerfreies Ergebnis gibt. Hier ist weder glaubhaft gemacht noch sonst ersichtlich, dass keine anderen ermessensfehlerfreien Alternativen bestehen. Es sind verschiedene Handlungsmöglichkeiten denkbar, die den Betreibern ein „free-floating-Modell“ ermöglichen, jedoch Vorkehrungen treffen, um Beeinträchtigungen insbesondere für Sehbehinderte und Blinde zu minimieren.
9Da schon kein Anordnungsanspruch hinsichtlich des Erlasses von Beseitigungsanordnungen glaubhaft gemacht ist, kann das darauf aufbauende Begehren des Antragstellers hinsichtlich der begehrten „eigenen Beseitigung durch die Antragsgegnerin und die sofortige Exekution der notwendigen sofortigen Beseitigungsverfügungen“ ebenfalls keinen Erfolg haben.
10Für die vom Antragsteller begehrte „Untersagung des Geschäftsbetriebes mit E-Tretrollern im free-floating-System“ ist schon keine Anspruchsgrundlage erkennbar. Sollte dieses Begehren auf § 22 Satz 1 StrWG NRW gestützt werden, kann auf die obigen Ausführungen Bezug genommen werden.
11II. Der im Hauptantrag als Minus enthaltene Antrag auf (Neu-)Bescheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichtes ist demgegenüber begründet. Der Antragsteller hat einen hierauf gerichteten Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.
12Ausgehend davon, dass eine Behörde nach einhelliger Auffassung durch einstweilige Anordnung sogar zur Vornahme einer in ihrem Ermessen stehenden Maßnahme verpflichtet werden kann, muss erst recht eine weniger weitreichende Verpflichtung der Behörde, nämlich zur (erneuten) Betätigung ihres Ermessens, im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes angeordnet werden können. Dafür spricht auch, dass es grundsätzlich im Ermessen des Gerichts steht, die notwendigen und zweckmäßigen Anordnungen zu treffen (§ 123 Abs. 3 VwGO i. V. m. § 938 Abs. 1 ZPO). Es darf hierbei nur nicht über das Begehren des Antragstellers und den verfolgten Sicherungszweck hinausgehen.
13Eine Verpflichtung zur Neubescheidung im Wege der einstweiligen Anordnung kommt in Betracht, wenn ein berechtigtes Interesse besteht, dass die Behörde möglichst frühzeitig eine (erneute) Ermessensentscheidung trifft, weil ein Abwarten dem Antragsteller nicht zugemutet werden kann; die insofern maßgeblichen Erwägungen sind mit den Anforderungen an die Annahme eines Anordnungsgrundes der Sache nach gleichgerichtet.
14Vgl. hierzu nur OVG NRW, Beschluss vom 20. Mai 2021 – 8 B 1967/20 –, juris Rn. 77 ff.
15Dies zugrunde gelegt hat der Antragsteller einen Anspruch auf (Neu-) Bescheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichtes glaubhaft gemacht.
16Wird eine Straße ohne die erforderliche Erlaubnis benutzt oder kommt der Erlaubnisnehmer seinen Verpflichtungen nicht nach, so kann die für die Erteilung der Erlaubnis zuständige Behörde die erforderlichen Maßnahmen zur Beendigung der Benutzung oder zur Erfüllung der Auflagen anordnen (§ 22 Satz 1 StrWG NRW).
17Die Tatbestandsvoraussetzungen liegen vor. Insbesondere fehlt es an der erforderlichen Sondernutzungserlaubnis. Sowohl der Antragsteller als auch die Antragsgegnerin gehen davon aus, dass die gegenwärtige Nutzung von E-Scootern im „free-floating-Modell“ straßenrechtlich als Sondernutzung zu qualifizieren ist. Angesichts der aktuellen Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichtes für das Land Nordrhein-Westfalen,
18vgl. zur Nutzung des öffentlichen Straßenraums durch abgestellte Mietfahrräder: OVG NRW, Beschluss vom 20. November 2020 – 11 B 1459/20 –, juris Rn. 35 ff.,
19bestehen jedenfalls keine durchgreifenden Zweifel an dieser Einschätzung, wobei eine endgültige Klärung dem Hauptsacheverfahren vorbehalten zu bleiben hat.
20Die Entscheidung, erforderliche Maßnahmen nach § 22 Satz 1 StrWG NRW anzuordnen, ist eine Ermessensentscheidung, die nach Maßgabe des § 114 VwGO der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle daraufhin unterliegt, ob die Behörde die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat.
21Gemessen hieran hat die Antragsgegnerin ihr Ermessen nicht rechtsfehlerfrei ausgeübt. Im Schriftsatz vom 24. Januar 2022 (Bl. 191 f. GA) stellt die Antragsgegnerin wesentlich darauf ab, dass Beseitigungsverfügungen in dem „zeitlichen Kontext nicht zweckmäßig und auch nicht verhältnismäßig“ seien. Durch „die gültigen freiwilligen Selbstverpflichtungserklärungen“ würden „die verkehrssicherheitsrechtlich relevanten Aspekte auch derzeit angemessen berücksichtigt“.
