Beschluss vom Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht (1. Kammer) - 1 B 19/21

Tenor

Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes wird abgelehnt.

Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.

Der Streitwert wird auf 5000 € festgesetzt.

Gründe

1

Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ist als Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen die noch bis heute geltende Allgemeinverfügung der Antragsgegnerin vom 19. Februar 2021 nach § 80 Abs. 5 Satz 1 1. Alt. VwGO zulässig, jedoch nicht begründet.

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Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 1. Alt. VwGO i.V.m § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO kann das Gericht in dem vorliegenden Fall des nach § 28 Abs. 3 i. V. m. § 16 Abs. 8 IfSG gesetzlich angeordneten Sofortvollzuges die aufschiebende Wirkung des Widerspruches ganz oder teilweise anordnen. Die gerichtliche Entscheidung ergeht dabei auf der Grundlage einer umfassenden Interessenabwägung. Gegenstand der Abwägung sind das Aufschubinteresse des Antragstellers einerseits und das öffentliche Interesse an der Vollziehung des streitbefangenen Verwaltungsaktes andererseits. Im Rahmen dieser Interessenabwägung können auch Erkenntnisse über die Rechtmäßigkeit und die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes, der vollzogen werden soll, Bedeutung erlangen, allerdings nicht als unmittelbare Entscheidungsgrundlage, sondern als in die Abwägung einzustellende Gesichtspunkte, wenn aufgrund der gebotenen summarischen Prüfung Erfolg oder Misserfolg des Rechtsbehelfs offensichtlich erscheinen. Lässt sich bei der summarischen Überprüfung die Rechtswidrigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes ohne Weiteres feststellen, ist sie also offensichtlich, so ist die aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs anzuordnen, weil an der sofortigen Vollziehung eines offensichtlich rechtswidrigen Verwaltungsaktes kein öffentliches Interesse bestehen kann. Erweist sich nach der genannten Überprüfung der angefochtene Verwaltungsakt als offensichtlich rechtmäßig, so führt dies in Fällen des gesetzlich angeordneten Sofortvollzuges regelmäßig dazu, dass der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung abzulehnen ist.

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Lässt sich nach der im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO gebotenen summarischen Überprüfung weder die offensichtliche Rechtmäßigkeit noch die offensichtliche Rechtswidrigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes mit der erforderlichen Sicherheit feststellen, so ergeht die Entscheidung aufgrund einer weiteren Interessenabwägung, in der zum einen die Auswirkungen in Bezug auf das öffentliche Interesse in dem Fall, dass dem Antrag stattgegeben wird, der Rechtsbehelf im Hauptsacheverfahren indes erfolglos bleibt, und zum anderen die Auswirkungen auf den Betroffenen für den Fall der Ablehnung eines Antrags und des erfolgreichen Rechtsbehelfs in der Hauptsache gegenüberzustellen sind. Bei dieser Interessenabwägung ist jeweils die Richtigkeit des Vorbringens desjenigen als wahr zu unterstellen, dessen Position gerade betrachtet wird, soweit das jeweilige Vorbringen ausreichend substantiiert und die Unrichtigkeit nicht ohne Weiteres erkennbar ist (OVG Schleswig, Beschluss vom 13. September 1991 – 4 M 125/91 –, Rn. 14, juris; VG Schleswig, Beschluss vom 11. September 2017 – 1 B 128/17 –, Rn. 28 - 29, juris).

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Die Kammer kann aufgrund der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit und der besonderen rechtlichen Schwierigkeit bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit des angeordneten weitgehenden Kontaktverbots sowie des Ausgangsverbots für die Zeit von 21:00 Uhr bis 5:00 Uhr gegenwärtig mit der erforderlichen Sicherheit weder die offensichtliche Rechtmäßigkeit noch die offensichtliche Rechtswidrigkeit der angegriffenen Allgemeinverfügung vom 19. Februar 2021 feststellen. Die in letzter Zeit im Vergleich des Bundeslandes Schleswig-Holstein überdurchschnittlich hohen Inzidenzwerte im Gebiet der Antragsgegnerin sowie insbesondere das nicht nur im Einzelfall, sondern gehäuft, festgestellte Auftreten von Mutationen des Coronavirus (britische Variante) im Gebiet der Antragsgegnerin mit einer wahrscheinlich deutlich höheren Übertragbarkeit des neuen Virustyps auf den Menschen sprechen allerdings zunächst dafür, dass weitere Schutzmaßnahmen notwendig sind, zu denen auch die angeordneten Maßnahmen gehören können.

