Beschluss vom Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht (8. Kammer) - 8 B 18/17
Tenor
Die Anträge werden abgelehnt.
Die Antragsteller tragen die Kosten des Verfahrens. Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind erstattungsfähig.
Der Streitwert wird auf 7.500,00 € festgesetzt.
Gründe
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Der Eilantrag der Antragsteller hat weder im Hauptantrag (Antrag zu. 1) noch im Hilfsantrag (Antrag zu 2.) Erfolg.
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Mit dem Antrag zu 1. aus der Antragsschrift vom 05.04.2017 beantragen die Antragsteller,
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die sofortige Vollziehung der Baugenehmigung vom 02.01.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides der Antragsgegnerin vom 16.03.2017 (Az.: …) auszusetzen, hilfsweise die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs und der beabsichtigten Klage anzuordnen.
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Nach § 212 a Abs. 1 BauGB haben Widerspruch und Anfechtungsklage eines Dritten gegen die bauaufsichtliche Zulassung eines Vorhabens keine aufschiebende Wirkung. Legt ein Dritter gegen die einem anderen erteilte und diesen begünstigende Baugenehmigung Widerspruch oder Anfechtungsklage ein, so kann das Gericht auf Antrag gemäß § 80 a Abs. 3 Satz 2 VwGO in entsprechender Anwendung von § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO die bundesgesetzlich gemäß § 212 a Abs. 1 BauGB ausgeschlossene aufschiebende Wirkung des Widerspruchs oder der Anfechtungsklage ganz oder teilweise anordnen. Nach § 80a Abs. 3 S. 1 VwGO kann das Gericht hingegen Maßnahmen nach den Absätzen 1 und 2 ändern, aufheben oder solche Maßnahmen treffen. Gemäß § 80a Abs. 1 Nr. 2 VwGO kann die Behörde auf Antrag des Dritten nach § 80 Abs. 4 die Vollziehung aussetzen und einstweilige Maßnahmen zur Sicherung der Rechte des Dritten treffen. Die beiden Regelungen - §§ 80a Abs. 3 S. 2, 80 Abs. 5 VwGO einerseits und §§ 80a Abs. 3 S. 1, Abs. 1 Nr. 2 VwGO andererseits - sind, was Antrag und Tenor betrifft, ersichtlich nicht aufeinander abgestimmt (vgl. Schoch, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand: 29. EL 10/2015, § 80a Rn. 49). Entsprechend unterschiedlich ist die gerichtliche Praxis. Der überwiegende Teil der Judikatur - so auch die Kammer (vgl. u.a. die Beschlüsse vom 12.07.2016 – 8 B 25/16 sowie 8 B 26/16 -) - hält den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung (§§ 80a Abs. 3 S. 2, 80 Abs. 5 VwGO) für den statthaften Rechtsbehelf (so auch BVerwG, Beschluss vom 22.02.1995 - 11 VR 1/95 -, NVwZ 1995, S. 903, S. 904). Andere Gerichte behandeln das Rechtsschutzbegehren als Antrag auf Aussetzung der Vollziehung nach § 80a Abs. 3 S. 1 i.V.m. Abs. 1 Nr. 2 VwGO (z.B. VGH Mannheim, Beschluss vom 08.03.1994, 5 S 99/94). Entsprechend wird (bei einem zulässigen und begründeten Eilantrag) von einem Teil der Gerichte die Anordnung der aufschiebenden Wirkung verfügt, andere Gerichte nehmen die Aussetzung der Vollziehung vor.
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Letztlich kommt es hierauf angesichts des Umstandes, dass die Antragsteller hilfsweise auch die Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs bzw. der Klage beantragt haben, im Ergebnis jedoch nicht an, so dass der Antrag in jedem Fall zulässig ist.
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Der Eilantrag ist jedoch nicht begründet.
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Die Kammer trifft eine eigene Ermessensentscheidung darüber, welche Interessen höher zu bewerten sind - die für einen sofortigen Vollzug des angefochtenen Verwaltungsakts oder die für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung streitenden. Im Rahmen dieser Interessenabwägung sind auch die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache als wesentliches, aber nicht alleiniges Indiz zu berücksichtigen.
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Eine zum Erfolg des Antrags führende Nachbarrechtsverletzung ergibt sich nicht schon aus der objektiven Rechtswidrigkeit einer Baugenehmigung, sondern nur dann, wenn durch die Baugenehmigung Rechtsnormen verletzt werden, die zumindest auch dem Schutz der Nachbarschaft dienen, also drittschützende Wirkung haben. Eine solche drittschützende Wirkung vermitteln insoweit nur solche Vorschriften des öffentlichen Baurechts, die auch der Rücksichtnahme auf individuelle Interessen oder deren Ausgleich untereinander dienen.
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Bei der in diesem Verfahren vorzunehmenden Interessenabwägung zwischen dem Interesse der Beigeladenen, die ihr erteilte Baugenehmigung auszunutzen und dem Interesse der Antragsteller, von der Vollziehung der Baugenehmigung zunächst verschont zu bleiben, überwiegt das Interesse der Beigeladenen, weil sich bei der hier nur möglichen summarischen Überprüfung der Sach- und Rechtslage nicht feststellen lässt, dass die angefochtene Baugenehmigung Nachbarrechte der Antragsteller verletzt.
