Beschluss vom Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht (2. Kammer) - 2 B 41/21

Tenor

Die Anträge werden abgelehnt.

Die Kosten des Verfahrens werden den Antragstellern auferlegt. Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig.

Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 7.500 € festgesetzt.

Gründe

1

Der von den Antragstellern gestellte Antrag zu 1,

2

die aufschiebende Wirkung ihres am 29.04.2021 und 26.05.2021 erhobenen Widerspruchs gegen die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung vom 31.03.2021 anzuordnen,

3

beurteilt sich nach §§ 80 a Abs. 3, 80 Abs. 5 S. 1, 1. Alt. VwGO. Insoweit ist der Antrag statthaft und auch sonst zulässig.

4

Nach § 80 Abs. 5 S. 1, 1. Alt. VwGO kann das Gericht die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs in den Fällen anordnen, in denen die aufschiebende Wirkung nach § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 bis 3 VwGO entfällt. Das ist hier der Fall, da dem Widerspruch der Antragsteller gegen die der Beigeladenen im vereinfachten Verfahren nach § 69 LBO erteilte Baugenehmigung für den Neubau eines Dachgeschosses auf einem bestehenden Wohnhaus auf dem westlich von ihrem Grundstück gelegenen Nachbargrundstück Dorfstraße 76 in A-Stadt nach § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 VwGO iVm § 212 a Abs. 1 BauGB keine aufschiebende Wirkung zukommt.

5

Der mit Schriftsatz vom 19.08.2021 gestellte weitere Antrag zu 2 „auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO gegen die Bauaufsichtsbehörde“, der angesichts dessen Begründung (wegen der ständig weiter voranschreitenden Baumaßnahmen solle durch den Antrag verhindert werden, dass vollendete Tatsachen und weitere Nachteile für sie geschaffen würden) dahingehend zu verstehen war, dem Antragsgegner aufzugeben, die Baustelle des streitbefangenen Vorhabens stillzulegen, ist dagegen unzulässig.

6

Für einen solchen Antrag ist im Regelfall - und so auch hier - kein Rechtsschutzbedürfnis zu erkennen. Aufgrund der von den Antragstellern mit dem Antrag zu 1 angestrebten Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihres Widerspruchs dürfte die Beigeladene die angefochtene Baugenehmigung nicht mehr ausnutzen. Sie wäre gehalten, die Bauarbeiten nicht mehr fortzuführen. Der Antragsgegner wäre zugleich von Rechts wegen verpflichtet, gegebenenfalls die Beachtung der aufschiebenden Wirkung durchzusetzen und die unverzügliche Einstellung der Bauarbeiten anzuordnen. Die Antragsteller bedürfen deshalb insoweit dieses – zusätzlichen - einstweiligen Rechtsschutzes nicht. Anderes mag gelten, wenn der Bauherr eine gerichtliche Anordnung der aufschiebenden Wirkung missachten oder die Bauaufsichtsbehörde nicht die erforderlichen Maßnahmen ergreifen würde. Es liegen gegenwärtig keine Gründe für die Annahme vor, der Antragsgegner werde nach Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs der Antragsteller durch die Kammer keine Baueinstellungsanordnung treffen, sofern die Beigeladene nicht selbst die Bauarbeiten einstellen sollte.

7

Der zulässige Antrag zu 1 auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs der Antragsteller gegen die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung vom 31.03.2021, die nach Abbruch eines zuvor vorhandenen, als Satteldach ausgeführten Dachgeschosses eines bislang eingeschossigen Gebäudes mit einer Tischlereiwerkstatt und einer Wohnung im Erdgeschoss die Neuerrichtung eines Obergeschosses als Vollgeschoss mit einem 25° geneigten Walmdach mit dann insgesamt zwei Wohnungen umfasst, ist jedoch unbegründet.