5

Die streitgegenständliche Allgemeinverfügung kann ihre Rechtsgrundlage in der Vorschrift des § 28 Abs. 1 Satz 1, 2 Infektionsschutzgesetz (IfSG), zuletzt geändert am 21. Dezember 2020 (BGBl. I S. 3136), finden. Nach dieser Vorschrift trifft die zuständige Behörde, wenn Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt werden oder sich ergibt, dass ein Verstorbener krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider war, die notwendigen Schutzmaßnahmen, insbesondere die in § 28a Absatz 1 und in den §§ 29 bis 31 genannten, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist; sie kann insbesondere Personen verpflichten, den Ort, an dem sie sich befinden, nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu verlassen oder von ihr bestimmte Orte oder öffentliche Orte nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu betreten. Unter den Voraussetzungen von Satz 1 kann die zuständige Behörde Veranstaltungen oder sonstige Ansammlungen von Menschen beschränken oder verbieten und Badeanstalten oder in § 33 genannte Gemeinschaftseinrichtungen oder Teile davon schließen. […] Die Grundrechte der körperlichen Unversehrtheit (Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes), der Freiheit der Person (Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 des Grundgesetzes), der Versammlungsfreiheit (Artikel 8 des Grundgesetzes), der Freizügigkeit (Artikel 11 Absatz 1 des Grundgesetzes) und der Unverletzlichkeit der Wohnung (Artikel 13 Absatz 1 des Grundgesetzes) werden insoweit eingeschränkt.

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In § 28a IfSG ist weiter konkretisierend geregelt, dass notwendige Schutzmaßnahmen im Sinne des § 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 IfSG zur Verhinderung der Verbreitung der Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) für die Dauer der – wie derzeit bestehend – Feststellung einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite nach § 5 Abs. 1 Satz 1 IfSG durch den Deutschen Bundestag insbesondere Ausgangs- oder Kontaktbeschränkungen im privaten sowie im öffentlichen Raum sein können (Absatz 1 Nr. 3). Die Anordnung einer Ausgangsbeschränkung, nach der das Verlassen des privaten Wohnbereichs nur zu bestimmten Zeiten oder zu bestimmten Zwecken zulässig ist, ist nur zulässig, soweit auch bei Berücksichtigung aller bisher getroffenen anderen Schutzmaßnahmen eine wirksame Eindämmung der Verbreitung der Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) erheblich gefährdet wäre (Absatz 3 Nr. 2).

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§ 28 Abs. 1 Satz 1 1. Halbsatz IfSG verpflichtet die zuständigen Behörden zum Handeln (sog. gebundene Entscheidung) zur Ergreifung notwendiger Schutzmaßnahmen. Nur hinsichtlich Art und Umfang der Bekämpfungsmaßnahmen, dem "wie" des Eingreifens, ist der Behörde Ermessen eingeräumt. Bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit der verfügten Beschränkungen ist der im allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht geltende Grundsatz heranzuziehen, dass an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts umso geringere Anforderungen zu stellen sind, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist. Dafür sprechen das Ziel des Infektionsschutzgesetzes, eine effektive Gefahrenabwehr zu ermöglichen (§ 1 Abs. 1, § 28 Abs. 1 IfSG), sowie der Umstand, dass die betroffenen Krankheiten nach ihrem Ansteckungsrisiko und ihren Auswirkungen auf die Gesundheit des Menschen unterschiedlich gefährlich sind. Es erscheint sachgerecht, einen am Gefährdungsgrad der jeweiligen Erkrankung orientierten, "flexiblen" Maßstab für die hinreichende (einfache) Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen (so schon VG Schleswig, Beschluss vom 28. Oktober 2020 – 1 B 126/20 – juris Rn. 7 m. w. N.). Sind Schutzmaßnahmen erforderlich, können diese grundsätzlich nicht nur gegen die in Satz 1 genannten Personen, also gegen Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider getroffen werden, sondern – soweit erforderlich – auch gegenüber anderen Personen (Bales/Baumann/Schnitzler, Infektionsschutzgesetz, Kommentar, 2. Aufl. § 28 Rn. 3).

