Beschluss vom Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht (1. Kammer) - 1 B 131/20

Tenor

Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes wird abgelehnt.

Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Der Streitwert wird auf 5.000, -- € festgesetzt.

Gründe

1

Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ist als Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin gegen die Anordnungen des Antragsgegners, erstmals ausgesprochen am 15. Oktober 2020 und dann jeweils verlängert, zulässig, jedoch nicht begründet.

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Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 1. Alt. VwGO i.V.m. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO kann das Gericht in dem vorliegenden Fall des nach § 28 Abs. 3 i.V.m. § 16 Abs. 8 IfSG gesetzlich angeordneten Sofortvollzuges die aufschiebende Wirkung des Widerspruches ganz oder teilweise anordnen. Die gerichtliche Entscheidung ergeht dabei auf der Grundlage einer umfassenden Interessenabwägung. Gegenstand der Abwägung sind das Aufschubinteresse der Antragstellerin einerseits und das öffentliche Interesse an der Vollziehung des streitbefangenen Verwaltungsaktes andererseits. Im Rahmen dieser Interessenabwägung können auch Erkenntnisse über die Rechtmäßigkeit und die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes, der vollzogen werden soll, Bedeutung erlangen, allerdings nicht als unmittelbare Entscheidungsgrundlage, sondern als in die Abwägung einzustellende Gesichtspunkte, wenn aufgrund der gebotenen summarischen Prüfung Erfolg oder Misserfolg des Rechtsbehelfs offensichtlich erscheinen. Lässt sich bei der summarischen Überprüfung die Rechtswidrigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes ohne weiteres feststellen, ist sie also offensichtlich, so ist die aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs anzuordnen, weil an einer sofortigen Vollziehung eines offensichtlich rechtswidrigen Verwaltungsaktes kein öffentliches Interesse bestehen kann. Erweist sich nach der genannten Überprüfung der angefochtene Verwaltungsakt als offensichtlich rechtmäßig, so führt dies in Fällen des gesetzlich angeordneten Sofortvollzuges regelmäßig dazu, dass der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung abzulehnen ist.

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Lässt sich nach der im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO gebotenen summarischen Überprüfung weder die offensichtliche Rechtmäßigkeit noch die offensichtliche Rechtswidrigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes mit der erforderlichen Sicherheit feststellen, so ergeht die Entscheidung aufgrund einer weiteren Interessenabwägung, in der zum einen die Auswirkungen in Bezug auf das öffentliche Interesse in dem Fall, dass dem Antrag stattgegeben wird, der Rechtsbehelf im Hauptsacheverfahren indes erfolglos bleibt, und zum anderen die Auswirkungen auf den Betroffenen für den Fall der Ablehnung eines Antrags und des erfolgreichen Rechtsbehelfs in der Hauptsache gegenüberzustellen sind. Bei dieser Interessenabwägung ist jeweils die Richtigkeit des Vorbringens desjenigen als wahr zu unterstellen, dessen Position gerade betrachtet wird, soweit das jeweilige Vorbringen ausreichend substantiiert und die Unrichtigkeit nicht ohne weiteres erkennbar ist (OVG Schleswig, Beschluss vom 13. September 1991 – 4 M 125/91 –, Rn. 14, juris; Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht, Beschluss vom 11. September 2017 – 1 B 128/17 –, Rn. 28 - 29, juris).

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Die Anordnung zur Absonderung ist nach dem gegenwärtigen Erkenntnisstand der Kammer offensichtlich rechtmäßig.

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Die streitgegenständlichen Verfügungen finden ihre Rechtsgrundlage in der Vorschrift des § 28 Abs. 1 Satz 1, 2, § 30 Abs. 1 IfSG in der Fassung des Art. 5 des Gesetzes 19. Juni 2020 (BGBl. I S. 1385). Nach dieser Vorschrift trifft die zuständige Behörde, wenn Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt werden, die notwendigen Schutzmaßnahmen, insbesondere die in den §§ 29-31 genannten, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist; sie kann insbesondere Personen verpflichten, den Ort, an dem sie sich befinden, nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu verlassen oder von ihr bestimmte Orte oder öffentliche Orte nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu betreten (Satz 1). Unter den Voraussetzungen von Satz 1 kann die zuständige Behörde Veranstaltungen oder sonstige Ansammlungen von Menschen beschränken oder verbieten und Badeanstalten oder in § 33 genannte Gemeinschaftseinrichtungen oder Teile davon schließen (Satz 2). Eine Heilbehandlung darf nicht angeordnet werden (Satz 3). Die Grundrechte der Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 des Grundgesetzes), der Versammlungsfreiheit (Art. 8 des Grundgesetzes), der Freizügigkeit (Art. 11 Abs. 1 des Grundgesetzes) und der Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 Abs. 1 des Grundgesetzes) werden insoweit eingeschränkt (Satz 4).

