Urteil vom Verwaltungsgericht Osnabrück (5. Kammer) - 5 A 30/10
Tenor
Die Beklagte wird unter Aufhebung ihres Bescheides vom 21. August 2009 - C. - verpflichtet, sich für das Asylverfahren des Klägers zuständig zu erklären und ein solches in der Bundesrepublik Deutschland durchzuführen.
Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Tatbestand
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Der Kläger begehrt die Verpflichtung der Beklagten, ein Asylverfahren durchzuführen.
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Der Kläger wurde am 7. Mai 1987 geboren und ist nach seinem eigenen Vortrag von der Religionszugehörigkeit Yezide. Er ist syrischer Staatsangehöriger. Der Kläger ist ledig und kinderlos. Ein Bruder und eine Schwester des Klägers leben nach seinen Angaben in Deutschland.
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Der Kläger reiste Anfang 2009 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 9. April 2009 einen Asylantrag. In seiner Anhörung am 15. April 2009 vor dem Bundesamt räumte der Kläger ein, dass er sich vor seiner Einreise in das Bundesgebiet bereits in Griechenland aufgehalten zu haben.
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Am 3. Juni 2009 richtete die Beklagte ein Übernahmeersuchen nach der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedsstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (im Folgenden: Dublin II VO) an Griechenland. Die griechischen Behörden ließen dies und ein entsprechendes Verfristungsschreiben unbeantwortet. Am 3. August 2009 stellte die Beklagte gegenüber der Republik Griechenland deren Zuständigkeit fest.
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Mit Bescheid vom 21. August 2009, zugegangen am 27.Januar 2010, lehnte die Beklagte den Asylantrag des Klägers als unzulässig ab und ordnete seine Abschiebung nach Griechenland an.
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Zur Begründung verwies die Beklagte auf die Vorschrift des § 27 a AsylVfG, nach der ein Asylantrag unzulässig sei, wenn ein anderer Staat aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig sei. Die Nichtausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 3 Abs. 2 Satz 1 Dublin II VO begründete die Beklagte damit, dass keine außergewöhnlichen humanitären Gründe ersichtlich seien. So würde es in Griechenland nur in Einzelfällen zu Defiziten bei der Anwendung des EU-Flüchtlingsrechts und zu persönlichen Härten für nach der Dublin II VO überstellte Flüchtlinge kommen. Entsprechend trage sie - die Beklagte - diesen Einzelfällen dadurch Rechnung, indem sie bei besonders schutzbedürftigen Personen von einer Überstellung nach Griechenland absehe. Dies gelte für Flüchtlinge hohen Alters, für minderjährige Flüchtlinge, oder für solche, bei denen eine Schwangerschaft, ernsthafte Krankheit, Pflegebedürftigkeit oder besondere Hilfsbedürftigkeit vorliege. Zu diesem Personenkreis zähle der Kläger nicht. So würden sich keine Hinweise dahingehend ergeben, dass der Kläger nicht in der Lage wäre, mit der Situation in Griechenland umgehen zu können. Ein genereller Überstellungsstopp nach Griechenland sei nicht angezeigt.
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In dem Bescheid vom 30. Dezember 2009 wurde im Rahmen der Rechtsbehelfsbelehrung das Verwaltungsgericht Oldenburg als zuständiges Gericht angegeben.
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Der Kläger hat durch seinen Prozessbevollmächtigten am 10. Februar 2010 Klage erhoben und mit demselben Datum beantragt, der Beklagten im Wege der einstweiligen Anordnung die Zurückschiebung des Klägers nach Griechenland zu untersagen. Zur Begründung hat er - unter Verweis auf mehrere kürzlich ergangene verfassungs- und verwaltungsgerichtliche Entscheidungen - vorgetragen, dass in der Republik Griechenland Mindestnormen für Verfahren zur Anerkennung von Flüchtlingen nicht beachtet würden.
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Mit Beschluss vom 1. März 2010 untersagte das Verwaltungsgericht Osnabrück der Beklagten zum Az.: - 5 B 15/10 - im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO vorläufig bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache, längstens jedoch für die Dauer von vier Monaten, die in dem Bescheid vom 21. August 2009 enthaltene und dem Kläger am 27. Januar 2010 bekannt gegebene Abschiebungsanordnung zu vollziehen.
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Der Kläger beantragt,
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den Bescheid des Beklagten vom 21. August 2009 {E. - aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, sich für das Asylverfahren des Klägers zuständig zu erklären und ein solches in Deutschland durchzuführen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Zur Begründung bezieht sie sich auf ihre Ausführungen in dem angefochtenen Bescheid vom 21. August 2009.
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Wegen des weiteren Vortrags der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze, wegen des Sachverhalts im Übrigen wird auf die Gerichtsakten sowie die beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die Klage ist zulässig (I.) und hat auch in der Sache Erfolg (II.).
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I. Die Klage ist als Verpflichtungsklage gemäß § 113 Abs. 5 VwGO statthaft. Die Entscheidung über die Zuständigkeit und die Nichtwahrnehmung des Selbsteintrittsrechts hat gegenüber dem Kläger Regelungswirkung im Sinne des § 35 Satz 1 VwVfG (1.). Der Zulässigkeit der Klage steht § 44 a VwGO nicht entgegen (2.). Letztlich ist die Kammer nicht verpflichtet, über das Asylgesuch des Klägers in der Sache zu entscheiden (3.).
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1. Die Kammer geht davon aus, dass eine Entscheidung über die Ausübung des Selbsteintrittsrechts gem. Art. 3 Abs. 2 Satz 1 Dublin II VO gegenüber dem von ihr betroffenen Asylbewerber Regelungswirkung im Sinne des § 35 Satz 1 VwVfG entfaltet. Zwar geht die Kammer mit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 16. Juli 1965, - BVerwG IV C 82.63 -, BVerwGE 21, 352 [353]) davon aus, dass die von einer höheren Behörde (heute in dem Rahmen des § 3 Abs. 2 VwVfG) getroffene Auswahl einer von mehreren zuständigen nachgeordneten Behörden für eine gewisse Angelegenheit deswegen nicht als Regelung anzusehen ist, weil sie nicht unmittelbar gegen den Bürger gerichtet ist, sondern sich innerhalb des Behördenaufbaus hält (anderer Ansicht Klappstein, in: Knack, VwVfG, 6. Auflage, § 3 Tz. 4.2) und eine derartige Zuständigkeitsbestimmung deshalb (heute) gemäß § 44 a VwGO weder einer isolierten Anfechtung noch einer isolierten Verpflichtung zugänglich ist. Anders ist dies nach Auffassung der Kammer jedoch dann, wenn in einem transnationalen Verhältnis eine gemeinsame Fachaufsichtsbehörde zu einer Bestimmung der zuständigen Behörde fehlt. In einem solchen Fall folgt die Regelungswirkung im Sinne des § 35 Satz 1 VwVfG für den Kläger aus der selbständigen Bedeutung der Bestimmung des zuständigen Mitgliedsstaates der Europäischen Union neben dem eigentlichen Verwaltungsverfahren der Asylanerkennung. Die vorliegend streitige Bestimmung des für das Asylverfahren zuständigen Mitgliedsstaates der Europäischen Union unterwirft den Asylsuchenden der institutionellen- und Verfahrensautonomie des jeweiligen Mitgliedsstaates: Die Bestimmung der zuständigen Gerichte und die Ausgestaltung von Verfahren, die den Schutz der dem Bürger aus der unmittelbaren Wirkung des Unionsrechts - hier der Richtlinie 2004/83/EG des Rates über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (vom 29. April 2004, Abl. Nr. L 204, Seite 12; berichtigt ABl. 2005 Nr. L 204 Seite 25) - erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, sind mangels einer unionsrechtlichen Regelung auf diesem Gebiet Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung der einzelnen Mitgliedstaaten (EuGH, Urteil vom 14. Dezember 1995, Rs. C-312/93 [Peterbroeck, Van Campenhout & Cie SCS gegen Belgischer Staat], Slg. 1995, I- 4599 [Randnummer 12]; EuGH, Urteil vom 11. September 2003, Rs. C-13/01 [Safalero Srl gegen Prefetto di Genova], Slg. 2003, I-8679, [Randnummer 49]). Unterschiedlich ausgestaltete nationale Verfahrensordnungen vermögen daher auch zu einer unterschiedlichen Rechtsdurchsetzung des Unionsrechts zu führen; dies rechtfertigt es, der Bestimmung eines anderen Mitgliedsstaates der Union gegenüber dem Asylsuchenden auch eine Regelungswirkung zuzuerkennen.