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Es bestehen keine Zweifel daran, dass es sich bei der Infektion mit dem SARS-CoV-2 um eine übertragbare Krankheit im Sinne des § 2 Nr. 3 IfSG handelt, so dass der Anwendungsbereich des 5. Abschnitts des Infektionsschutzgesetzes, der sich mit der Bekämpfung übertragbarer Krankheiten befasst, eröffnet ist. Das Robert-Koch-Institut schätzt die Gefährdung für die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland immer noch insgesamt als sehr hoch ein. Die aktuelle Lage ist nach dem Lagebericht des Robert-Koch-Instituts (RKI) vom 24. Februar 2021 dadurch gekennzeichnet, dass der Rückgang der täglichen Fallzahlen sich seit Mitte Januar 2021 nicht mehr fortsetzt. Der 7-Tage-R-Wert liegt um 1. Es besteht durch das Auftreten verschiedener Virusvarianten ein erhöhtes Risiko einer erneuten Zunahme der Fallzahlen. Bundesweit gibt es in verschiedenen Kreisen Ausbrüche, die nach den an das RKI übermittelten Daten aktuell vor allem in Zusammenhang mit Alten- und Pflegeheimen, privaten Haushalten und dem beruflichen Umfeld stehen. Zusätzlich findet in zahlreichen Kreisen eine diffuse Ausbreitung von SARS-CoV-2-Infektionen in der Bevölkerung statt, ohne dass Infektionsketten eindeutig nachvollziehbar sind. Das genaue Infektionsumfeld lässt sich häufig nicht ermitteln. Ältere Personen sind nach wie vor sehr häufig von COVID-19 betroffen. Da sie auch häufiger schwere Erkrankungsverläufe erleiden, bewegt sich die Anzahl schwerer Fälle und Todesfälle weiterhin auf hohem Niveau. Diese können vermieden werden, wenn alle mit Hilfe der Infektionsschutzmaßnahmen die Ausbreitung des SARS-CoV-2-Virus verlangsamen. Daher ist es weiterhin notwendig, dass sich die gesamte Bevölkerung für den Infektionsschutz engagiert, z. B. indem sie Abstands- und Hygieneregeln konsequent – auch im Freien – einhält, Innenräume lüftet und, wo geboten, eine OP-Maske (Mund-Nasen-Schutz, MNS) oder eine FFP2-Maske (bzw. KN95 oder N95-Maske) korrekt trägt. Menschenansammlungen – besonders in Innenräumen – sollten möglichst gemieden werden. (Lagebericht RKI vom 24. Februar 2021, Seite 2, www.rki.de ). Der Anteil der Virusvarianten, die als Variants of Concern (VOCs) bezeichnet werden, insbesondere die Varianten B.1.1.7 und B.1.351, ist nach den bisher vorliegenden Daten in den letzten Wochen weiter deutlich gestiegen (Bericht des RKI zu Virusvarianten von SARSCoV-2 in Deutschland www.rki.de).

9

Die Inzidenzwerte im Gebiet der Antragsgegnerin sind seit Jahresanfang stark gestiegen und bewegten sich häufig in einem Bereich von fast 200 Fällen in sieben Tagen pro 100.000 Einwohnern. Der Inzidenzwert am 25. Februar 2021 betrug 166,4, die vordiagnostizierten Meldungen für Mutationen liegen bei 366. Damit befindet sich A-Stadt in einem erheblich gesteigerten Infektionsgeschehen. Im Vergleich zum Landesdurchschnitt von 50,9 (Stand 24. Februar 2021) hat die Stadt Flensburg ein mehrfach erhöhtes Infektionsgeschehen, trotz weitgehender Einschränkungen seit Mitte Dezember 2020 und strengen Kontaktbeschränkungen seit diesem Zeitpunkt. Es sind nicht mehr alle Infektionsketten unverzüglich nachvollziehbar. Es liegt ein diffuses Geschehen mit einer ansteigenden Zahl von Fällen vor, bei denen sich die Infektionsquelle nicht ermitteln lässt. Hinzu kommt, dass in A-Stadt eine erhebliche Anzahl von Infektionen mit der Virusvariante B.1.1.7 festgestellt wurde, die gemäß Bewertung der WHO zu den besorgniserregenden Virusvarianten (variants of concern/VOC) gehört. Der Verlauf des Infektionsgeschehens in A-Stadt ist mit einer höheren Ansteckungsfähigkeit bei Vorliegen einer VOC vereinbar, es treten schwerere Krankheitsverläufe auch bei jüngeren, nicht vorbelasteten Personen auf. Die Zahl der intensiv zu betreuenden Personen ist in A-Stadt in den letzten Tagen stark angestiegen; ein Krankenhaus vor Ort musste nach der Begründung der angefochtenen Allgemeinverfügung die Regelaufnahme von Patienten zeitweilig aussetzen. Die Zahl der Todesfälle betrug in der Stadt bis zum 31. Dezember 2020 7 Fälle, von Januar bis Mitte Februar sind bereits weitere 21 Personen an und mit einer Covid-Infektion verstorben, aktuell liegt die Zahl bei 32. Das Virusgeschehen ist gleichmäßig über das gesamte Gebiet der Stadt Flensburg verteilt und nicht auf bestimmte Bereiche eingegrenzt.

