Urteil vom Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht (12. Kammer) - 12 A 80/17
Tenor
Die Entlassungsverfügung der Beklagten vom 02.03.2017 und der Beschwerdebescheid der Beklagten vom 11.04.2017 werden aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Tatbestand
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Der Kläger wendet sich gegen seine fristlose Entlassung aus der Bundeswehr.
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Der Kläger wurde zum 01.12.2016 als Soldat auf Zeit bei der Bundeswehr in die Laufbahn der Mannschaften des allgemeinen Fachdienstes als Unteroffiziersanwärter einberufen.
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Am 09.12.2016 kam es außerhalb des Dienstes während einer Heimfahrt mit dem Zug zu einem zwischen den Beteiligten bezüglich des genauen Ablaufs streitigen Vorfall mit der Zeugin, einer Kameradin des Klägers.
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Am 13.12.2016 meldete die Zeugin den Vorfall und wurde dazu vernommen (Bl. 13 BA-B). Auf der Zugfahrt habe der Kläger sich neben sie gesetzt und dann damit begonnen die Innenseite ihrer Oberschenkel zu streicheln. Er habe zu ihr gesagt, er brauche unbedingt eine Freundin, damit er sich in der Kaserne keinen runterholen müsse. Sie habe sich davon bedrängt gefühlt und sei ganz an das Fenster gerutscht. Nachdem er den Zug verlassen habe, habe sie ihm geschrieben, was das solle. Er habe nur erwidert: „Sorry, war vielleicht nicht so gut.“
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Am selben Tag wurde auch der Kläger vernommen (Bl. 10 BA-B). Er ließ sich wie folgt ein. Die Beziehung zu der Zeugin habe sich im Laufe der Zeit freundschaftlich entwickelt. Man habe sich zur Begrüßung bzw. Verabschiedung umarmt. Die Zeugin habe sich auch einmal auf seinen Schoß gesetzt, um sich auszuheulen. Sie habe nach dem Duschen einmal ihre verbrannten Beine gezeigt und ihn diese fühlen lassen. Dabei habe sie nie erwähnt, dass der körperliche Kontakt in irgendeiner Form unangenehm sei. Am 09.12.2016 habe er sich im Zug neben sie gesetzt und ihr in Gedanken versunken, mehr aus Gewohnheit heraus über das Bein gefasst. Es könne schon sein, dass er etwas wie: „Ich brauche eine Freundin, damit ich es mir nicht selbst machen muss“ gesagt habe. Einen zweiten Annäherungsversuch habe er nicht bewusst gestartet und habe auch nichts von einer Äußerung mitbekommen, in der sie sagte er solle es unterlassen. Nachdem er ausgestiegen sei, habe sie ihm eine Nachricht geschrieben, dass sie sein Verhalten als belästigend empfunden habe und ob er nicht wisse, dass sie einen Freund habe. Er habe geantwortet, es tue ihm leid und habe sich entschuldigt.
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In der Folge wurden weitere Zeugen zum Verhältnis des Klägers und der Zeugin vernommen. Mehrere Aussagen bestätigten freizügiges Verhalten der Zeugin im Hinblick auf ihre Bekleidung und ihr Verhältnis zum Kläger, was falsche Signale gesendet haben könnte (Bl. 15, 20, 22 BA-B). Die Situationen des Ausheulens und der verbrannten Oberschenkel wurden bestätigt (Bl. 15, 20 BA-B). Darüber hinaus wurde bezeugt, dass der Kläger den Kontakt zur Zeugin gesucht habe. Sein Verhalten habe zum Teil bemutternd gewirkt (Bl. 16, 19 f. BA-B). Für den Vorfall im Zug gab es keine Zeugen.
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Der Vorgang wurde am 20.12.2016 an die Staatsanwaltschaft abgegeben und später nach § 170 Abs. 2 StPO (Strafprozessordnung) eingestellt.