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2. Der Statthaftigkeit der Verpflichtungsklage beziehungsweise dem Rechtsschutzbedürfnis des Klägers steht § 44 a VwGO nicht entgegen. § 44 a Satz 2 VwGO lässt selbständige Rechtsbehelfe gegen behördliche Verfahrenshandlungen zu, die vollstreckt werden können. Der Begriff der Vollstreckung ist hierbei weit auszulegen (Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Urteil vom 23. Februar 2010, - 5 LB 20/09 -, Juris). Unzweifelhaft ist die Bestimmung der Republik Griechenland als für das Asylverfahren zuständigem Staat in Verbindung mit der Abschiebungsandrohung einer Vollstreckungshandlung fähig; eine solche stand ja auch unmittelbar bevor.
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3. Ein entsprechender Anspruch auf Wahrnehmung des Selbsteintrittsrechts kann vorliegend auch isoliert in dem Wege der Verpflichtungsklage verfolgt werden. Nicht erforderlich ist demgegenüber, dass das Gericht sogleich „durchentscheidet“, also auch über die materiellen Rechtspositionen des Klägers befindet, d.h. insbesondere über einen etwaigen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter oder Flüchtling (vgl. VG Sigmaringen, Urt. v. 26. Oktober 2009, - A 1 K 1757/09 -). Für die Asylanerkennung nach Art. 16 GG und die Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG sowie (hilfsweise) von Abschiebungshindernissen gemäß § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG ist zwar grundsätzlich die Verpflichtungsklage die richtige Klageart (vgl. BVerwG, Urteil vom 10. Februar 1998, - BVerwG 9 C 28.97 -, BVerwGE 106, 171-177). Da sich die begehrte Verpflichtung in einem Asylverfahren auf gebundene Verwaltungsentscheidungen und nicht auf solche in Wahrnehmung eines der Behörde durch den Gesetzgeber eingeräumten Ermessens oder einer Beurteilungsermächtigung richtet, hat das Gericht grundsätzlich die Streitsache gemäß § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO in vollem Umfang selbst spruchreif zu machen (BVerwG, Urteil des Senats vom 10. Februar 1998, - BVerwG 9 C 28.97 -, BVerwGE 106, 171-177). Eine solche Verpflichtung für das Gericht, die Sache selbst spruchreif zu machen, besteht indes nur dann, wenn ein "mit seinem Asylantrag beim Bundesamt erfolglos gebliebener Ausländer" (BVerwG, Urteil vom BVerwG 06. Juli 1998, - BVerwG 9 C 45.97 -, BVerwGE 107, 128-133) den Klageweg beschreitet. Hat hingegen - wie vorliegend - das Bundesamt überhaupt keine Sachentscheidung getroffen und den Asylsuchenden unter Verneinung seiner Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens nicht einmal angehört, so würde dem Kläger in dem Falle des „Durchentscheidens“ die Tatsacheninstanz in einem Verwaltungsverfahren, und zwar die auf inhaltliche Überprüfung seines Asylbegehrens durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gerichtete, genommen (vgl. VG Frankfurt, Urteil vom 08. Juli 2009, - 7 K 4376/07 -).
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II. Die Klage hat auch in der Sache Erfolg. Der Kläger hat gegenüber der Beklagten einen Anspruch auf Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II VO. Zwar bestand ursprünglich eine Prüfungspflicht des Asylbegehrens des Klägers durch die Republik Griechenland (1.). Jedoch ist der einen Selbsteintritt ablehnende Bescheid der Beklagten vom 30. Dezember 2009 rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten im Sinne von § 113 Abs. 5 VwGO, da das der Beklagten durch Art. 3 Abs. 2 Satz 1 Dublin II VO eröffnete Ermessen zu Gunsten des Klägers auf die Wahrnehmung des Selbsteintrittsrechts als einzig rechtmäßiger Entscheidung reduziert ist (2.).
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1. Ursprünglich bestand eine Prüfungspflicht des Asylbegehrens des Klägers durch die Republik Griechenland. Durch seine illegale Einreise in die Griechische Republik ist diese für das Asylverfahren des Klägers zuständig geworden (a]). Auch wahrt das Aufnahmeersuchen der Bundesrepublik die Förmlichkeiten der Dublin II VO (b]).
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a) Der Kläger hat sich unstreitig im Januar 2009 auf der Insel Samos und damit in dem Hoheitsgebiet der Republik Griechenland aufgehalten. Nach Art. 10 Abs. 1 Dublin II VO ist Griechenland für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig, weil der Kläger dessen Landesgrenze illegal überschritten hat. Nach Art. 5 Abs. 1 Dublin II VO demgegenüber vorrangig zu prüfende Kriterien zu einer Bestimmung des zuständigen Mitgliedsstaates sind nicht erfüllt.
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b) Das Aufnahmeersuchen an Griechenland wurde innerhalb von drei Monaten nach Einreichung des Asylantrages durch den Kläger im Bundesgebiet gestellt (Art. 17 Abs. 1 Dublin II VO). Innerhalb der Zwei-Monats-Frist des Art. 18 Abs. 1 Dublin II VO erfolgte keine Antwort Griechenlands, so dass die Republik Griechenland aufgrund der Fiktion des Art. 18 Abs. 7 Dublin II VO dem Aufnahmegesuch stattgegeben hat.
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2. Jedoch ist das der Beklagten durch Art. 3 Abs. 2 Satz 1 Dublin II VO eröffnete Ermessen zu Gunsten des Klägers auf die Wahrnehmung des Selbsteintrittsrechts als einzig rechtmäßiger Entscheidung reduziert, da die derzeitigen Verfahrensgewährleistungen durch die Republik Griechenland die Durchführung eines den Geboten der Rechtstaatlichkeit im Sinne von Art. 2 EUV und der Charta der Grundrechte im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EUV in Verbindung mit Art. 18 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (vom 12. Dezember 2007, ABl. Nr. C 303 Seite 1) genügenden Asylverfahrens nicht gewährleisten (b.). Dem steht nicht entgegen, dass Griechenland kraft Verfassung in Art. 16 Abs. 2 GG zu einem sichern Drittstaat erklärt wurde (a.).
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a. Einer Selbsteintrittsverpflichtung der Beklagten nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II VO kann zunächst nicht entgegen gehalten werden, dass die Republik Griechenland kraft der bundesdeutschen Verfassung in Art. 16 a Abs. 2 GG zu einem sichern Drittstaat erklärt wurde. Dies folgt aus einer Anwendung des Prinzips der normativen Vergewisserung (aa); begründungsalternativ und insoweit selbständig tragend folgt dies aus dem Prinzip des Vorrangs des Unionsrechts, nachdem vorliegend allein Art. 3 Abs. 2 Satz 1 Dublin II VO und nicht Art. 16 a Abs. 2 GG anzuwenden ist (bb).