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Im Gebiet der Antragsgegnerin besteht aufgrund der in den letzten Wochen festgestellten hohen Inzidenzwerte von regelmäßig über 150 Neuinfektionen auf 100.000 Einwohner in 7 Tagen sowie der darüber hinaus festgestellten Häufung des Auftretens des sogenannten britischen Virus mit einer wahrscheinlich deutlich erhöhten Übertragbarkeit Anlass für zusätzliche Maßnahmen zur Verzögerung der Ausbreitungsdynamik und zur Unterbrechung von Infektionsketten. Dies auch, um wesentliche Funktionen des Gesundheitssystems aufrechtzuerhalten, insbesondere im Hinblick darauf, dass Krankenhäuser auch in den benachbarten Kreisen Nordfriesland (Husum und Niebüll für längere Zeit) und Schleswig-A-Stadt (Schleswig für kürzere Zeit) zeitweise einen Aufnahmestopp verhängt und andere Krankenhäuser auf eine Notfallversorgung (z. B. UKSH) umgestellt haben.

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Eine Übertragung des Virus ist nach aktuellem wissenschaftlichen Stand sowohl in Innenräumen, z. B. in Hausfluren von Mehrfamilienhäusern, als auch im Freien im Grundsatz möglich. Nach einer Veröffentlichung des Robert-Koch-Instituts – auf seiner Homepage unter dem Kapitel Infektionsschutzmaßnahmen und dort zu der Frage: „Welche Rolle spielen Aerosole bei der Übertragung von SARS-CoV-2?“ – seien Übertragungen von SARS-CoV-2 im Freien über Distanzen von mehr als 1,5 m bisher (in wissenschaftlichen Veröffentlichungen) nicht beschrieben worden. Dennoch empfiehlt das Robert-Koch-Institut an dieser Stelle einen Abstand von mindestens 1,5 m und die Vermeidung von größeren Menschenansammlungen im Freien einzuhalten, um eine direkte Exposition gegenüber Tröpfchen (etwa beim Husten, Niesen oder auch nur lautes Sprechen) und gegenüber Aerosolen zu minimieren. Diese Empfehlung dürfte angesichts des seither bekannt gewordenen Auftretens und der Verbreitung von möglicherweise stärker ansteckenden Mutationen des Virus gerade im Gebiet der Antragsgegnerin erst recht gelten. Die bisher geltenden Kontaktbeschränkungen sowie die Anordnung der Antragsgegnerin zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung in bestimmten zentralen Bereichen haben bislang nicht zu einer wesentlichen Eindämmung des überdurchschnittlich hohen Infektionsgeschehens im Bereich der Antragsgegnerin geführt.

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Die nunmehr durch die Allgemeinverfügung vom 19. Februar 2021 angeordneten weitergehenden Kontaktbeschränkungen sowie die grundsätzliche Ausgangsbeschränkung für den Zeitraum von 21:00 Uhr bis 5:00 Uhr, jeweils mit zahlreichen Ausnahmen, können ein geeignetes Mittel darstellen, um der Ausbreitung des Infektionsgeschehens wirksam zu begegnen. Die im Frühjahr 2020 in Deutschland während des sog. ersten Lockdowns sowie bis Herbst in anderen europäischen Staaten gesammelten Erfahrungen deuten darauf hin, dass insbesondere umfassende Maßnahmen zur Beschränkung von Sozialkontakten zur Eindämmung des Pandemiegeschehens beitragen (vgl. in diesem Sinne bereits zum sog. ersten Lockdown und zu schon damals teils normierten Ausgangsbeschränkungen BayVerfGH, Entsch. vom 9. Februar 2021 – Vf. 6-VII-20 –, juris; Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 30. März 2020 – 20 NE 20.632 –, juris; zu im Herbst 2020 ergriffenen Maßnahmen dieser Art auch bereits VG Karlsruhe, Beschluss vom 10. Dezember 2020 – 2 K 5102/20 –, Rn. 63, juris; Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Beschluss vom 18. Dezember 2020 – 1 S 4028/20 –, Rn. 40, juris).