8

Die gerichtliche Entscheidung nach § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO ergeht auf der Grundlage einer umfassenden Interessenabwägung. Gegenstand der Abwägung sind das Interesse des beigeladenen Bauherrn an der sofortigen Ausnutzung der ihm erteilten Baugenehmigung einerseits und das Interesse des antragstellenden Nachbarn, von der Vollziehung der Baugenehmigung bis zur Entscheidung in der Hauptsache verschont zu bleiben, andererseits. Im Rahmen dieser Interessenabwägung können auch Erkenntnisse über die Rechtmäßigkeit oder die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes, der vollzogen werden soll, Bedeutung erlangen, allerdings nicht als unmittelbare Entscheidungsgrundlage, sondern als in die Abwägung einzustellende Gesichtspunkte. Darüber hinaus ist in die Abwägung einzustellen, dass nach dem Willen des Gesetzgebers Widerspruch und Anfechtungsklage eines Dritten gegen die bauaufsichtliche Zulassung eines Vorhabens gemäß § 212 a Abs. 1 BauGB keine aufschiebende Wirkung haben sollen und der Gesetzgeber damit dem Bauverwirklichungsinteresse grundsätzlich den Vorrang eingeräumt hat. Insofern kann das Gericht die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage nur anordnen, wenn auf Seiten des Antragstellers geltend gemacht werden kann, dass mit überwiegender Wahrscheinlichkeit seine Rechtsposition durch den Bau und die Nutzung des genehmigten Vorhabens unerträglich oder in einem nicht wiedergutzumachenden Maße beeinträchtigt bzw. gefährdet wird. Dabei macht der Verweis auf die Rechtsposition des antragstellenden Nachbarn allerdings deutlich, dass bei baurechtlichen Nachbarrechtsbehelfen nicht allein die objektive Rechtswidrigkeit der angefochtenen Baugenehmigung in den Blick zu nehmen ist, sondern dass Rechtsbehelfe dieser Art nur erfolgreich sein können, wenn darüber hinaus gerade der widersprechende bzw. klagende Nachbar in subjektiv-öffentlichen Nachbarrechten verletzt ist. Ob die angefochtene Baugenehmigung insgesamt objektiv rechtmäßig ist, ist dagegen nicht maßgeblich. Vielmehr ist die Baugenehmigung allein daraufhin zu untersuchen, ob sie gegen Vorschriften verstößt, die dem Schutz des um Rechtsschutz nachsuchenden Nachbarn dienen. Der Nachbar kann sich nur auf solche Interessen berufen, die das Gesetz im Verhältnis der Grundstücksnachbarn untereinander als schutzwürdig ansieht. Dabei ist für die Beurteilung der Verletzung von öffentlich-rechtlich geschützten Nachbarrechten durch eine Baugenehmigung allein der Regelungsinhalt der Genehmigungsentscheidung maßgeblich. Eine hiervon abweichende Ausführung kann die Aufhebung der Baugenehmigung demgegenüber nicht rechtfertigen.

9

Nach diesem Maßstab überwiegt vorliegend das Interesse der Beigeladenen, die ihr erteilte Baugenehmigung sofort, d. h. ungeachtet des Widerspruchs der Antragsteller ausnutzen zu können. Denn bei der in diesem Verfahren nur möglichen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage lässt sich nicht mit hinreichender, d. h. überwiegender Wahrscheinlichkeit feststellen, dass die angefochtene Baugenehmigung des Antragsgegners vom 31.03.2021 Nachbarrechte der Antragsteller verletzt.

10

Zunächst ist festzuhalten, dass ein Verstoß der auf der Grundlage des § 69 LBO im vereinfachten Baugenehmigungsverfahren erteilten Baugenehmigung gegen nachbarschützende Vorschriften des Bauordnungsrechts gemäß § 69 Abs. 1 S. 1 LBO an dieser Stelle grundsätzlich bereits nicht Prüfungsgegenstand des Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO ist. Denn in einem solchen Verfahren wird außer bei Sonderbauten die Vereinbarkeit der Vorhaben mit den Vorschriften der Landesbauordnung und den Vorschriften aufgrund der Landesbauordnung nicht geprüft; lediglich die §§ 65 Abs. 4, 68 und 70 LBO bleiben unberührt. Abstandsflächenunterschreitungen können deshalb hier allenfalls im Rahmen des Rücksichtnahmegebotes bzw. im Hinblick auf einen Antrag auf bauaufsichtliches Einschreiten wegen von der Baugenehmigung abweichender Bauausführung relevant werden.

11

Dazu gilt es voranzustellen, dass das genehmigte Vorhaben weder eine Legalisierung eines vorhandenen Bestandes an möglicherweise ungenehmigten Nebengebäuden noch eine – neue - Genehmigung der im Erdgeschoss vorhandenen, mit Baugenehmigung vom 30.04.1993 dort eingerichteten Tischlereiwerkstatt umfasst.

12

Vielmehr ist in den genehmigten Bauvorlagen ausschließlich die als solche gekennzeichnete Neuerrichtung des Obergeschosses mit Walmdach sowie eines Carports an der Westseite mit Dachterrasse und als Zugang für die neue weitere Wohnung im Obergeschoss eine Stahltreppe als Genehmigungsinhalt ausgewiesen. Daran vermag auch die Auflage 12 nichts zu ändern, wonach innerhalb des Gebäudes als Immissionsrichtwerte für die Schallübertragung von Werkstatt zu Wohnung mit 35 dB(A) tags und 25 dB(A) nachts festgelegt worden sind. So enthält die Baugenehmigung unter Ziffer 11 ausdrücklich den Hinweis, dass die Nebenbestimmungen der Baugenehmigung für die Tischlerei vom 30.04.1993 weiterhin Gültigkeit haben.

13

Da der Betrieb der im Erdgeschoss als unveränderter Bestand dargestellten Werkstatt nicht Gegenstand der angefochtenen Baugenehmigung ist, werden für die Antragsteller als Nachbarn gegenüber der auf der Grundlage der Baugenehmigung vom 30.04.1993 betriebenen Werkstatt keine neuen, im vorliegenden Verfahren zu berücksichtigenden Abwehrrechte eröffnet.

14

Ein Verstoß gegen nachbarschützende Vorschriften des Bauplanungsrechts einschließlich des Gebots der Rücksichtnahme durch das in dieser Weise beschränkt überprüfbare streitgegenständliche Vorhaben ist nicht auszumachen.