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(aa) Einer Anwendung des Art. 3 Abs. 2 Dublin II VO kann nicht entgegen gehalten werden, dass die Republik Griechenland kraft der bundesdeutschen Verfassung in Art. 16 a Abs. 2 GG zu einem sichern Drittstaat erklärt wurde.
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Nach Art. 16 a Abs. 1 GG genießen politisch Verfolgte Asylrecht. Absatz 2 des Art. 16 a GG bestimmt, dass sich auf Absatz 1 nicht berufen kann, wer aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften oder aus einem anderen Drittstaat einreist, in dem die Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten sichergestellt ist. Die Staaten außerhalb der Europäischen Gemeinschaften, auf die die Voraussetzungen des Satzes 1 zutreffen, werden durch Gesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, bestimmt. In den Fällen des Satzes 1 können aufenthaltsbeendende Maßnahmen unabhängig von einem hiergegen eingelegten Rechtsbehelf vollzogen werden.
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Zwar gilt die Republik Griechenland als Mitglied der Europäischen Union (Art. 1 Abs. 1 EUV) damit kraft Verfassung als sicherer Drittstaat.
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Auch bezieht sich der zweite Halbsatz in Art. 16 a Abs. 2 Satz 1 GG („... in dem die Anwendung ... sichergestellt ist“) ausschließlich auf „den anderen Drittstaat“, mithin auf Staaten außerhalb der Europäischen Union. Dem liegt die Vorstellung zugrunde, dass ein Ausländer in allen Mitgliedstaaten der EU generell Schutz vor politischer Verfolgung und vor Weiterschiebung in einen Staat finden kann, in dem ihm politische Verfolgung oder sonstige menschenrechtswidrige Behandlung oder Bestrafung droht; nur für andere Staaten ist diese Annahme noch von der vorgängigen Prüfung abhängig, ob dort ein Schutz entsprechend der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention gewährt wird (vgl. BVerfG, Urteil vom 14. Mai 1996, - 2 BvR 1938/93, 2 BvR 2315/93 -, BVerfGE 94, 49 [88]).
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Daher gilt Griechenland - unabhängig davon, ob und in welchem Maße z.B. EU-Richtlinien zur Harmonisierung des Asylrechts dort rechtlich umgesetzt worden sind und tatsächlich beachtet werden - als sicher schon kraft Entscheidung der Verfassung. Art. 16 a Abs. 2 GG sieht dabei nicht vor, dass dies im Einzelfall überprüft werden kann. Entsprechend kann der Ausländer, der in den sicheren (EU-) Drittstaat zurückgewiesen werden soll, den Schutz der Bundesrepublik Deutschland vor einer politischen Verfolgung oder sonstigen schwerwiegenden Beeinträchtigungen in seinem Herkunftsstaat grundsätzlich nicht mit der Begründung einfordern, für ihn bestehe in dem betreffenden Drittstaat keine Sicherheit, weil dort in seinem Einzelfall - trotz normativer Vergewisserung - die Verpflichtungen aus der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht erfüllt würden. Der Ausländer ist mithin mit einer Behauptung ausgeschlossen, in seinem Fall werde der Drittstaat - entgegen seiner sonstigen Praxis - Schutz verweigern (vgl. BVerfG, Urteil vom 14. Mai 1996, - 2 BvR 1938/93, 2 BvR 2315/93 -, BVerfGE 94, 49 [98 f.]).
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Die Bundesrepublik Deutschland hat allerdings dann Schutz zu gewähren, wenn Ab-schiebungshindernisse durch solche Umstände begründet werden, die ihrer Eigenart nach nicht vorweg in dem Rahmen des Konzepts normativer Vergewisserung von Verfassung oder Gesetz berücksichtigt werden können und die damit von vornherein außerhalb der Grenzen liegen, die der Durchführung eines solchen Konzeptes aus sich selbst heraus gesetzt sind. Dabei sind an die Darlegung eines solchen Sonderfalles strenge Anforderungen zu stellen (BVerfG, Urteil vom 14. Mai 1996, - 2 BvR 1938/93, 2 BvR 2315/93 -, BVerfGE 94, 49 [99 f.]).
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Ein solcher Sonderfall liegt in dem defizitären Asylsystem Griechenlands nach Ansicht des erkennenden Gericht vor (hierzu sogleich b.) und muss auch - über die in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Mai 1996 (- 2 BvR 1938/93, 2 BvR 2315/93 -, BVerfGE 94, 49) genannten Konstellationen, die in dem vorliegenden Fall nicht einschlägig sind, hinaus - zu einer nicht von dem Verfassungsgesetzgeber vorgesehenen Ausnahme des Prinzip der normativen Vergewisserung führen. Denn das Bundesverfassungsgericht führt in seiner einstweiligen Anordnung vom 22. Dezember 2009 (- 2 BvR 2879/09 -, NVwZ 2010, 318) aus, dass die in der Hauptsache anhängige Verfassungsbeschwerde Anlass zu der Untersuchung geben werde, ob und gegebenenfalls welche Vorgaben in Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG und Art. 16 a Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 GG für die fachgerichtliche Prüfung der Grenzen des Konzepts der normativen Vergewisserung zu beachten seien. Angesichts der zwischenzeitlich bekannten Stellungnahmen zu der Situation von Asylantragstellern in Griechenland seien die Erfolgsaussichten der Verfassungsbeschwerde nicht von vornherein offensichtlich zu verneinen.
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Allerdings seien die Erfolgsaussichten angesichts des Umstands, dass die Mitgliedstaaten der Europäischen Union durch den verfassungsändernden Gesetzgeber selbst zu sicheren Drittstaaten bestimmt worden sind, die Vergewisserung hinsichtlich der Schutzgewährung damit durch den verfassungsändernden Gesetzgeber selbst erfolgt ist und die Entscheidung nicht durch eine Rechtsverordnung nach § 26 a Abs. 3 AsylVfG rückgängig gemacht werden könne, auch nicht offensichtlich zu bejahen.
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Aus diesen Feststellungen zieht die Kammer den Schluss, dass die in dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Mai 1996 (- 2 BvR 1938/93, 2 BvR 2315/93 -, BVerfGE 94, 49) aufgezählten Sonderfälle des Prinzips der normativen Vergewisserung nicht abschließend gemeint sind (anderer Ansicht Funke-Kaiser, GK-AsylVfG, Stand Oktober 2007, § 26 a, Rn. 81 m.w.N.). Eine gravierende Verletzung des Unionsrechts - u.a. in Form der Verfahrensrichtlinie 2005/85/EG - kann dabei als weiterer, von dem Bundesverfassungsgericht zur Zeit des Ergehens seiner Entscheidung im Jahre 1996 noch nicht berücksichtigungsfähiger Sonderfall hinzukommen, da sie mit den dort genannten Ausnahmen als vergleichbar angesehen werden kann (in dem Ergebnis gleich: VG Weimar, Beschluss vom 24. Juli 2008, - 5 E 20094/08 -, Juris; VG Gießen, Beschluss vom 25. April 2008, 2 L 201/08 .GI.A -, InfAuslR 2008, 327-332).
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So machen die Formulierungen in dem Beschluss über eine einstweilige Anordnung des Bundesverfassungsgerichts vom 22. Dezember 2009 deutlich, dass zumindest die Möglichkeit besteht, dass die Verfassungsbeschwerde Erfolg haben wird, das heißt, dass ein defizitärer tatsächlicher Zustand eines Asylsystems in einem kraft Verfassung sicheren Drittstaat - wie er in dem Eilverfahren des Bundesverfassungsgerichts feststand - einen Sonderfall darstellen kann, der es gebietet, von dem Prinzip der normativen Vergewisserung abzuweichen. Wäre diese Möglichkeit nicht gegeben, hätte die einstweilige Anordnung nicht ergehen dürfen, da die Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache dann - aufgrund offensichtlichen Nichtvorliegens einer der in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Mai 1996 dann abschließend aufgezählten Ausnahmefälle - von Anfang an keinerlei Aussicht auf Erfolg gehabt hätte.