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Der Disziplinarvorgesetzte des Klägers beantragte am 09.01.2017 die fristlose Entlassung des Klägers gemäß § 55 Abs. 5 SG (Soldatengesetz) auf Grundlage der Aussage der Zeugin. Mit Stellungnahme vom 11.01.2017 schloss sich auch der nächsthöhere Disziplinarvorgesetzte dieser Stellungnahme an.
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In der Eröffnung- und Anhörungsniederschrift vom 09.01.2017 erklärte sich der Kläger mit der geplanten Personalmaßnahme nicht einverstanden.
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Mit Stellungnahme vom 10.01.2017 sprach sich auch die Vertrauensperson gegen die Entlassung aus. Das Fehlverhalten sei auf eine irrige Annahme und nicht etwa auf charakterliche Mängel zurückzuführen. Der Kläger sei freundlich und umgänglich, ein vertrauenswürdiger Kamerad, der im Dienst keinen Anlass zur Kritik gebe. Das Verhalten des Klägers sei nach seiner Einschätzung nicht auf böser Absicht zurückzuführen. Die sehr aufreizende Attitüde und der sehr herzliche Umgang mit der Zeugin hätten zu dem Annäherungsversuch geführt. Es stehe außer Frage, dass eine Berührung und Zurückweisung stattgefunden hätten. Die negative Erfahrung sei dem Kläger eine Lehre gewesen.
- 11
Daraufhin erließ die Beklagte am 02.03.2017 eine Entlassungsverfügung. Auf Grundlage der Zeugenaussage und der Einlassung des Klägers stünde zu ihrer Überzeugung fest, dass der Kläger seine Hand auf den Oberschenkel der Zeugin legte und diese auf der Innenseite streichelte. Darüber hinaus habe er zu ihr gesagt: „Ich brauche unbedingt eine Freundin, damit ich mir in der Kaserne keinen mehr runterholen muss“. Dieses Verhalten stelle einen groben Verstoß gegen die Kameradschaftspflicht gemäß § 12 Satz 1 und 2 SG (Soldatengesetz) und die Wohlverhaltenspflicht gemäß § 17 Abs. 2 SG dar. Durch sein Verhalten habe der Kläger die Zeugin zu einem bloßen (Sexual-) Objekt erniedrigt und damit massiv in ihre persönliche Ehre eingegriffen. Dass sich hierin zeigende Frauenbild sei mit dem der Bundeswehr gänzlich unvereinbar. Auch ein einmaliger Verstoß gegen die Dienstpflichten sei geeignet, andere Soldaten zur Nachahmung zu verleiten und damit einer allgemeinen Disziplinlosigkeit Vorschub zu leisten.
- 12
Hiergegen hat der Kläger am 13.03.2017 Beschwerde eingelegt. Er trug vor, dass eine Entlassung angesichts der Geringfügigkeit des Vergehens unverhältnismäßig sei. Es sei unfassbar, dass die bloße Berührung des Oberschenkels des anderen Geschlechts und der saloppe Spruch eines Jugendlichen zu einer fristlosen Entlassung aus der Bundeswehr führe. Es liege weder ein festgestelltes Dienstvergehen noch eine Straftat vor.
- 13
Am 11.04.2017 erging ein ablehnender Beschwerdebescheid der Beklagten. Zur Begründung trug diese ergänzend vor, dass die Schuldhaftigkeit der Pflichtverletzungen sich daraus ergebe, dass der Kläger die Zeugin mindestens zweimal am Oberschenkel berührt habe, obwohl diese ihm beim ersten Mal ihren Unwillen zu verstehen gegeben habe. Ein Verbleib des Klägers in der Bundeswehr gefährde die militärische Ordnung. Es handele sich um Verletzungen des Kernbereichs der militärischen Ordnung, nämlich der Funktionsfähigkeit der Streitkräfte. Es dürfe nicht der Eindruck entstehen, dass ein solches erniedrigende und herabwürdigendes Verhalten geduldet werde. Es ergäbe sich Wiederholungsgefahr aus der fehlenden Einsicht des Klägers. Darüber hinaus sei auch das Ansehen der Bundeswehr ernstlich gefährdet. Es bestehe die berechtigte Erwartung der Bevölkerung an der Integrität der Bundeswehr; insbesondere im Hinblick auf sexuelle Belästigung.