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Nach § 30 Abs. 1 Satz 1 IfSG hat die zuständige Behörde anzuordnen, dass Personen, die an Lungenpest oder an von Mensch zu Mensch übertragbarem hämorrhagischem Fieber erkrankt oder dessen verdächtig sind, unverzüglich in einem Krankenhaus oder einer für diese Krankheiten geeigneten Einrichtung abgesondert werden. Bei sonstigen Kranken sowie Krankheitsverdächtigen, Ansteckungsverdächtigen und Ausscheidern kann nach § 30 Abs. 1 Satz 2 IfSG angeordnet werden, dass sie in einem geeigneten Krankenhaus oder in sonst geeigneter Weise abgesondert werden, bei Ausscheidern jedoch nur, wenn sie andere Schutzmaßnahmen nicht befolgen, befolgen können oder befolgen würden und dadurch ihre Umgebung gefährden.

7

Aus § 30 Abs. 1 Satz 2 IfSG ergibt sich, dass Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige und Ausscheider einer Quarantänemaßnahme nach dieser Vorschrift unterzogen werden dürfen. Diese Adressatenkreise sind in § 2 Nr. 4 bis Nr. 7 IfSG legaldefiniert. Danach ist Kranker, eine Person, die an einer übertragbaren Krankheit erkrankt ist, ein „Krankheitsverdächtiger“ eine Person, bei der Symptome bestehen, welche das Vorliegen einer bestimmten übertragbaren Krankheit vermuten lassen; ein „Ausscheider“ ist eine Person, die Krankheitserreger ausscheidet und dadurch eine Ansteckungsquelle für die Allgemeinheit sein kann, ohne krank oder krankheitsverdächtig zu sein. „Ansteckungsverdächtiger“ ist schließlich eine Person, von der anzunehmen ist, dass sie Krankheitserreger aufgenommen hat, ohne krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider zu sein. Die Antragstellerin ist zweimal positiv auf das Corona-Virus getestet worden und gilt damit im Sinne der genannten Vorschrift als Kranke.

8

Die Anordnung zur Absonderung ist eine notwendige Schutzmaßnahme. Mit Blick auf COVID-19 gilt, dass Hauptübertragungsweg für den Erreger SARS-CoV-2 die respiratorische Aufnahme virushaltiger Flüssigkeitspartikel (Aerosole und Tröpfchen) ist. Während insbesondere größere respiratorische Tröpfchen schnell zu Boden sinken, können Aerosole, die unter anderem beim Atmen, Sprechen oder Singen ausgestoßen werden, auch über längere Zeit in der Luft schweben und sich verteilen. Ob und wie schnell die Tröpfchen und Aerosole absinken oder in der Luft schweben bleiben, ist neben der Größe der Partikel von einer Vielzahl weiterer Faktoren, unter anderem der Temperatur und der Luftfeuchtigkeit, abhängig. Um die Gefahr der Übertragung des Virus von einer infizierten Person auf andere Menschen zu begegnen, ist die angeordnete Quarantäne eine notwendige Schutzmaßnahme.

9

Die Antragstellerin ist als Bewohnerin eines Pflegeheims zweimal positiv getestet worden. Es liegt gegenwärtig kein Nachweis darüber vor, dass die Antragstellerin nicht mehr infektiös ist. Solange dieser Nachweis nicht vorliegt, stellt die Quarantäne eine notwendige Schutzmaßnahme gegenüber anderen Menschen dar, die sich durch die Antragstellerin infizieren könnten.

10

Hinsichtlich der Anordnung einer Absonderung gemäß § 30 Abs. 1 Satz 2 IfSG ist dem Antragsgegner Ermessen eingeräumt. Dieses Ermessen hat der Antragsgegner, soweit es der Überprüfung des Gerichts unterliegt (§ 114 Satz 1 VwGO), zumindest in den in der Antragserwiderung dargestellten Erwägungen ordnungsgemäß ausgeübt. Vom Gericht überprüfbare Ermessenfehler sind nicht ersichtlich. Der Antragsgegner hat sowohl das ihm zustehende Ermessen als auch die mit der häuslichen Absonderung für die Antragstellerin bestehenden Einschränkungen erkannt. Er hat von dem Ermessen auch in einer dem Zweck der Ermächtigung – Infektionsschutz – entsprechenden Weise Gebrauch gemacht und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens nicht überschritten und insbesondere den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz eingehalten. Es ist für die Kammer nachvollziehbar, dass eine Quarantäne eine sehr starke psychische Belastung darstellt, es entsteht ein Gefühl des Eingesperrtseins und der Isolierung, was mit zunehmender Dauer schwer zu ertragen ist. Andererseits soll die Quarantäne eine Vielzahl anderer möglicher Kontaktpersonen davor schützen, sich mit dem Virus zu infizieren und unter Umständen schwerwiegende Folgeschäden, die auch lebensgefährlich sein können, zu erleiden und das Virus auf weitere Personen zu übertragen.