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Das erkennende Gericht sieht die Missstände der Situation der Asylbewerber in Griechenland - wie sogleich zu zeigen sein wird - auch als so gravierend an, dass ein mit den von dem Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil aus dem Jahre 1996 aufgezählten Ausnahmen vergleichbarer Fall außerhalb der Grenzen des Konzepts der normativen Vergewisserung zu bejahen ist. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Entscheidung, Griechenland kraft Verfassungsrechts zu einem sicheren Drittstaat zu erklären, aufgrund des Prinzips der Normenhierarchie nicht gemäß § 26 a Abs. 3 AsylVfG rückgängig gemacht werden kann, muss hier - bis eine mögliche Reaktion des Unions- oder des Verfassungsgesetzgebers erfolgt - die Möglichkeit für die Fachgerichte bestehen, Missständen in EU-Mitgliedstaaten, deren Eigenarten nicht vorweg in dem Rahmen des Konzepts der normativen Vergewisserung von Verfassung oder Gesetz berücksichtigt werden können und die damit von vornherein außerhalb der Grenzen liegen, die der Durchführung eines solchen Konzeptes aus sich selbst heraus gesetzt sind, dadurch Rechnung zu tragen, dass zumindest zu dem jetzigen Zeitpunkt von weiteren Überstellungen entsprechend der Dublin II VO nach Griechenland abgesehen werden kann (anderer Ansicht, weil das Institut des Selbsteintrittsrechts als nicht dazu bestimmt und geeignet ansehend, in einer unübersehbaren Zahl von Fällen und auch langfristig, wenn nicht gar auf Dauer, auf einen strukturellen Missstand im Asylsystem der Union zu reagieren, Funke-Kaiser, GK-AsylVfG, Stand: Januar 2010, § 27 a, Rn. 119.1).
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(bb) Begründungsalternativ und insoweit selbständig tragend folgt schon aus dem Prinzip des Vorrangs des Unionsrechts, dass vorliegend allein Art. 3 Abs. 2 Satz 1 Dublin II VO und nicht Art. 16 a Abs. 2 GG anzuwenden ist.
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Art. 3 Abs. 2 Satz 1 Dublin II VO bestimmt, dass jeder Mitgliedsstaat der Union unabhängig davon, welcher Staat eigentlich für die Prüfung eines Asylbegehrens zuständig ist, einen von einem Drittstaatsangehörigen eingereichten Asylantrag prüfen kann und damit nach Satz 2 der Norm zum zuständigen Mitgliedsstaat wird. Zwar enthält demgegenüber Art. 16 a Abs. 2 Satz 1 GG den materiellen Ausschluss des Asylrechts für den Fall der Einreise unter anderem aus einem Mitgliedsstaat der Europäischen Union. Jedoch hat die Vorschrift insoweit auch einen verfahrensrechtlichen Charakter, als die Einreise über einen sicheren Drittstaat dazu führt, dass schon der Anspruch auf Prüfung des Asylantrages versagt wird (so zu Art. 16 a GG: BT-Drs. 12/4152, Seite 4). Abs. 2 des Art. 16 a GG ermöglicht damit einen Ausschluss von der Gewährleistung des Art. 16 a Abs. 1 GG für diejenigen Personen, die bereits anderweitige Verfolgungssicherheit genießen (Randelzhofer, in: Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, GG, Loseblattsammlung München, Stand: 56. Lieferung Oktober 2009, Art. 16 a Abs. 1 Rn. 13). Das Vorbringen von Ausländern, die aus einem sichern Drittstaat in die Bundesrepublik einreisen wollen, muss nicht geprüft werden, da der Grundgedanke der Subsidiarität des Asyls insoweit den persönlichen Geltungsbereich des Asylrechts beschränkt (Randelzhofer, a.a.O., Art. 16 a Abs. 2 Rn. 1). Leitbild der Norm ist die objektive Möglichkeit der Norm, das in dem sicheren Drittstaat vorhandene Verfahren zu einer Anerkennung seines Flüchtlingsstatus in Anspruch nehmen zu können (Randelzhofer, a.a.O., Art. 16 a Abs. 2 Rn. 40). Die Norm will damit verhindern, dass sich der Asylbewerber das Asylland seiner Wahl aussucht: Die Regelung knüpft an den Reiseweg des Ausländers Folgerungen für dessen Schutzbedürftigkeit insoweit, als derjenige, der aus einem sicheren Drittstaat im Sinne des Art. 16 a Abs. 2 Satz 1 GG einreist, des Schutzes der grundrechtlichen Gewährleistung des Art. 16 a Abs. 1 GG in der Bundesrepublik Deutschland nicht bedarf, weil er in dem Drittstaat Schutz vor politischer Verfolgung hätte finden können. Ein solcher Ausländer bedarf nicht mehr des asylrechtlichen Schutzes in der Bundesrepublik Deutschland. Entscheidend für den Ausschluss von dem Asylgrundrecht ist danach die objektiv bestehende Möglichkeit für den Ausländer, in einem der von ihm auf seiner Flucht berührten Drittstaaten einen ausreichenden Schutz vor politischer Verfolgung zu erlangen, derentwegen er geflohen ist (BVerwG, Urteil vom 02. September 1997, - BVerwG 9 C 5.97 -, BVerwGE 105, 194 - 199). Damit stellt Art. 16 a Abs. 2 GG einen unlösbaren Zusammenhang zwischen dem materiellen Asylrecht und dem Staat seiner transnationalen Durchsetzung durch den Asylbewerber her. Die Norm trifft damit der Sache nach ebenso wie die Dublin II VO eine Regelung der zwischenstaatlichen Zuständigkeit in Bezug auf das Asylverfahren, nur kennt sie - anders als die Dublin II VO - keinen irgendwie gearteten Ausnahmetatbestand. Daher liegt ein sich überschneidender Regelungsbereich zwischen Art. 16 a Abs. 2 GG und den Normen der Dublin II VO - als gemäß Art. 288 Abs. 2 AEUV unmittelbar wirkendem Unionsrecht - vor: Art. 16 a Abs. 2 GG begründet ausnahmslos die Zuständigkeit des sicheren Drittstaates, Art. 3 Abs. 2 Dublin II VO sieht demgegenüber die Möglichkeit eines Selbsteintritts vor.