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Daraufhin hat der Kläger am 15.05.2017 Klage erhoben.
- 15
Zur Begründung trägt er zum Sachverhalt ergänzend vor, dass es anzügliche Späße zwischen ihm und der Zeugin gegeben habe. Den besagten Satz habe er in einem entsprechenden Gespräch über Partnerschaften geäußert; nach seiner heutigen Erinnerung aber nicht auf der Zugfahrt. Es sei als Scherz gemeint gewesen, zumal er tendenziell eher homosexuell sei und die Zeugin nicht seinem Typ entspreche. Auf der Zugfahrt hätten sie sich nahezu nicht unterhalten. Er habe aber gerne ein Gespräch führen wollen und habe die Zeugin in Gedanken leicht am Bein direkt über dem Knie angestoßen. Er habe niemals ihr Bein gestreichelt, schon gar nicht die Innenseite. Zudem wies er darauf hin, dass der Beschwerdebescheid in nicht nachvollziehbarer Weise abweichend vom Ausgangsbescheid von einer zweimaligen statt einmaligen Berührung des Oberschenkels der Zeugin ausginge.
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Darüber hinaus müsse bei der Bewertung der Situation Berücksichtigung finden, dass die Zeugin sich durch besondere Freizügigkeit ausgezeichnet habe.
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Es liege keine vorsätzliche Dienstpflichtverletzung vor. Die Annahme einer Pflichtverletzung wirke im Hinblick auf den Vorsatz bereits konstruiert. Zumindest jedoch die Bewertung des von der Beklagten angenommenen Sachverhalts als ernstliche Gefährdung der militärischen Ordnung und die Annahme einer Nachahmungsgefahr seien nicht nachvollziehbar.
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Die Beklagte hätte vorrangig eine Disziplinarmaßnahme nach der Wehrdisziplinarordnung verhängen können. Darüber hinaus zeige auch die Einstellung des Strafverfahrens die Unangemessenheit der Entlassung.
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Der Kläger beantragt,
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die Entlassungsverfügung des Bundesamts für das Personalmanagement der Bundeswehr vom 02.03.2017 und der Beschwerdebescheid des Bundesamts für das Personalmanagement der Bundeswehr vom 11.04.2017 aufzuheben.
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Die Beklagte beantragt,
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Klage abzuweisen.
- 23
Zur Begründung trägt sie vor, dass sie von zwei Annäherungsversuchen ausgehe, da der Kläger in seiner Vernehmung zugegeben habe, ihr an den Oberschenkel gefasst zu haben; einen zweiten Annäherungsversuch jedoch nicht bewusst gemacht zu haben. Dies schließe jedoch einen solchen gerade nicht aus. Vor dem Hintergrund des Sexualstrafrechtsverschärfungsgesetzes liege im kameradschaftlichen Umgang des Klägers mit der Zeugin ein ernsthafter Verstoß vor. Eine möglicherweise freizügiges Verhalten der Zeugin könne dahinstehen. Der Kläger hätte erkennen müssen, dass die Zeugin die Annäherung nicht gewollt habe. Würde in einem solchen Fall von Seiten des Dienstherrn nicht eingeschritten werden, könne dies dahingehend verstanden werden, dass ungewollte körperliche Annäherungen toleriert würden.
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Das Gericht hat die Zeugin entsprechend dem Beweisbeschluss in der mündlichen Verhandlung zu den Umständen des streitgegenständlichen Vorfalls vernommen. Wegen der Einzelheiten der Beweisaufnahme wird auf die Verhandlungsniederschrift Bezug genommen.