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Die Antragsteller können dem Vorhaben nicht den Gebietserhaltungsanspruch entgegenhalten.
- 11
Der Gebietserhaltungsanspruch setzt nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts voraus, dass das Grundstück, dessen Eigentümer sich auf den Anspruch beruft und das Grundstück, auf dem das Vorhaben errichtet werden soll, in einem Baugebiet liegen (vgl. BVerwG, Urteil vom 16.09.1993 - 4 C 28/91 - Rn. 12 ff., juris; BVerwG, Beschluss vom 18.12.2007 – 4 B 55/07 – Rn. 5, juris). Im Rahmen des nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses soll jeder Planbetroffene im Baugebiet das Eindringen einer gebietsfremden Nutzung und damit die schleichende Umwandlung des Baugebiets unabhängig von einer konkreten Beeinträchtigung verhindern können. Dies gilt grundsätzlich für die planerisch ausgewiesenen und die faktischen (§ 34 Abs. 2 BauGB) Baugebiete nach §§ 2 bis 9 BauNVO, die Ergebnis eines typisierenden Ausgleichs möglicher Nutzungskonflikte sind.
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Das Bauvorhaben („Umbau MFH zu ambulant betreuter Wohngemeinschaft für intensivpflegebedürftige Menschen“) ist im unbeplanten Innenbereich von A-Stadt (A-Straße ) belegen. Die nähere Umgebung entspricht – was auch zwischen den Beteiligten unstreitig ist - einem reinen Wohngebiet im Sinne des § 3 BauNVO, weshalb sich die Zulässigkeit des Vorhabens nach seiner Art allein danach beurteilt, ob es nach der BauNVO in einem reinen Wohngebiet zulässig ist (§ 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 3 BauNVO).
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Das genehmigte Bauvorhaben ist nach Auffassung der Kammer ein gemäß § 3 Abs. 2 Nr. 1, Abs. 4 BauNVO bauplanungsrechtlich zulässiges Wohngebäude.
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Mit der Regelung der Zulässigkeit von Wohngebäuden in § 3 Abs. 2 Nr. 1 BauNVO ist die allgemeine Zulässigkeit in den reinen Wohngebieten nicht abschließend festgelegt. Zur Inhaltsbestimmung des städtebaurechtlichen Wohnbegriffs muss ergänzend die Teildefinition des § 3 Abs. 4 BauNVO herangezogen werden. Danach gehören zu den nach Abs. 2 zulässigen Wohngebäuden auch solche, die ganz oder teilweise der Betreuung und Pflege ihrer Bewohner dienen. Die Vorschrift befasst sich mit einer besonderen Erscheinungsform des Wohnens unter den Bedingungen der Betreuungs- und Pflegebedürftigkeit und damit mit einer Unterart des Wohnens. § 3 Abs. 4 BauNVO setzt nach seinem Wortlaut voraus, dass das betroffene Gebäude als Wohngebäude genutzt wird. Diese Voraussetzung trägt dem Gebietscharakter des reinen Wohngebiets Rechnung (vgl. Stock, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Stand: 124. EL 02/17, § 3 BauNVO Rn. 60, 64).
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Der Begriff des Wohnens nach § 3 BauNVO ist durch eine auf Dauer angelegte Häuslichkeit, die Eigengestaltung der Haushaltsführung und des häuslichen Wirkungskreises sowie die Freiwilligkeit des Aufenthalts gekennzeichnet. Wenn die für das Wohnen konstituierenden Merkmalen im Mindestmaß noch erfüllt sind, liegt ein Wohngebäude im Sinne von § 3 Abs. 2 Nr. 1 und Abs. 4 BauNVO auch dann vor, wenn der Betreuung- und Pflegezweck gegenüber dem Wohnaspekt überwiegt. Wann dies der Fall ist, lässt sich nicht abstrakt, sondern nur nach den Umständen des Einzelfalls beurteilen. Die Nutzung ist abzugrenzen von Krankenhäusern oder krankenhausähnlichen Einrichtungen sowie von Einrichtungen, in denen nicht mehr „gewohnt“ wird, sondern in denen die Bewohner lediglich „untergebracht“ sind. Maßgeblich für die Erfüllung des Wohnbegriffs sind das Nutzungskonzept und seine grundsätzliche Verwirklichung, nicht das individuelle und mehr oder weniger spontane Verhalten einzelner Bewohner (vgl. VGH München, Beschluss vom 25.08.2009 – 1 CS 09.287 – Rn. 33, juris; OVG Koblenz, Beschluss vom 28.06.2016 – 8 B 10411/16.OVG -, Rn. 15, BeckRS 2016, 47925; OVG Lüneburg, Urteil vom 21.08.2002 – 1 LB 140/02 -, BeckRS 2002, 23677).