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Dem kann voraussichtlich nicht entgegenhalten werden, insbesondere nächtliche Ausgangsbeschränkungen seien grundsätzlich sinnlos, weil sich Krankheiten nicht übertrügen, wenn Menschen außerhalb ihrer Wohnung alleine Tätigkeiten wie dem Spaziergehen oder der Erkundung der Natur nachgingen. Die Antragsgegnerin verfolgt bei ihrem Vorgehen das Ziel, die Anzahl physischer Kontakte in der Bevölkerung für einen begrenzten Zeitraum wegen des sehr hohen Infektionsgeschehens umgehend und flächendeckend auf ein absolut erforderliches Mindestmaß zu reduzieren. Zur Erreichung dieses Ziels kann eine nächtliche Ausgangssperre schon deshalb beitragen, weil damit zum einen unbeabsichtigte Kontakte von Menschen, die auch bei einem nächtlichen Spaziergang und davor bei einer zufälligen Begegnung etwa im Flur eines Mehrfamilienhauses und dergleichen stattfinden können, verhindert werden. Hinzu kommt vor allem, dass mit solchen Ausgangsbeschränkungen andernfalls bestehende Anreize stark vermindert werden, soziale und gesellige Kontakte im privaten Bereich, insbesondere in den Abendstunden zu pflegen, die sich in der Vergangenheit in infektionsbezogener Hinsicht vielfach als besonders gefahrträchtig erwiesen haben. Auch insoweit trägt die Allgemeinverfügung dazu bei, Sozialkontakte zu reduzieren und damit dem Pandemiegeschehen entgegenzuwirken (vgl. Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Beschluss vom 18. Dezember 2020 – 1 S 4028/20 –, Rn. 41, juris). Auch die nach wie vor bestehende Unsicherheit in der Wissenschaft hinsichtlich der konkreten Wirkung einzelner Maßnahmen zur Eindämmung des Virus kann die Eignung solcher Maßnahmen nicht ohne Weiteres infrage stellen. Denn gerade diese Ungewissheit erfordert, dass auch Maßnahmen getroffen werden, die nur möglicherweise geeignet sind, die Verbreitung des Virus einzudämmen, solange ihre Nicht-Eignung nicht feststeht bzw. jedenfalls nicht ganz überwiegend anzunehmen ist (VG Freiburg (Breisgau), Beschluss vom 15. Januar 2021 – 4 K 6/21 –, Rn. 31, juris).

14

Die Regelungen der Allgemeinverfügung sind voraussichtlich auch erforderlich, weil gleich wirksame, gleichwohl mildere Mittel nicht ersichtlich sind, nachdem zuvor angeordnete Beschränkungen durch die Corona-Bekämpfungsverordnung und verschiedene Allgemeinverfügungen nicht zu einer Eingrenzung des Infektionsgeschehens im Gebiet der Antragsgegnerin geführt haben.