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Die Beteiligten haben mit Schreiben vom 02.02.2018 und 28.03.2018 ihr Einverständnis mit einer Entscheidung durch die Berichterstatterin erklärt.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und den beigezogenen Verwaltungsvorgang der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Aufgrund des von den Beteiligten diesbezüglich erklärten Einverständnisses kann das Gericht durch die Berichterstatterin anstelle der Kammer entscheiden (vgl. § 87a Abs. 3 i.V.m. § 87a Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).
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Die zulässige Klage ist begründet.
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Der Bescheid vom 02.03.2017 in Gestalt des Beschwerdebescheids vom 11.04.2017 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 VwGO).
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Die formell rechtmäßige Entlassung ist materiell rechtswidrig.
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Rechtsgrundlage der Entlassung ist § 55 Abs. 5 SG (Soldatengesetz). Nach § 55 Abs. 5 SG kann ein Soldat auf Zeit während der ersten vier Dienstjahre fristlos entlassen werden, wenn er seine Dienstpflichten schuldhaft verletzt hat und sein Verbleiben in seinem Dienstverhältnis die militärische Ordnung und das Ansehen der Bundeswehr ernstlich gefährden würde.
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Der Normzweck besteht darin, eine drohende Gefahr von der Bundeswehr abzuwenden und einem künftigen Schaden vorzubeugen. Die Vorschrift soll die personelle und materielle Einsatzbereitschaft der Bundeswehr gewährleisten und ermöglicht in diesem Zusammenhang, einen Soldaten auf Zeit unter erleichterten Bedingungen fristlos zu entlassen. Hintergrund ist, dass die Rechtsstellung eines Soldaten auf Zeit in den ersten vier Jahren noch nicht so gefestigt ist, dass der Soldat nur unter den besonderen materiell und verfahrensrechtlichen Voraussetzungen der Wehrdisziplinarordnung (WDO) aus dem Dienstverhältnis entfernt werden kann (BVerwG, Urteil vom 24.09.1992 – 2 C 17.91 – Juris Rn. 15; Beschluss vom 16.08.2010 – 2 B 33.10 – Juris Rn. 6; Scherer/Alf/Poretschkin/Lucks, Soldatengesetz Kommentar, 10 Auflage, § 55 Rn. 17 f.; Vogelsang, GKÖD, Band I, Wehrrecht – SG Kommentar, BR Lfg. 2/15, § 55 Rn. 26).
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Mithin handelt es sich nicht um eine disziplinare Sanktion wegen eines Fehlverhaltens des Soldaten, sondern die Abwendung einer drohenden ernstlichen Gefahr für die Bundeswehr, die durch eine Dienstpflichtverletzung des Soldaten hervorgerufen wurde. Die fristlose Entlassung kann danach auch neben einer einfachen Disziplinarmaßnahme verhängt werden. Da die Entlassung nach § 55 Abs. 5 SGB keine Disziplinarmaßnahme darstellt, ist im Rahmen der Prüfung einer Entlassungsverfügung auch kein Raum für Erwägungen darüber, ob die Sanktion der dienstlichen Verfehlung angemessen ist und ob der betreffende Soldat im Hinblick auf die Art und Schwere der Dienstpflichtverletzung noch tragbar oder untragbar ist. Andererseits ist im Rahmen der Gefährdungsprüfung zu berücksichtigen, ob die Gefahr auch durch eine Disziplinarmaßnahme als notwendiges aber auch milderes Mittel abgewendet werden kann (BVerwG, Urteil vom 24.09.1992 – 2 C 17.91 – Juris Rn. 15 m.w.N.).
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Die Rechtsgrundlage gewährt den militärischen Stellen keinen der gerichtlichen Nachprüfung entzogenen Beurteilungsspielraum bei der vorausschauenden Beurteilung der Gefahr. Das Verwaltungsgericht überprüft die Entlassung in einer „objektiv nachträglichen Prognose“ (BVerwG, Beschluss vom 16.08.2010 – 2 B 33.10 – Juris Rn. 6; Urteil vom 24.09.1992 – 2 C 17.91 – Juris Rn. 14 m.w.N.).