11

Die streitige Maßnahme stellt sich auch nicht deswegen als rechtswidrig dar, weil sie nicht richterlich angeordnet bzw. die behördlicherseits verfügte Entscheidung nicht unverzüglich einer richterlichen Entscheidung zugeführt worden wäre (vgl. Art. 104 Abs. 2 GG). Die Anordnung der häuslichen Absonderung zielt darauf, die Antragstellerin in räumlicher Sicht auf ihre Wohnung zu beschränken und die „Quarantäne“ umfasst einen nicht nur unerheblichen Zeitraum. Nach der gesetzgeberischen Konzeption ist die häusliche Absonderung nach §§ 28 Abs. 1, 30 Abs. 1 Satz 2 IfSG jedoch lediglich als freiheitsbeschränkende Maßnahme ausgestaltet (OVG Lüneburg, Beschluss vom 5. Juni 2020 – 13 MN 195/20 –, juris Rn. 38; OVG Münster, Beschluss vom 13. Juli 2020 – 13 B 968/20.NE – Rn. 41 m.w.N.; VG Berlin, Beschluss vom 10. Juni 2020 – 14 L 150/20 – juris Rn. 46; Verwaltungsgericht des Saarlandes, Beschluss vom 23. September 2020 – 6 L 1001/20 –, Rn. 24 - 30, juris). Denn die Maßnahme ergeht zwar in Gestalt eines befehlenden Verwaltungsaktes, setzt nach der gesetzgeberischen Konzeption aber die „Freiwilligkeit des Betroffenen und damit seine Einsicht in das Notwendige“ (BT-Drs. 14/2530 S. 75) voraus. Die gegen die Antragstellerin verfügte Absonderung ist nicht im Wege des Verwaltungsvollzuges vollstreckbar. Erst wenn sich der Betroffene weigert, der Absonderung nachzukommen, ist die Anordnung nach Maßgabe des § 30 Abs. 2 IfSG, der insbesondere die verfassungsrechtlichen Vorgaben des Art. 104 Abs. 2 GG berücksichtigt, durchsetzbar.

12

Selbst wenn man vorliegend den Ausgang des Rechtsstreits in der Hauptsache als offen ansehen wollte, führt eine allgemeine Interessenabwägung zu einem Überwiegen des öffentlichen Interesses an dem Schutz von Leben und Gesundheit der Bevölkerung und der Sicherung des Gesundheitssystems gegenüber dem kurzfristigen Eingriff in das Grundrecht der Antragstellerin auf Freiheit ihrer Person gem. Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG. Würde der Vollzug der streitgegenständlichen Anordnung ausgesetzt, erwiese diese sich aber als rechtmäßig, so könnten aufgrund der bekanntermaßen vorkommenden schweren Verläufe bis hin zu Todesfällen bei einer Infektion mit SARS-CoV-2 erhebliche und möglicherweise irreversible Gesundheitsschäden eintreten. Erweist sich die Verfügung in der Hauptsache hingegen als rechtswidrig, ist die Freiheit der Antragstellerin zwar erheblich eingeschränkt und sie kann nicht nach draußen und Kontakt zu anderen Menschen nur mittelbar pflegen; der durch die Anordnung des Antragsgegners bezweckte Schutz der menschlichen Gesundheit einer Vielzahl von möglicherweise betroffenen Menschen ist im konkreten Fall jedoch als höherrangig einzustufen, zumal ärztlich bestätigte drohende schwerwiegende Folgeschäden für die Gesundheit der Antragstellerin durch die Quarantäne, die weiteren Maßnahmen erforderlich machen könnten, gegenwärtig nicht belegt sind.

13

Die Anordnung zur Beobachtung durch das Gesundheitsamt findet ihre rechtliche Grundlage in § 29 IfSG.

14

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO; der Streitwert wurde gemäß § 63 Abs. 2, § 53 Abs. 2 Nr. 2 iVm § 52 Abs. 2 GKG festgesetzt.


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