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Sowohl die Prüfung der Erforderlichkeit als auch der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne hat sich bei Ausgangsbeschränkungen weiter nach den gesetzlichen Anforderungen des § 28a Abs. 2 IfSG zu richten. Nach § 28a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 IfSG ist die Anordnung einer Ausgangsbeschränkung, nach der das Verlassen des privaten Wohnbereichs nur zu bestimmten Zeiten oder zu bestimmten Zwecken zulässig ist, nur zulässig, soweit auch bei Berücksichtigung aller bisher getroffenen anderen Schutzmaßnahmen eine wirksame Eindämmung der Verbreitung von COVID-19 erheblich gefährdet wäre (vgl. dazu Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Beschluss vom 5. Februar 2021 – 1 S 321/21 –, Rn. 31, juris). Der Gesetzgeber hat damit erkennbar besondere Anforderungen an den Umfang des Schadenseintrittes aufgestellt. Der Wortlaut („erheblich“) und die Zielsetzung des Gesetzgebers, den im verfassungsrechtlich verankerten Verhältnismäßigkeitsgebot (vgl. Art. 20 Abs. 3 GG) wurzelnden Grundsatz der Erforderlichkeit wegen der großen Eingriffsintensität von Ausgangsbeschränkungen besonders hervorzuheben, lässt deshalb den Schluss zu, dass Ausgangsbeschränkungen nicht bereits dann zulässig sind, wenn ihr Unterlassen zu irgendwelchen Nachteilen in der Pandemiebekämpfung führt, sondern dass ihre Anordnung nur dann in Betracht kommt, wenn der Verzicht auf Ausgangsbeschränkungen auch unter Berücksichtigung aller anderen ergriffenen Maßnahmen zu einer wesentlichen, im Umfang der Gefahrenrealisierung gewichtigen Verschlechterung des Infektionsgeschehens führen würde (Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Beschluss vom 5. Februar 2021 – 1 S 321/21 –, Rn. 37, juris).

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Die Ausgangsbeschränkung muss demnach auf einer auf den aktuellen Erkenntnissen beruhenden, nachvollziehbaren Prognose beruhen und es muss erkennbar sein, dass diese auch bei Berücksichtigung der übrigen Maßnahmen und ausgehend von dem konkreten und aktuellen Pandemiegeschehen voraussichtlich einen wesentlichen, im Umfang gewichtigen Anstieg der Infektionszahlen oder vergleichbar schwerwiegende Folgen für die wirksame Eindämmung der Verbreitung von COVID-19 zur Folge hätte, etwa dadurch, dass weit überdurchschnittlich hohe Inzidenzwerte hinreichend gesenkt werden. Diese Anforderungen dürfen auf der anderen Seite auch nicht überspannt werden, da eine ex ante-Prognose auf der Grundlage des derzeit nur vorhandenen, sich in der dynamischen Pandemie stets fortentwickelnden Erkenntnismaterials zu treffen ist (Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Beschluss vom 5. Februar 2021 – 1 S 321/21 –, Rn. 38, juris).

17

Nach § 28a Abs. 3 Satz 1 IfSG sind Entscheidungen über Schutzmaßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 insbesondere an dem Schutz von Leben und Gesundheit und der Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems auszurichten (Satz 1). Die Schutzmaßnahmen sollen unter Berücksichtigung des jeweiligen Infektionsgeschehens regional bezogen auf die Ebene der Landkreise, Bezirke oder kreisfreien Städte an den Schwellenwerten nach Maßgabe der Sätze 4 bis 12 ausgerichtet werden, soweit Infektionsgeschehen innerhalb eines Landes nicht regional übergreifend oder gleichgelagert sind (Satz 2). Maßstab für die zu ergreifenden Schutzmaßnahmen ist insbesondere die Anzahl der Neuinfektionen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 je 100.000 Einwohnern innerhalb von sieben Tagen (Satz 4). Mit diesen Regelungen hat der Bundesgesetzgeber die Grundentscheidung getroffen, dass bei dem Erlass von Schutzmaßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie grundsätzlich ein differenziertes, gestuftes Vorgehen geboten ist, das sich an dem tatsächlichen regionalen Infektionsgeschehen orientieren soll (vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 18. Januar 2021 – 13 MN 11/21 –, juris; Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Beschluss vom 5. Februar 2021 – 1 S 321/21 –, Rn. 42, juris).

18

Die Antragsgegnerin hat sich an diesen Vorgaben orientiert und auf Grundlage des aktuellen Infektionsgeschehens in ihrem Gebiet, das sich durch einen weit überdurchschnittlich hohen Inzidenzwert im Vergleich zu anderen Gebieten Schleswig-Holsteins und dem vermehrten Auftreten der britischen Virusvariante auszeichnet, eine lokal und zeitlich begrenzte, nur noch bis heute 24.00 Uhr geltende Regelung zu Ausgangsbeschränkungen und zu weitergehenden Kontaktbeschränkungen, die in veränderter Form weitergelten werden, getroffen, die erheblich in die Grundrechte der Bürger eingreifen. Zuvor ergriffene andere Maßnahmen haben allerdings keinen hinreichenden Erfolg gehabt. Es ist möglich, dass ohne die zusätzlich angeordneten Maßnahmen das Infektionsgeschehen auf einem sehr hohen Niveau verbleibt und damit eine wirksame Eindämmung der Verbreitung von COVID-19 erheblich gefährdet wäre.