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Diese Kollision ist nach der Theorie des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts zu lösen. Für einen derartigen Normkonfliktfall hat der Europäische Gerichtshof die Kollisionsregel des "Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts" (EuGH, Urteil vom 15. Juli 1964, Rs. C-6/64 [Flaminio Costa gegen E.N.E.L.], Slg. 1964, 1253 [1269 f.]; ständige Rechtsprechung) entwickelt. Das Prinzip des Anwendungsvorrangs ist nunmehr im Anhang zum AEUV kodifiziert. Es beinhaltet angesichts des Umstandes, dass in einem Unterschied zu gewöhnlichen internationalen Verträgen schon die Vorgängerverträge des EUV und des AEUV eine eigene Rechtsordnung geschaffen haben, die bei ihrem Inkrafttreten in die Rechtsordnungen der Mitgliedsstaaten aufgenommen worden und von ihren Gerichten anzuwenden ist, die Kollisionsregel, dass das Unionsrecht bei einer Normkollision mitgliedsstaatlichem Recht vorgeht. Denn durch die Gründung einer Gemeinschaft für unbegrenzte Zeit, die mit eigenen Organen, mit Rechts- und Geschäftsfähigkeit, mit internationaler Handlungsfähigkeit und insbesondere mit echten, aus der Beschränkung der Zuständigkeit der Mitgliedsstaaten oder der Übertragung von Hoheitsrechten der Mitgliedsstaaten auf die Gemeinschaft herrührenden Hoheitsrechten ausgestattet ist, haben die Mitgliedsstaaten, wenn auch auf einem begrenzten Gebiet, ihre Souveränitätsrechte beschränkt und so einen Rechtskörper geschaffen, der für ihre Angehörigen und für sie selbst verbindlich ist. Die Aufnahme der Bestimmungen des Unionsrechts in das Recht der einzelnen Mitgliedsstaaten sowie der "allgemeine Wortlaut und Geist der Verträge" haben zur Folge, dass es den Mitgliedsstaaten unmöglich ist, gegen eine von ihnen auf der Grundlage der Gegenseitigkeit angenommene Rechtsordnung "nachträgliche einseitige Maßnahmen ins Feld zu führen", insbesondere eine von dem Unionsrecht abweichende innerstaatliche Gesetzgebung zu betreiben, oder eine solche beizubehalten. Andernfalls wären die Verpflichtungen, die die Mitgliedsstaaten in dem Vertrag zur Gründung der Gemeinschaft eingegangen sind, keine unbedingten mehr, sondern nur noch eventuelle unter dem Vorbehalt einer späteren abweichenden eigenen Gesetzgebung des Mitgliedsstaates. Nach dem Europäischen Gerichtshof kann daher dem von dem Vertrag geschaffenen und somit aus einer autonomen Rechtsquelle fließenden Recht wegen dieser seiner Eigenständigkeit keine wie immer geartete innerstaatliche Rechtsvorschrift vorgehen, wenn ihm nicht sein Charakter als Unionsrecht abgesprochen werden und wenn nicht die Rechtsgrundlage der Gemeinschaft selbst in Frage gestellt werden soll. Weiter heißt es in dem Urteil vom 15. Juli 1964: "Infolgedessen ist [das Vorabentscheidungsverfahren] ohne Rücksicht auf innerstaatliche Gesetze anzuwenden, wenn sich die Auslegung des Vertrages betreffende Fragen stellen" (EuGH, Urteil vom 15. Juli 1964, Rs. C-6/64 [Flaminio Costa gegen E.N.E.L.], Slg. 1964, 1253 [1270 f.]). Für den Anwendungsvorrang des Unionsrechts führt der Europäische Gerichtshof ferner Art. 288 Abs. 2 Satz 2 AEUV an, wonach die Verordnung in allen ihren Teilen verbindlich ist und unmittelbar in jedem Mitgliedsstaat gilt (EuGH, Urteil vom 15. Juli 1964, Rs. C-6/64 [Flaminio Costa gegen E.N.E.L.], Slg. 1964, 1253 [1270] zu Art. 189 EGV a.F.).
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Das Unionsrecht besitzt daher Anwendungsvorrang gegenüber nationalem materiellem Recht (EuGH, Urteil vom 17. Dezember 1970, Rs. C-11/70 [Internationale Handelsgesellschaft mbH gegen Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel], Slg. 1970, 1125 [Rn. 3]). Daher kann es nach dem Europäischen Gerichtshof die Gültigkeit einer Unionshandlung oder deren Geltung in einem Mitgliedsstaat nicht berühren, wenn etwa geltend gemacht wird, die Grundrechte in der ihnen von der Verfassung dieses Staates gegebenen Gestalt oder die Strukturprinzipien der nationalen Verfassung seien verletzt (EuGH, Urteil vom 17. Dezember 1970, Rs. C-11/70 [Internationale Handelsgesellschaft mbH gegen Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel], Slg. 1970, 1125 [Rn. 3]). Man kann insoweit von einem Rangverhältnis zwischen nationalem und Unionsrecht dahingehend sprechen, dass den unionsrechtlichen Vorschriften in einem gerichtlichen Verfahren entgegenstehendes mitgliedsstaatliches Recht weichen muss (Demleitner, Andreas, Die Normverwerfungskompetenz der Verwaltung bei entgegenstehendem Gemeinschaftsrecht, NVwZ 2009, 1525 [1526]): Unionsrecht ist das normhierarchisch gegenüber den nationalen Rechtsordnungen höher angesiedelte Recht (Haltern, Europarecht, 2. Auflage Tübingen 2007, Rn. 596).
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Dieser Vorrang des Unionsrechts ist in seinem Verhältnis zu der mitgliedsstaatlichen Rechtsordnung allumfassend und absolut (Haltern, Europarecht, Rn. 934) dahingehend, dass das Unionsrecht "wie immer gearteten mitgliedsstaatlichen Rechtsvorschriften" (EuGH, Urteil vom 17. Dezember 1970, Rs. C-11-70 [Internationale Handelsgesellschaft mbH gegen Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel], Slg. 1970, 01125 [Rn. 3]; EuGH, Urteil vom 9. März 1978, Rs. C-106/77 [Staatliche Finanzverwaltung gegen S.p.A. Simmenthal], Slg. 1978, 00629 [Rn. 17/18]) vorgeht.
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Hiervon ausgehend geht die Kammer davon aus, dass der Norm des Art. 3 Dublin II VO Anwendungsvorrang vor dem Regelungsgehalt des Art. 16 a Abs. 2 GG zukommt, soweit beiden Normen ein verfahrensmäßiger Charakter in Bezug auf die Bestimmung des zu einer Prüfung eines Asylgesuchs zuständigen Staates der Union zukommt. Dies ist hier in dem oben beschriebenen Umfang der Fall. Damit sperrt die Regelung des Art. 16 a Abs. 2 GG auch aus diesem Grunde nicht die Wahrnehmung des Selbsteintrittsrechts der Beklagten aus Art. 3 Abs. 2 Satz 1 Dublin II VO.
- 44
b. Das der Beklagten durch Art. 3 Abs. 2 Satz 1 Dublin II VO eröffnete Ermessen ist zu Gunsten des Klägers auf die Wahrnehmung des Selbsteintrittsrechts als einzig rechtmäßiger Entscheidung reduziert, da die derzeitigen Verfahrensgewährleistungen durch die Republik Griechenland die Durchführung eines den Geboten der Rechtstaatlichkeit im Sinne von Art. 2 EUV und den Vorgaben der Charta der Grundrechte im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EUV in Verbindung mit Art. 18 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (vom 12. Dezember 2007, ABl. Nr. C 303 Seite 1) genügenden Asylverfahrens nicht gewährleisten.
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Nach der Vorschrift des Art. 3 Abs. 2 Satz 1 Dublin II VO kann abweichend von Absatz 1 - wonach der Antrag von dem nach Kapitel III der Verordnung zuständigen Mitgliedsstaat geprüft wird - „jeder Mitgliedstaat einen von einem Drittstaatsangehörigen einreichten Asylantrag prüfen, auch wenn er nach den in dieser Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist“. Dadurch wird er gemäß Satz 2 dieser Vorschrift zu dem „zuständigen Mitgliedstaat im Sinne dieser Verordnung und übernimmt die mit dieser Zuständigkeit einhergehenden Verpflichtungen“. Die Vorschrift des Art. 3 Abs. 2 Dublin II VO hat subjektiv-rechtlichen Charakter ([aa]). In die zu treffende Ermessensentscheidung sind die tatsächlichen Verhältnisse in dem griechischen Asylsystem in dem gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung der Kammer einzustellen; diese vermögen derzeit ein rechtsstaatlichen und grundrechtlichen Anforderungen genügendes Asylverfahren nicht sicherzustellen ([bb]).