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Gemessen an diesem Maßstab kommt das Gericht zu dem Ergebnis, dass die Tatbestandsvoraussetzungen des § 55 Abs. 5 SG nicht vorliegen. Die Entlassung des Klägers ist nicht gerechtfertigt.
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Zwar kann eine Verletzung von Dienstpflichten durch den Kläger noch angenommen werden. Es genügt jede schuldhafte Pflichtverletzung, unabhängig davon, ob es sich um einen schweren oder leichten Fall handelt; oder verschärfende oder mildernde Umstände hinzutreten (Scherer/Alf/Poretschkin/Lucks, Soldatengesetz Kommentar, 10 Auflage, § 55 Rn. 20), so dass losgelöst von der Frage der Intensität des klägerischen Handelns; ob es sich um ein Streicheln oder Anstoßen des Knies oder der Innenseite des Oberschenkels handelte und welche Aussage genau getroffen wurde, zumindest ein leichter Verstoß gegen § 12 Satz 2 SG und § 17 Abs. 2 Satz 1 SG anzunehmen ist.
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Nach § 12 Satz 2 SG verpflichtet die Kameradschaft alle Soldaten, die Würde, die Ehre und die Rechte des Kameraden zu achten. Der Zusammenhalt der Bundeswehr beruht gemäß § 12 Satz 1 SG wesentlich auf Kameradschaft. Die Erfüllung der dienstlichen Aufgaben erfordert gegenseitiges Vertrauen sowie das Bewusstsein, sich jederzeit aufeinander verlassen zu können. Daher ist es unerheblich, ob ein Soldat gegenüber dem Betroffenen die Absicht hatte, ihn durch sein Verhalten zu demütigen. Denn das Gebot, den Kameraden zu achten, ist nicht nur um des einzelnen Soldaten willen in das Soldatengesetz aufgenommen worden, sondern soll Handlungsweisen verhindern, die auch objektiv geeignet sind, den militärischen Zusammenhalt und das gegenseitige Vertrauen sowie die Bereitschaft zum gegenseitigen Einstehen zu gefährden (BVerwG, Urteil vom 23.6.2016 – 2 WD 21.15 – Juris Rn. 30 m.w.N.). Die in Rede stehende Äußerung des Klägers in Kombination mit seinem Verhalten sind objektiv geeignet, den militärischen Zusammenhalt und das gegenseitige Vertrauen zu gefährden. Das Verhalten war unerwünscht. Der Kläger hat in die Würde der Zeugin eingegriffen. Im Ergebnis ist der Vorfall Ausdruck fehlender Rücksichtnahme gegenüber einer weiblichen Kameradin.
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Nach § 17 Abs. 2 Satz 1 SG muss das Verhalten des Soldaten dem Ansehen der Bundeswehr sowie der Achtung und dem Vertrauen gerecht werden, die sein Dienst als Soldat erfordert. Danach bedarf ein Soldat der Achtung seiner Kameraden sowie des Vertrauens seiner Vorgesetzten, um seine Aufgaben so zu erfüllen, dass der gesamte Ablauf des militärischen Dienstes gewährleistet ist. Dabei kommt es nicht darauf an, ob eine Beeinträchtigung der Achtungs- und Vertrauenswürdigkeit tatsächlich eingetreten ist, sondern nur darauf, ob das festgestellte Verhalten dazu geeignet war (VGH München, Beschluss vom 19.04.2018 – 6 CS 18/580 – Juris Rn. 14; BVerwG, Urteil vom 13.01.2011 – 2 WD 20.09 – Juris Rn. 68). Das ist bei den Äußerungen des Klägers anzunehmen.