19

Die Regelung zur Ausgangsbeschränkung und zur weitergehenden Kontaktbeschränkung zu Mitgliedern außerhalb des eigenen Haushalts sind möglicherweise auch im Übrigen im engeren Sinne verhältnismäßig (angemessen). Die Kontaktbeschränkungen greifen nicht nur in die allgemeine Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG ein, sondern im Einzelfall auch in den Schutz der Familie nach Art. 6 Abs. 1 GG und (vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 18. Januar 2021 – 13 MN 11/21 –, Rn. 45, juris). Andererseits sind die in einer Vielzahl geregelten Ausnahmetatbestände im Grundsatz geeignet, den von den Beschränkungen Betroffenen noch ein Mindestmaß der Teilhabe am sozialen Leben in der Gemeinschaft auch während des relativ kurzen Anordnungszeitraums zu ermöglichen; die Ausnahmetatbestände berücksichtigen auch bestehende familiäre Strukturen.

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So gilt das Verbot von Zusammenkünften mit Angehörigen eines anderen Hausstandes nicht a) zur Ausübung beruflicher, geschäftlicher oder dienstlicher Tätigkeiten, b) zum Besuch von Bildungs- und Betreuungseinrichtungen sowie Angeboten zur Teilhabe am Arbeitsleben, die Teilnahme an Prüfungen und nicht aufschiebbaren Behördengängen, c) bei der Inanspruchnahme medizinischer, pflegerischer und veterinärmedizinischer Versorgungsleistungen, Blutspenden d) zur Wahrnehmung des Sorge- und Umgangsrechts, e) die unabweisbar erforderliche Unterstützung von hilfsbedürftigen Angehörigen und Nachbarn, f) für notwendige Begleitpersonen von Personen, die über einen Ausweis für schwerbehinderte Menschen mit den Merkzeichen B,H,BI,GI oder TBI verfügen, g) für Paare mit getrennten Wohnsitzen, h) zur Begleitung Sterbender sowie zur Teilnahme an Trauerfeiern i) zur Versorgung von Tieren, j) sowie aus ähnlich gewichtigen und unabweisbaren Gründen.

21

Die Ausgangsbeschränkung zwischen 21:00 Uhr und 5:00 Uhr gilt nicht, wenn der Aufenthalt a) zur Ausübung beruflicher, geschäftlicher oder dienstlicher Tätigkeiten, b) zum Besuch von Betreuungseinrichtungen im Sinne von § 15a und § 16 der Corona-BekämpfVO, c) bei der Inanspruchnahme medizinischer, pflegerischer und veterinärmedizinischer Versorgungsleistungen, d) zur Wahrnehmung des Sorge- Erziehungs- und Umgangsrechts, e) die unabweisbar erforderliche Unterstützung von hilfsbedürftigen Angehörigen und Nachbarn, f) zur Begleitung Sterbender, g) zur Versorgung von Tieren, darunter fällt auch das Ausführen von Hunden, h) wegen der Teilnahme an Veranstaltungen nach § 5 Abs. 2 Nr.1 und 6 der Corona-BekämpfVO, i) sowie aus ähnlich gewichtigen und unabweisbaren Gründen erfolgt.

22

Die Antragsgegnerin verfolgt mit den oben beschriebenen Zielen den Schutz von hochrangigen, ihrerseits verfassungsrechtlich geschützten wichtigen Rechtsgütern. Die Anordnungen dienen dazu, konkrete Gefahren für das Leben und die körperliche Unversehrtheit einer möglicherweise großen Zahl von Menschen abzuwehren. Die Allgemeinverfügung bezweckt zugleich, die Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems im Gebiet der Antragsgegnerin und in der unmittelbaren Umgebung durch die Verlangsamung des Infektionsgeschehens sicherzustellen. Die Antragsgegnerin kommt damit der ihn aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG grundsätzlich treffenden Schutzpflicht nach. Dies spricht für eine Angemessenheit der für eine kurze Zeit angeordneten Maßnahmen.