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(aa) Die Vorschrift des Art. 3 Abs. 2 Dublin II VO richtet sich zwar nach ihrem Wortlaut an die Mitgliedstaaten. Der Kläger kann sich jedoch gleichwohl auf einen subjektiv-öffentlich-rechtlichen Anspruch auf den Selbsteintritt der Beklagten gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin II VO berufen. Denn diese Bestimmung ist - anders als die Vorgängerregelungen im Schengener Durchführungsabkommen und im völkerrechtlichen Dubliner Übereinkommen (vgl. hierzu Funke-Kaiser, GK-AsylVfG, Stand Oktober 2007, § 27a, Rn. 25) - nicht allein in dem öffentlichen Interesse geschaffen worden, sondern verleiht den von ihr Betroffenen ein subjektives Recht. Dies folgt schon aus der ersten Begründungserwägung der Dublin II VO, wonach die Ausarbeitung einer gemeinsamen Asylpolitik auch helfen soll, einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts aufzubauen, "der allen offen steht, die wegen besonderer Umstände rechtmäßig in der Gemeinschaft um Schutz nachsuchen", sowie aus der fünfzehnten Begründungserwägung, wonach die Dublin II VO "insbesondere darauf ab[zielt], die uneingeschränkte Wahrung des in Art. 18 [Grundrechte-Charta] verankerten Rechts auf Asyl zu gewährleisten". Eine derartige Rechtsgewährleistung setzt zwingend den subjektiv-rechtlichen Charakter auch der Möglichkeit des gerade in dem Interesse dieser Gewährleistung geschaffenen Selbsteintrittsrechts voraus. Allerdings verbürgt Art. 3 Abs. 2 Dublin II VO lediglich ein - gegebenenfalls aber auf Eins reduziertes - Recht auf fehlerfreie Ermessensausübung (vgl. hierzu VG Frankfurt, a.a.O., m.w.N.).
- 47
(bb) In die nach Art. 3 Abs. 2 Satz 1 Dublin II VO zu treffende Ermessensentscheidung sind nach Auffassung der Kommission politische, humanitäre oder praktische Erwägungen einzustellen (Schröder, Die EU-Verordnung zur Bestimmung des zuständigen Asylstaats, ZAR 2003, 126 [128 u. 131]; Hruschka, Humanitäre Lösungen in Dublin-Verfahren, Asylmagazin 2009, 5 [9 f.]). Humanitäre Erwägungen sind dabei auch und insbesondere solche, die auf die Folgen einer Rückführung für den Asylbewerber abstellen. Jedenfalls soweit (gewichtige) derartige Umstände vorgetragen werden oder der Beklagten bekannt sind, besteht ein Anspruch des Asylbewerbers auf deren Berücksichtigung (vgl. VG Sigmaringen, a.a.O.). So können die humanitären Gründe, die zur Ausübung des Selbsteintritts führen, nach Ansicht des erkennenden Gerichts über die gem. Art. 15 Dublin II VO vorgesehenen Kriterien hinausgehen, da weder diese Norm noch die Bestimmungen der Verordnung im Übrigen die Berücksichtigung weiterer humanitärer Gesichtspunkte ausschließen. So ist im vorliegenden Fall die humanitäre Klausel gem. Art. 15 I Dublin II VO - mangels entsprechender Notwendigkeit einer Familienzusammenführung - zwar als nicht erfüllt anzusehen, gleichwohl liegen humanitäre Gründe vor, von dem Selbsteintrittsrecht der Beklagten gem. Art. 3 II Dublin II VO Gebrauch zu machen.
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Zwar hat der Kläger keine (humanitären) Gründe für die Ausübung des Selbsteintrittsrechts geltend gemacht, die allein ihn betreffen. Solche individuellen Gründe sind auch weder ersichtlich noch erforderlich.
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Zur Überzeugung der Kammer ist in dem Fall des Klägers das der Beklagten durch Art. 3 Abs. 2 Dublin II VO eingeräumte Ermessen auf die Bejahung der Voraussetzungen für einen Selbsteintritt der Beklagten und damit „auf Eins“ schon aufgrund der massiven Defizite des Asylverfahrens in der Republik Griechenland reduziert.
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Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, der sich die Kammer anschließt, kann bei der Anwendung einer Ermessensnorm im Einzelfall "eine Schrumpfung des Ermessens auf ein einziges rechtmäßiges Ergebnis ... eintreten, wenn nach Lage der Dinge alle denkbaren Alternativen nur unter pflichtwidriger Vernachlässigung eines eindeutig vorrangigen Sachgesichtspunkts gewählt werden könnten". In einem solchen Fall ist die Entscheidung der Behörde - trotz des sonst bestehenden Ermessensspielraums - rechtlich zwingend vorgezeichnet, so dass auch für behördliche Ermessenserwägungen kein Anlass besteht (BVerwG, Beschluss vom 03.Oktober 1988, - BVerwG 1 B 114.88 -, Buchholz 316 § 40 VwVfG Nr. 8).
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Das Gericht bewertet das zurzeit von den griechischen Behörden praktizierte Asyl-verfahrenssystem an sich als den europäischen Richtlinien hierzu - in deren Licht der Art. 3 Abs. 2 Dublin II VO ausgelegt werden muss - sowie der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) und der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) nicht entsprechend.
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Die Kammer geht aufgrund der ihr vorliegenden und in das Verfahren eingeführten bzw. der Beklagten bekannten Erkenntnismittel davon aus, dass der Kläger im Falle einer Abschiebung nach Griechenland nicht in der Lage wäre, ein Asylverfahren unter Wahrung allgemeiner Mindeststandards zu durchlaufen.
- 53
Diese Einschätzung stützt sich insbesondere auf den Bericht des schweizerischen Bundesamtes für Migration „Focus Griechenland - Asylsystem“ vom 23. September 2009. Danach werden so genannte Dublin-Rückkehrer zwar gegenüber anderen Asylbewerbern insoweit besser behandelt, als sie direkten Zugang zu einem Asylverfahren hätten und ihnen eine sogenannte "Rosa Karte" ausgestellt werde. Zugleich wird aber ausgeführt, dass die Anhörungen am Flughafen Athen oft nicht sachgerecht durchgeführt würden, da meist unqualifizierte Sprachmittler statt ausgebildete Dolmetscher eingesetzt würden, die Anhörungen insgesamt nur drei bis vier Minuten dauerten und es keine Rückübersetzungen gebe. Häufiger fänden überhaupt keine Anhörungen statt, stattdessen müssten die Rückkehrenden in einem Formular auf fünf Zeilen in ihrer eigenen Sprache beschreiben, warum sie nach Griechenland gekommen seien (S. 15).
- 54
Dublin-Rückkehrer würden zudem bei der Unterkunftssuche nicht bevorzugt behandelt, blieben deshalb obdachlos und wären gar nicht in der Lage, eine Adresse zu registrieren (S. 15). Ohne Registrierung eines Wohnsitzes droht jedoch die öffentliche Zustellung einer (zumeist ablehnenden) Entscheidung, von der in der Regel nicht innerhalb der Rechtsbehelfsfristen Kenntnis erlangt wird (Pro Asyl, Zur aktuellen Situation von Asylsuchenden in Griechenland, Stellungnahme vom 19. Februar 2009, S. 28). Da nur rund 900 Aufnahmeplätze für jährlich ca. 25.000 Asylbewerber bereitstünden (S. 7) und zudem im Sommer 2009 ein Flüchtlingslager abgerissen worden sei (S. 10), wird das Risiko der Obdachlosigkeit für Asylbewerber als äußerst groß eingestuft (vgl. auch VG Sigmaringen, a.a.O.).