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Durch den Verbleib des Klägers in seinem Dienstverhältnis wäre jedoch die militärische Ordnung oder das Ansehen der Bundeswehr nicht ernsthaft gefährdet.
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Für die Prüfung einer ernsthaften Gefährdung kommt es nicht entscheidend auf die Schwere der Dienstpflichtverletzung an, sondern auf die Ernstlichkeit des befürchteten Schadens.
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Es ist weder ein ernstlicher Schaden für die militärische Ordnung noch für das Ansehen der Bundeswehr im Sinne des § 55 Abs. 5 SG zu befürchten.
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Unter militärische Ordnung ist der Inbegriff der Elemente zu verstehen, welche die Verteidigungsbereitschaft der Bundeswehr nach den gegebenen rechtlichen und tatsächlichen Verhältnissen erhalten. Schutzgut der militärischen Ordnung ist somit die innerbetriebliche Funktionsfähigkeit der Streitkräfte, und zwar in dem Umfang, wie diese zur Erhaltung der personellen und materiellen Einsatzbereitschaft der Bundeswehr erforderlich ist. Dazu gehören vor allem die Disziplin der Truppe und die Sicherstellung der für den jederzeitigen Einsatz erforderlichen Waffen und Geräte (Scherer/Alf/Poretschkin/Lucks, Soldatengesetz Kommentar, 10 Auflage, § 55 Rn. 21; Vogelsang, GKÖD, Band I, Wehrrecht – SG Kommentar, BR Lfg. 2/15, § 55 Rn. 31).
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In der Rechtsprechung haben sich Fallgruppen herausgebildet, bei denen eine ernstliche Gefährdung der militärischen Ordnung regelmäßig anzunehmen ist: Dies gilt vor allem für Dienstpflichtverletzungen im militärischen Kernbereich, die unmittelbar die Einsatzbereitschaft beeinträchtigen. Bei Dienstpflichtverletzungen außerhalb dieses Bereichs kann regelmäßig auf eine ernstliche Gefährdung geschlossen werden, wenn es sich um Straftaten von erheblichem Gewicht handelt, wenn zu befürchten wäre, dass es bei dem zu entlassenden Soldaten zu weiteren vergleichbaren Dienstpflichtverletzungen kommen würde (Wiederholungsgefahr) oder wenn es sich bei dem Fehlverhalten um eine Disziplinlosigkeit handelt, die in der Truppe als allgemeine Erscheinung auftritt oder um sich zu greifen droht (Nachahmungsgefahr) (VGH München, Beschluss vom 19.04.2018 – 6 CS 18/580 – Juris Rn. 8 m.w.N.; OVG Magdeburg, Beschluss vom 23.04.2009 – 1 L 29/09 – Juris Rn. 12). Die beiden letztgenannten Fallgruppen erfordern eine einzelfallbezogene Würdigung der konkreten Dienstpflichtverletzung (BVerwG, Beschluss vom 16.08.2010 – 2 B 33.10 – Juris Rn. 6 ff.).
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Der vorliegende Fall unterliegt keiner der Fallgruppen.
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Die Pflichtverletzungen des Klägers betreffen nicht den militärischen Kernbereich. In den militärischen Kernbereich fallen nur innerdienstliche Pflichtverletzungen oder außerdienstliches Verhalten, das unmittelbar hierauf gerichtet ist (Scherer/Alf/Poretschkin/Lucks, Soldatengesetz Kommentar, 10 Auflage, § 55 Rn. 36). Bei dem Vorfall auf der Heimfahrt im Zug handelt sich nicht um vergleichbare Handlungen, die unmittelbare Auswirkungen auf die Einsatzbereitschaft haben (vgl. im Falle sexueller Belästigungen gem. § 3 Abs. 4 SoldGG Kernbereich verneinend: VGH München, Beschluss vom 19.04.2018 – 6 CS 18/580 – Juris Rn. 16).