23

Letztlich handelt es sich bei der Bewertung der Verhältnismäßigkeit der getroffenen Anordnungen um eine schwierige Rechtsfrage im Einzelfall, deren Beantwortung von einer unklaren Sachlage weiter erschwert wird. Eine offensichtliche Rechtmäßigkeit oder offensichtliche Rechtswidrigkeit der Anordnungen kann daher gegenwärtig nicht hinreichend sicher festgestellt werden.

24

Demnach sind in einer weitergehenden Interessenabwägung die Folgen gegenüberzustellen, die im Hinblick auf das öffentliche Interesse in dem Fall einträten, dass dem Antrag stattgegeben wird, der Rechtsbehelf im Hauptsacheverfahren indes erfolglos bleibt, und zum anderen die Auswirkungen auf den Betroffenen für den Fall der Ablehnung seines Antrags.

25

Gemessen an diesen Maßstäben überwiegt im vorliegenden Fall das öffentliche Interesse an der sofortigen Durchsetzung des sich aus der Allgemeinverfügung ergebenden weitgehenden Kontaktverbots und der nächtlichen Ausgangsbeschränkung

26

Vorliegend streiten auf Seiten des öffentlichen Interesses überragende Gründe der Abwehr von Gefahren für die Gesundheit der Bevölkerung und der Sicherstellung der Leistungsfähigkeit der ärztlichen, insbesondere krankenhausärztlichen (Intensiv-)Versorgung für die Bevölkerung. Die Infektionsgefahr ist dadurch besonders risikobehaftet, dass bislang unentdeckt infizierte Personen sich im öffentlichen Raum bewegen und andere unwissentlich infizieren. Dies wird anhand des bereits auf einem hohen Niveau befindlichen Infektionsgeschehens im Bereich der Antragsgegnerin mit dem gegenwärtig deutlich höchsten Inzidenzwert im Vergleich der Kreise und kreisfreien Städte in Schleswig-Holstein sowie insbesondere auch dem gehäuften Auftreten der sog. britischen Virusmutation dort mit einer erhöhten Übertragungswahrscheinlichkeit besonders deutlich.

27

Gegenüber diesem gewichtigen öffentlichen Interesse setzt ein im Rahmen der Folgenabwägung überwiegendes privates Interesse voraus, dass im Einzelfall Umstände vorliegen, die so gewichtig sind, dass entgegen der gesetzgeberischen Anordnung in §§ 28 Abs. 3, 16 Abs. 8 IfSG eine vorläufige Aussetzung der Vollziehung angezeigt ist. Die grundrechtlich geschützten Belange des Antragstellers wiegen zwar schwer, weil auch die Folgen des Eingriffs für einen bestimmten Zeitraum irreversibel sind. Der Antragsteller hat allerdings auch keine Umstände dargestellt, aus denen sich ergeben könnte, dass er durch die nur kurzfristig geltenden Anordnungen, die einer ständigen Überprüfung unterliegen, besonders hart getroffen wäre. Nach einer Pressemitteilung der Antragsgegnerin vom 25. Februar 2021 wird die nächtliche Ausgangsbeschränkung nach Ablauf des heutigen Tages nicht verlängert, die Kontaktbeschränkung wird für alleinlebende Personen gelockert werden. Die Beschränkung trifft den Antragsteller im Gegensatz zu anderen von den derzeitigen einschränkenden Regelungen Betroffenen auch nicht wirtschaftlich existenziell. Der möglichen Verlangsamung der Ansteckungsrate und der möglichen Unterbrechung von Infektionsketten sind gerade angesichts des derzeit noch sehr hohen Inzidenzwertes und des Auftretens einer gefährlicheren Virusmutation im Bereich der Antragsgegnerin bei der Abwägung angesichts der konkreten Lage in der Stadt entscheidende Bedeutung beizumessen, auch um eine Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern, die Vermehrung gerade auch der neuen Virusmutation zu verringern und Leben und Gesundheit der Bevölkerung wirksam zu schützen. Vor diesem Hintergrund müssen die grundrechtlich geschützten Freiheiten des Antragstellers für einen begrenzten Zeitraum und einen begrenzten örtlichen Bereich zurückstehen.

28

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Der Streitwert wurde gemäß § 63 Abs. 2, § 53 Abs. 2 Nr. 2 i. V. m. § 52 Abs. 2 Gerichtskostengesetz festgesetzt.


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