22Angesichts des Umstandes, dass allein das Fehlen der für die Nutzung der öffentlichen Verkehrsfläche erforderlichen Sondernutzungserlaubnis (formelle Illegalität) zum Erlass von Beseitigungsverfügungen berechtigt,
23vgl. OVG NRW, Beschluss vom 20. November 2020 – 11 B 1459/20 –, juris Rn. 56 und 68,
24ist der pauschale Verweis auf die vorliegenden Selbstverpflichtungserklärungen nicht ausreichend. Denn es finden sich in der Ermessensentscheidung der Antragsgegnerin keinerlei Erwägungen zur Belastbarkeit bzw. Tragfähigkeit der Selbstverpflichtungserklärungen. Die „Goodwill-Erklärung“ mit der Fa. U. N1. (dem derzeit zahlenmäßig größten Anbieter) sieht noch nicht einmal konkrete eindeutige Regelungen oder Absprachen im Falle von behindernd abgestellten E-Scootern vor. Dass die Selbstverpflichtungen von den Betreiberfirmen „jederzeit“ (Betreiber U. N1. ) bzw. „innerhalb von 2 Wochen“ (Betreiber M. F. J. M1. und C. T. E. GmbH) widerrufen bzw. gekündigt werden können, wird von der Antragsgegnerin ebenso nicht berücksichtigt. Ebenso drängt sich die Frage auf, ob die Selbstverpflichtungserklärungen ausreichend sind, um die straßenrechtlich relevanten Aspekte effektiv zu regeln. Angesichts des Umstandes, dass die Unternehmen bereits seit längerer Zeit im Stadtgebiet der Antragsgegnerin tätig sind (im Falle des Unternehmens U. N1. bspw. bereits mehr als zwei Jahre), ist davon auszugehen, dass die Antragsgegnerin die effektive Umsetzung der Selbstverpflichtungserklärungen zu prüfen und unter Kontrolle zu halten hat. Hierzu fehlt es allerdings an jedweden Ausführungen.
25Auch fehlt in der Ermessensausübung jegliche Berücksichtigung der bisher erfolgten Unfälle im Zusammenhang mit den aufgestellten E-Scootern (Bl. 85 ff VV). Nach der Begründung der öffentlichen Beschlussvorlage vom 23. November 2021 (Bl. 2 ff. VV) ist die Antragsgegnerin selber der Auffassung, dass es „immer wieder zu Verkehrsbehinderungen und Gefahrenquellen bis hin zu Unfällen mit Sach- oder Personenschäden“ kommt. Angesichts dessen, dass dies ein zentraler Aspekt für die Entscheidung der Antragsgegnerin ist, in Zukunft Sondernutzungserlaubnisse erteilen bzw. entsprechende Gebühren erheben zu wollen, ist kein Grund ersichtlich, warum dies bei der Ermessensentscheidung über den Antrag auf Einschreiten eines Blinden- und Sehbehindertenvereins unbeachtet geblieben ist.
26Der Verweis auf eine „absehbare Erteilung von Sondernutzungserlaubnissen zum 01.04.2022“ ist ebenfalls nicht tragfähig. Auch wenn die Antragsgegnerin auf entsprechenden Antrag der Betreiber Sondernutzungserlaubnisse - ggf. mit Auflagen nach § 18 Abs. 2 Satz 2 StrWG NRW - erteilen würde, liegen entsprechende Anträge derzeit nicht vor. Ob dies geschieht und in welchem Zeitraum die Erteilung der Sondernutzungserlaubnisse im Anschluss erfolgt, ist aktuell offen.
27Der Antragsteller hat auch den erforderlichen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Es besteht ein berechtigtes Interesse daran, dass die Antragsgegnerin möglichst frühzeitig eine (erneute) Ermessensentscheidung über den Erlass von Beseitigungsverfügungen trifft. Ein Abwarten auf die Entscheidung in der Hauptsache ist dem Antragsteller mit Blick auf das in Rede stehende hochrangige Rechtsgut des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nicht zumutbar. Auch könnte der Anspruch des Antragstellers auf ermessensfehlerfreie Entscheidung durch die Erteilung von Sondernutzungserlaubnissen durch die Antragsgegnerin zeitlich untergehen.
28Über die weiteren Hilfsanträge des Antragstellers muss vor diesem Hintergrund nicht entschieden werden.
29III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 1 GKG und orientiert sich am Interesse des Antragstellers. Eine Halbierung des Wertes im Eilverfahren kommt aufgrund der begehrten Vorwegnahme der Hauptsache nicht in Betracht.
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Referenzen
- §§ 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 1 GKG 2x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 114 1x
- 11 B 1459/20 2x (nicht zugeordnet)
- 7 D 1692/11 1x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 155 1x
- 8 B 1967/20 1x (nicht zugeordnet)
- 18 B 1823/18 1x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 123 2x
- § 22 Satz 1 StrWG 4x (nicht zugeordnet)
- § 18 Abs. 2 Satz 2 StrWG 1x (nicht zugeordnet)
- ZPO § 938 Inhalt der einstweiligen Verfügung 1x
- ZPO § 920 Arrestgesuch 1x
- ZPO § 294 Glaubhaftmachung 1x