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Es sind keine Straftaten von erheblichem Gewicht gegeben. Das Ermittlungsverfahren wurde eingestellt.
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Nach Auffassung des Gerichts besteht keine begründete Wiederholungsgefahr. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Kläger bislang disziplinarrechtlich nicht aufgefallen ist und in Zeugenaussagen und von seiner Vertrauensperson als zurückhaltender Mensch bezeichnet wird. Es handelte sich um einen einmaligen Vorfall, für den er sich entschuldigt hat. Darüber hinaus sind dem Gericht keine abweichenden Gründe bekannt.
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Eine Nachahmungsgefahr, die die Entlassung des Klägers notwendig erscheinen lässt, ist nicht gegeben.
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Zwar ist eine Nachahmungsgefahr grundsätzlich nicht eindeutig auszuschließen. Die Rechtsprechung hat im Falle wiederholter, sexuell belästigender Äußerungen im Einzelfall eine Nachahmungsgefahr angenommen (vgl. VGH München, Beschluss vom 19.04.2018 – 6 CS 18/580 – Juris Rn. 16). Jedoch hätte dieser Gefahr durch eine geeignete und angemessene Disziplinarmaßnahme als milderes Mittel begegnet werden können, so dass ein Schaden für die militärische Ordnung im Ergebnis nicht zu befürchten gewesen wäre.
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Für das Gericht steht nach Abschluss der Beweisaufnahme fest, dass der Kläger die in Streit stehende Äußerung gegenüber der Zeugin getätigt hat. Der Kläger ließ sich in der mündlichen Verhandlung in Übereinstimmung zu seinem vorherigen Vortrag insofern bestätigend ein.
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Jedoch spricht vieles dafür, dass der Zeitpunkt und Kontext der Äußerung ein anderer war, was in die Bewertung des Geschehens mit einzubeziehen ist. Der Kläger führte hierzu in der Verhandlung wie bereits zuvor aus, dass es zu der Aussage in einem lockeren Gespräch über Partnerschaften gekommen war und dass dies als Scherz gemeint war. Die Einlassung in seiner ersten Vernehmung, „dass es schon sein könne, dass er die Äußerung getätigt habe“ erfolgte zwar im Kontext zum Geschehen während der Zugfahrt, war ansonsten jedoch nicht explizit auf einen Zeitpunkt bezogen. Für einen abweichenden Zeitpunkt spricht zudem, dass die Zeugin zum Vorfall befragt von sich aus zwar das Anfassen beschrieb, darüber hinaus jedoch kein Gespräch oder gar die Äußerung thematisierte, sondern nur auf konkrete Nachfrage hin die Äußerung als Teil des Geschehens wiedergab. Die Darstellung des Klägers erscheint vor dem Hintergrund des gemeinsamen Lebens in der Kaserne auf engem Raum, mit gleichaltrigen jungen Menschen und des von beiden bestätigten freundschaftlich, vertrauten und lockeren Verhältnisses plausibel. Außerdem untermauert auch der Umstand, dass der Kläger glaubhaft darlegte, dass die Zeugin nicht sein Typ und er zum damaligen Zeitpunkt tendenziell homosexuell war, die Aussage des Klägers. Zumal auch die Zeugin das Verhältnis als rein freundschaftliches ohne Annäherungsversuche des Klägers beschrieb.