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Weiter wird von dem schweizerischen Bundesamt für Migration festgestellt, dass trotz entsprechender Verordnungen die Deckung der materiellen Grundbedürfnisse für Asylsuchende in Griechenland nicht gewährleistet sei. Die vorgesehenen Tagegelder seien bisher nicht ausbezahlt, der Zugang zum Gesundheitssystem nicht immer möglich. Personen, die nicht in den Aufnahmeeinrichtungen leben, würden weder finanzielle Unterstützung noch Essen, Kleider oder andere Hilfe vom griechischen Staat bekommen (S. 11).
- 56
Die Kammer stellt bei der Berücksichtigung dieser Informationen auf die tatsächlichen Umstände und gerade nicht auf den (dogmatischen) Stand der griechischen Präsidialerlasse 220/2007, 90/2008, 96/2008 sowie 81/2009 ab, welche formell die Richtlinien 2003/9/EG (Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten), 2004/83/EG (sog. Qualifikationsrichtlinie über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen) sowie 2005/85/EG (sog. Verfahrensrichtlinie über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft) umsetzen mögen.
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Aber selbst der Präsidialerlass 81/2009, der am 20. Juli 2009 in Kraft getreten ist, führt dazu, dass die Rechte der Asylbewerber in Griechenland von der Kammer als nicht den rechtsstaatlichen und grundrechtlichen Mindestanforderungen genügend bewertet werden.
- 58
So wurden mit diesem Erlass die Rekursmöglichkeiten für in der ersten Instanz abgewiesene Gesuchsteller erheblich eingeschränkt, indem die zweite Instanz abgeschafft wurde. Beibehalten wurde lediglich die Möglichkeit zu einer revisionsrechtlichen Überprüfung behördlicher Asylentscheide durch den griechischen Staatsrat (Council of State), der diese aber lediglich auf Formfehler überprüft. Damit ist davon auszugehen, dass sich die Ablehnungsrate von über 98 %, die die höchste in Europa darstellt, in Zukunft nicht verändern bzw. voraussichtlich noch verschlechtern wird. Fast alle positiven Entscheide fällte nämlich bislang die Rekursinstanz Consultative Asylum Comitee, die abgewiesene Asylgesuche materiell prüfte. Diese wurde jedoch zum 30. Juli 2009 abgeschafft. Sie setzte sich aus je zwei Beamten des Innen- und Außenministeriums sowie einem Rechtsanwalt der Athens Bar Association und einem Vertreter des UNHCR zusammen. Die Anerkennungsrate dieser zweiten Instanz lag 2007 sowie im ersten Halbjahr 2008 bei ca. 2 %, stieg in der zweiten Jahreshälfte 2008 aber auf über 10 %. Der griechische Staatsrat (Council of State) ist heute damit die einzige Rekursinstanz für Asylbewerber in Griechenland (S. 6 f.). Hierdurch wird sich - davon geht die Kammer aus - der sich ohnehin schon auf einem sehr niedrigen Niveau bewegende Rechtsschutzstandard für Asylbewerber in Griechenland trotz bestehender jahrelanger Kritik an den dortigen Asylbedingungen noch verschlechtern. Das Gericht rechnet daher bei einer Überstellung des Klägers nach Griechenland mit einer Verletzung des deutschen und europäischen Menschen- und Grund-rechts auf effektiven Rechtsschutz (vgl. hierzu: Weinzierl/ Hruschka, Effektiver Rechtsschutz im Lichte deutscher und Europäischer Grundrechte, NVwZ 2009, 1540).
- 59
Mit dem Präsidialerlass 81/2009 wurden zudem die Zuständigkeiten in der ersten Entscheidungsinstanz geändert. So obliegt die Entscheidung der Asylanträge nunmehr den rund 50 in dem Land verteilten Polizeidirektionen. In diesen Polizeidirektionen sollen Flüchtlingskommitees eingerichtet werden, die aus drei Polizeibeamten und einem UNHCR-Vertreter bestehen sollen. Dabei sollen diese Kommitees jedoch nur beratende Funktion haben (S. 11). Diese Polizeistationen sind „mit gravierenden Unzulänglichkeiten in Bezug auf qualifiziertes Personal, Übersetzungsdienste und Rechtshilfemöglichkeiten konfrontiert“ (UNHCR Athen, Pressemeldung vom 18. Juli 2009). Aufgrund dieser strukturellen Veränderungen hat sich UNHCR, dessen Stellungnahmen nach Erwägungsgrund Nr. 15 der Qualifikationsrichtlinie ein besonderes Gewicht zukommt, auch mit Datum vom 18. Juli 2009 dazu entschieden, sich so lange nicht an den Asylverfahren in Griechenland zu beteiligen, bis faire und effiziente Asylverfahren garantiert sind.
- 60
Die Kammer hält insbesondere die Ausführungen des schweizerischen Bundesamtes für Migration für glaubhaft und überzeugend. Sie stammen von einer staatlichen Behörde, die selbst für die Durchführung von Asylverfahren zuständig ist, d.h. keinen Vorteil davon hat, von Asylüberstellungen nach Griechenland abzuraten bzw. die Bedingungen dort zu kritisieren. Den Aussagen ist daher umso mehr zu folgen, als dass sie keiner Interessenvertretung entstammen.
- 61
Diese Materialien entsprechen zudem den weiteren Erkenntnismitteln des erkennenden Gerichts. So teilte das Auswärtige Amt dem VG Stuttgart mit Schreiben vom 14. Juli 2009 mit, dass Griechenland den Antragstellern nur in seltenen Fällen eine Unterkunft zuweise.
- 62
Auch sei nach dieser Stellungnahme des Auswärtigen Amtes der jederzeitige Zugang zum Dienstgebäude der Ausländerbehörde nicht als gesichert anzusehen, da für 1.000 bis 2.000 Wartende nur 400 Plätze zur Verfügung stünden, von denen 250 Plätze für prioritäre Fälle, wie z.B. Dublin II-Rückkehrer, reserviert seien. Darüber hinaus schätzte das Auswärtige Amt bereits ohne Berücksichtigung des oben genannten neuen Präsidialerlasses die Rechtsschutzsituation so ein, dass bei einem Rückstau von 30.000 Einsprüchen, der hohen Einspruchsquote und der einen zu der Zeit noch arbeitenden Einspruchskammer mit einer Wartezeit von mehreren Jahren in der zweiten Asylinstanz gerechnet werden müsste.
- 63
Auch der Menschenrechtskommissar des Europarates, Herr Thomas Hammarberg, kritisiert in seinem Bericht vom 04. Februar 2009 unter anderem die mangelnde Aufnahmekapazität für Asylbewerber in der Republik Griechenland. Zudem stellt er fest, dass das Personal, das die Asylanträge bearbeitet, besser ausgebildet werden müsste. Schließlich wird auf den Mangel an Dolmetschern und den fehlenden Rechtsbeistand für die Asylbewerber verwiesen und werden konkrete Maßnahmen empfohlen, um die Unabhängigkeit und die Effektivität der Berufungsinstanz im Asylverfahren zu gewährleisten.
- 64
Diese Kritik wird von ihm auch in seiner Stellungnahme vom 10. März 2010 vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg aufrechterhalten. Dort macht Hammarberg zwar deutlich, dass er die Bemühungen der griechischen Regierung in Bezug auf den schlechten Zustand ihres Asylverfahrensystems erkenne und begrüße, er aber gleichzeitig noch so grundlegende Defizite sehe, dass das griechische Asylverfahrenssystem weiterhin als nicht vereinbar mit den internationalen und europäischen Menschenrechtsstandards zu bewerten sei.