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Die für das Wohnen konstituierenden Merkmale werden vorliegend erfüllt. Die betreffenden Bewohner halten sich dort freiwillig auf. Nach der Betriebsbeschreibung (Bl. 17 der Beiakte A) sowie den ergänzenden Angaben zur Betriebsbeschreibung (Bl. 18 der Beiakte A), welche jeweils durch Grünstempelung Bestandteil der Baugenehmigung geworden sind, erfolgt durch die Beigeladene als Generalmieter eine Untervermietung der Einzelzimmer (insgesamt 12) an die Bewohner. Eine zeitliche Befristung findet nicht statt, so dass der Aufenthalt der Bewohner auch auf Dauer ausgelegt ist. Eine Eigengestaltung der Haushaltsführung und des häuslichen Wirkungskreises sind im hinreichenden Maße gegeben. Durch die Unterbringung in Einzelzimmern, die jeweils mit einer Küchenzeile ausgestattet werden sollen, ist grundsätzlich eine selbständige Lebensführung gewährleistet. Jeder Bewohner bringt seine eigenen Möbel und Haushaltsgegenstände ein. Je nach Gesundheitszustand können die Bewohner auch das Gebäude verlassen und ihr Leben gestalten. Ferner besteht die Möglichkeit, Haustiere zu halten. Die medizinische Versorgung (durch Ärzte und des betreuenden Pflegedienstes) ist Sache der intensivpflegebedürftigen Mieter und nicht der Beigeladenen. Die Mieter schließen selbst (oder ihr Betreuer) Pflegeverträge mit einem geeigneten, auf die ambulante Intensivpflege spezialisierten Pflegedienst ab. Das Vorhaben unterscheidet sich in seiner Ausgestaltung deutlich von Krankenhäusern oder krankenhausähnlichen Einrichtungen, deren Tätigkeitsfeld in erster Linie die Erkennung und Behandlung von Krankheiten unter dauerhafter ärztlicher Leitung umfasst (vgl. OVG Hamburg, Beschluss vom 27.04.2004 – 2 Bs 108/04 -, Rn. 4, juris).
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Die Antragsteller können dem Vorhaben auch nicht § 15 Abs. 1 S. 1 BauNVO entgegenhalten. Hiernach sind die in den §§ 2-14 aufgeführten baulichen und sonstigen Anlagen im Einzelfall unzulässig, wenn sie nach Anzahl, Lage, Umfang oder Zweckbestimmung der Eigenart des Baugebiets widersprechen. Entgegen der Auffassung der Antragsteller liegt eine gewerbliche Nutzung nicht vor (s.o.).
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Das Bauvorhaben erweist sich gegenüber den Antragstellern auch nicht als rücksichtslos. Nach § 15 Abs. 1 S. 2 BauNVO sind die in den §§ 2-14 aufgeführten baulichen und sonstigen Anlagen auch unzulässig, wenn von ihnen Belästigungen oder Störungen ausgehen können, die nach der Eigenart des Baugebiets im Baugebiet selbst oder in dessen Umgebung unzumutbar sind. Auch § 34 Abs. 1 BauGB enthält in dem Begriff des „Einfügens“ das Gebot der Rücksichtnahme. Dem Einwand, dass der mit dem Bauvorhaben einhergehende An- und Abfahrtverkehr für die Antragsteller unzumutbar sei, folgt die Kammer nicht. Nach der Betriebsbeschreibung ist es vorgesehen, nur solche Pflegedienste zuzulassen, die im Regelfall bereits ab dem vierten Bewohner zwei Pflegekräfte einsetzen, damit ein Versorgungsschlüssel von 1 (Pflegekraft) zu 3 (Bewohner) nicht unterschritten wird. Im Falle der Vermietung aller 12 Einzelzimmer werden daher lediglich 4 Pflegekräfte vor Ort sein, welche nach dem Vortrag der Beigeladenen sogar 12-stündige Schichten verrichten. Die Bewohner werden zudem angesichts ihrer Pflegebedürftigkeit in der Regel nicht über ein eigenes Kraftfahrzeug verfügen. Unzumutbare Belästigungen oder Störungen für die Antragsteller resultieren aus dem insgesamt als gering einzustufenden An- und Abfahrtsverkehr nicht.
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Auch der Hilfsantrag zu 2. nach § 123 VwGO,
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der Antragsgegnerin aufzugeben, die Baumaßnahmen auf dem Grundstück A-Straße. , A-Stadt, stillzulegen bzw. bis zur Entscheidung des Gerichts die Baumaßnahmen nicht beginnen zu lassen,
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hat keinen Erfolg. Wie oben ausgeführt, verletzt die Baugenehmigung vom 02.01.2017 die Antragsteller nicht in ihren Rechten. Eine Baustilllegung nach § 59 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 LBO scheidet daher aus.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind erstattungsfähig, da sie einen Sachantrag gestellt und damit ein Kostenrisiko eingegangen ist (§ 162 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 154 Abs. 3 VwGO).
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Der Streitwert beträgt für das Hauptsacheverfahren nach §§ 52 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG unter Zugrundelegung der regelmäßigen Wertannahmen des Berufungsgerichts 15.000,00 € und ist für das Eilverfahren zu halbieren.
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