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Darüber hinaus sieht es das Gericht als erwiesen an, dass der Kläger die Zeugin einmal in einer von ihr als unangenehm empfundener Art und Weise berührt hat, die er selbst jedoch freundschaftlich gemeint hat. Eine zweimalige Berührung – wie sie Grundlage des Beschwerdebescheides war – wurde weder von der Zeugin noch vom Kläger dargelegt. Die Zeugin hat die körperliche Berührung als ein Anfassen auf der Innenseite ihres Oberschenkels beschrieben, während der Kläger von einem in Gedanken erfolgten Anstoßen am Knie bzw. Fassen über das Bein sprach, um die Aufmerksamkeit für ein Gespräch zu erlangen. Aus Sicht des Gerichts ist für die Bewertung der Situation, losgelöst von der genauen Verortung der Berührung, das Näheverhältnis beider von entscheidender Bedeutung. Beide beschrieben ihr Verhältnis als sehr freundschaftlich, eng und vertrauensvoll. Die Zeugin bestätigte Gespräche über private Probleme und Sorgen und dass sie Trost beim Kläger als engster Vertrauensperson suchte. Dabei kam es zu Umarmungen und Sitzen auf dem Schoß des Klägers. Zudem ergibt sich aus der Aussage des Klägers sowie mehrerer übereinstimmender Zeugenaussagen von Kameraden, dass die Zeugin im Alltag sehr freizügig im Hinblick auf Kleidung und Verhalten aufgetreten ist. Dabei zeigte sie z.B. einmal in der Stube des Klägers ihre vom Duschen verbrannten Beine. Sie selbst hat dies in der mündlichen Verhandlung als ihr nicht erinnerlich dargestellt. Das sich hierin zeigende zwischenmenschliche Gefüge der Beteiligten und die durch das Verhalten der Zeugin ausgesendeten Signale verschieben ein Stück weit auch den Maßstab für die Beurteilung der Situation.
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Abgesehen davon war die Pflichtverletzung – selbst unter Zugrundelegung der Angaben der Zeugin – ohnehin im Hinblick auf ihre Quantität und Qualität nicht so schwerwiegend. Es handelte sich um einen einmaligen Vorfall, für den sich der Kläger entschuldigt hat, bei dem ein Mitwirken durch die Zeugin anzunehmen ist und der in seiner Intensität sowohl der Äußerung als auch des Körperkontaktes nicht mit der zitierten Rechtsprechung vergleichbar ist. Eine Disziplinarmaßnahme, wie eine Ausgangsbeschränkung oder eine Disziplinarbuße (§§ 22 ff. WDO) hätte sowohl gegenüber dem Kläger als auch der Truppe ausreichende Wirkung auf die Disziplin gehabt. Sie hätte unmittelbar nach Abschluss der Befragungen in die Wege geleitet werden können und unter Einbeziehung der Truppe gegenüber dem Kläger ausgesprochen werden können, so dass Verhalten und Ahndung des Klägers auch nach außen hin Wirkung entfaltet hätten.
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Das Verbleiben des Klägers in seinem Dienstverhältnis führt auch nicht zu einer ernstlichen Gefährdung des Ansehens der Bundeswehr. Bei einer Gefährdung des Ansehens der Bundeswehr geht es um den guten Ruf der Streitkräfte oder einzelner Truppenteile, bei Außenstehenden, vor allem in der Öffentlichkeit, aus der Sicht eines den jeweiligen Lebensverhältnissen gegenüber aufgeschlossen, objektiv wertenden Betrachters (Scherer/Alf/Poretschkin/Lucks, Soldatengesetz Kommentar, 10 Auflage, § 55 Rn. 22; Vogelsang, GKÖD, Band I, Wehrrecht – SG Kommentar, BR Lfg. 2/15, § 55 Rn. 32). Dabei wird das Ansehen der Bundeswehr wesentlich getragen von ihren Teilhabern an der freiheitlich-demokratischen Grundordnung und dem Vertrauen darauf, dass sie sich den Werten des Grundgesetzes verpflichtet weiß. Hier ist jedoch zu berücksichtigen, dass dem durch die Verhängung einer Disziplinarmaßnahme begegnet werden kann. Das Ansehen der Bundeswehr ist umso weniger betroffen, wenn, soweit ein Fehlverhalten bekannt wird, zugleich bekannt wird, dass die Bundeswehr ein derartiges Fehlverhalten nicht duldet, sondern disziplinarrechtlich dagegen vorgeht und dadurch künftiges Fehlverhalten unterbindet.
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Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO.
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Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
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