- 65
Zu demselben Ergebnis kommt auch UNHCR in seinen Anmerkungen zu Griechenland als Aufnahmeland für Asylsuchende aus dem Dezember 2009. Der UNHCR nimmt dabei zwar auch anerkennend zur Kenntnis, dass die griechische Regierung sich bemüht, die erheblichen Mängel im griechischen Asylverfahren zu beheben. So wurde am 26. November 2009 von dem Ministerium für Bürgerschutz ein Sachverständigenausschuss für Asylangelegenheiten einberufen. Der Ausschuss besteht aus Vertretern der betroffenen Ministerien und Behörden sowie Wissenschaftlern und Vertretern von Nichtregierungsorganisationen und UNHCR. Ihm wurde die Aufgabe übertragen, einen Vorschlag zur Reform des griechischen Asylsystems zu erarbeiten. Diese Entwicklung wird von dem UNHCR ausdrücklich begrüßt (S. 1).
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Die Umsetzung einer möglichen Reform wird jedoch eine gewisse Zeit dauern. Bis dahin spricht sich UNHCR auch weiterhin gegen die Überstellung nach Griechenland auf Grundlage der Dublin II Verordnung aus (S. 31). So sei der Zugang zur Durchführung eines fairen Asylverfahrens in Griechenland noch immer nicht sichergestellt. Die zuständigen Polizeibediensteten seien nicht entsprechend geschult, zudem sei nicht genügend Personal vorhanden, um die große Zahl der Asylanträge in einer angemessenen Wartezeit zu bearbeiten. Informationen zu den entsprechenden Verfahren und Rechten sowie Dolmetscher seien nicht verfügbar (S. 23).
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Zudem hätten die bereits durchgeführten Änderungen des Asylverfahrens, die auf die Verabschiedung des Präsidialerlasses 81/2009 im Juli 2009 zurückgehen, dazu geführt, dass die Aussichten für Asylsuchende, einschließlich die nach der Dublin II Verordnung überstellten Personen, auf eine abschließende Prüfung ihrer Asylanträge in einem fairen Verfahren weiter gesunken seien. So seien erstinstanzliche Entscheidungen qualitativ bedenklich.
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Zahlreiche Entscheidungen, die UNHCR vor und nach dem Inkrafttreten des Präsidialerlasses 81/2009 überprüft habe, hätten nicht hinreichend Bezug auf den Sachverhalt genommen. Ferner hätten die Bescheide keine ausführliche rechtliche Begründung gehabt. Im Allgemeinen würden standardisierte Ablehnungsgründe genannt, die darauf verweisen, dass das Herkunftsland aus wirtschaftlichen Gründen verlassen worden sei (S. 24).
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Insbesondere vor dem Hintergrund der Stellungnahmen des Schweizerischen Bundesamtes für Migration und des Auswärtigen Amtes - welche beide Institutionen darstellen, die nicht in dem Verdacht stehen, primär die Interessen von Flüchtlingen im Blick zu haben - hält das Gericht auch die Berichte der Flüchtlingsvertretungen für glaubhaft. Es bedarf daher keiner Auseinandersetzung mit dem Dienstreisebericht der Beklagten aus Dezember 2008 und der daran von Nichtregierungsorganisationen geübten Kritik (vgl. Pro Asyl, o.g. Stellungnahme vom 19. Februar 2009, S. 2 ff.). Zwar begrüßt das erkennende Gericht ebenfalls die Bemühungen der griechischen Regierung, ihr Asylverfahren zu verbessern. Da diese möglichen Reformen bisher jedoch weder erarbeitet, beschlossen noch in die Praxis umgesetzt wurden, sieht die Kammer die Missstände zum jetzigen Entscheidungszeitpunkt (noch) als so gravierend an, dass der Kläger bei einer Überstellung nach Griechenland nach einer weit überwiegenden Wahrscheinlichkeit keinen Zugang zu einem fairen Asylverfahren hätte, zumal kurzfristige Änderungen aufgrund der gerichtsbekannten desolaten wirtschaftlichen Lage des griechischen Staates (vgl. statt aller: http://www.spiegel.de/thema/finanzkrise_in_griechenland/) und seinen ressortübergreifenden, durch die Europäische Union eingeforderten Einsparverpflichtungen auch aus wirtschaftlicher Sicht ausgeschlossen erscheinen.
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Für diese Bewertung spricht letztlich auch, dass am 10. November 2009 verschiedene europäische Flüchtlingsorganisationen eine Beschwerde bei der EU-Kommission über die andauernde Missachtung europäischen Flüchtlingsrechts durch Griechenland eingereicht haben. Mit dieser Beschwerde soll erreicht werden, dass die Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Griechenland einleitet (vgl. hierzu Kopp / Melzer, Die Missachtung des europäischen Flüchtlingsrechts durch Griechenland, Asylmagazin 2009, S. 3 ff.).
- 71
Das erkennende Gericht sieht daher die tatsächlichen Verhältnisse in Griechenland zu dem jetzigen Zeitpunkt als so gravierend gegen rechtsstaatliche und grundrechtliche Gewährleistungen verstoßend an, dass von dem Konzept der normativen Vergewisserung entsprechend Art. 16 a Abs. 2 Satz 1 GG abgewichen werden kann und sogar muss, da die Ausübung des Selbsteintrittsrechts nur bei besonders schutzbedürftigen Personen - wie es die Beklagte zurzeit praktiziert - als nicht ausreichend bewertet wird (anderer Ansicht VG Koblenz, Urteil vom 09. Juli 2008, - 1 K 353/08 -).
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Die Beklagte ist daher aufgrund der geschilderten Ausnahmesituation verpflichtet, bei ihrer Ermessensentscheidung nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II VO trotz der normativen Vergewisserung aus Art. 16 a Abs. 2 Satz 1 GG die tatsächlichen Verhältnisse in Griechenland zu berücksichtigen.
- 73
Aufgrund der weit überwiegenden Wahrscheinlichkeit, dass der Kläger in der Republik Griechenland kein Asylverfahren unter Erfüllung der elementaren Lebensbedürfnisse sowie unter der tatsächlichen Einhaltung der Asylverfahrensrichtlinien der EU wird durchführen können, und wegen des Fehlens weiterer in die Ermessensentscheidung einzustellender Gesichtspunkte ist das Ermessen auch auf Eins reduziert, das heißt die Beklagte ist verpflichtet, von ihrem Selbsteintrittsrecht zugunsten des Klägers Gebrauch zu machen (so auch VG Sigmaringen, a.a.O.).
- 74
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO in Verbindung mit § 83 b AsylVfG.
- 75
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
- 76
Eine Zulassung der Berufung durch das Verwaltungsgericht zu einer Klärung der - möglicher Weise - als rechtsgrundsätzlich anzusehenden Fragen der Grenzen des Konzepts der normativen Vergewisserung sowie der Voraussetzungen der Wahrnehmung des Selbsteintrittsrechts und auch zu einer Klärung des unionsrechtlichen Verhältnisses der Dublin II VO zu Art. 16 a Abs. 2 GG sieht § 78 Abs. 2 Satz 1 AsylVfG nicht vor; diese Vorschrift sperrt eine parallele Anwendbarkeit des § 124 a Abs. 1 Satz 1 VwGO (Kopp / Schenke, VwGO, 16. Auflage München 2009, § 124 a Rn. 3 unter irriger Bestimmung der Zulassungsantragsfrist).
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Referenzen
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- § 27 a AsylVfG 1x (nicht zugeordnet)
- § 83 b AsylVfG 1x (nicht zugeordnet)
- 2008 sowie 81/20 1x (nicht zugeordnet)
- VwVfG § 40 Ermessen 1x
- VwGO § 154 1x
- VwGO § 123 1x
- 2 BvR 2315/93 5x (nicht zugeordnet)
- 7 K 4376/07 1x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 113 3x
- VwGO § 167 1x
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- 2 BvR 1938/93 5x (nicht zugeordnet)
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