15

So können sich die Antragsteller nicht mit Erfolg auf einen sog. Gebietserhaltungs- oder Gebietsbewahrungsanspruch berufen. Dieser Anspruch wird durch die Zulassung eines mit der Gebietsart unvereinbaren Vorhabens ausgelöst, weil hierdurch eine „Verfremdung“ des Gebiets eingeleitet und damit das nachbarliche Austauschverhältnis gestört wird, das auf dem Gedanken beruht, dass sich jeder Grundstückseigentümer davor schützen können muss, dass er über die durch die Festsetzung einer Gebietsart normierte oder aus einer wie hier faktisch vorhandenen Gebietsart eines allgemeinen Wohngebietes oder eines Mischgebietes sich ergebenden Beschränkung seiner Baufreiheit hinaus durch eine nicht zulässige Nutzung eines anderen Grundstückseigentümers nochmals zusätzlich belastet wird (BVerwG, Urt. 16.9.1993, - 4 C 28.91 -; Urt. v. 23.08.1996, - 4 C 13.94 -; OVG Schleswig, Beschl. v. 07.06.1999, - 1 M 119/98 -).

16

Ein solches seiner Art nach gebietsunverträgliches Vorhaben liegt mit dem der Beigeladenen genehmigten Wohnbauvorhaben, das von der Nutzungsart her lediglich zu einer Erhöhung der Anzahl der bisher vorhandenen Wohneinheiten um eine auf zwei führt, jedoch offenkundig nicht vor. Als Nutzungsart kennt die Baunutzungsverordnung nur das „Wohnen“ als solches, ohne dahingehend zu differenzieren, ob diese Nutzung in freistehenden Einfamilien-, Doppel- oder Mehrfamilienhäusern erfolgt. Auch von einem drohenden „Umkippen“ des Gebietscharakters von einem angenommenen Mischgebiet etwa in ein allgemeines Wohngebiet kann durch das bloße Hinzutreten einer weiteren Wohnung hier nicht ausgegangen werden. Ohnehin können sich die Antragsteller nicht gegenüber einer Genehmigung für eine Wohnnutzung mit Erfolg auf die Verletzung eigener Rechte durch die Art der baulichen Nutzung berufen, wenn sie selbst ihr Grundstück auch zum Wohnen nutzen.

17

Ebenso wenig begründet der Umstand, dass das genehmigte Vorhaben der Beigeladenen vom Maß, insbesondere der Geschosszahl größer ausfällt als das auf ihrem Grundstück befindliche Gebäude, keinen Verstoß gegen den Gebietserhaltungsanspruch (OVG Schleswig, Beschl. vom 15.01.2013 - 1 MB 46/12 -, Beschl. v. 25.10.2012 - 1 MB 38/12 -).

18

Einen darüber hinausgehenden Gebietsprägungserhaltungsanspruch des Inhalts, dass dieser unabhängig von der Art der Nutzung des geplanten Bauvorhabens einen Abwehranspruch vermittelt, weil das Vorhaben einem für das Baugebiet charakteristischen harmonischen Erscheinungsbild, etwa im Sinne einer vorrangigen Bebauung mit Häusern mit geringer Grundflächenzahl, nicht entspricht, erkennen weder die Kammer noch das Schleswig-Holsteinische Oberverwaltungsgericht in ständiger Rechtsprechung an (z. B. Beschl. v. 17.12.2012 - 2 B 88/12 -; v. 29.01.2014 - 2 B 6/14 -; v. 24.02.2014 - 2 B 12/14 -; v. 04.07.2017 – 2 B 25/17; OVG Schleswig, Beschl. v. 12.05.2020, - 1 MB 9/20 – Rn 6; Beschl. v. 21.07.2015 – 1 MB 16/15 -; s. a. OVG Lüneburg, Beschl. v. 28.5.2014, - 1 ME 47/14 -;).

19

Daher kommt es für das vorliegende Verfahren nicht darauf an, ob durch das geplante Bauvorhaben aus Sicht der Antragsteller das Erscheinungsbild der näheren Umgebung beeinträchtigt wird. Dieses behauptete Erscheinungsbild resultiert allein aus Kriterien, die das Maß der baulichen Nutzung, die Bauweise und die überbaubare Grundstücksfläche betreffen. Bei diesen Kriterien handelt es sich aber nach allgemeiner Auffassung der Verwaltungsgerichte um solche, die nur im überplanten Gebiet und auch nur dann bei Feststellung eines entsprechenden ausdrücklichen planerischen Willens der Gemeinde Drittschutz vermitteln können (vgl. OVG Schleswig, Beschl. v. 12.05.2020, - 1 MB 9/20 – Rn 6; Beschl. v. 25.10.2012, - 1 MB 38/12 -, Beschl. v. 25.10.2012, - 1 MB 38/12 -). Abweichungen von den Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung sind nämlich mit Abweichungen über die Art der baulichen Nutzung nicht vergleichbar. Sie lassen in der Regel den Gebietscharakter unberührt und haben nur Auswirkungen auf das Baugrundstück und die unmittelbar anschließenden Nachbargrundstücke.

20

Zum Schutz der Nachbarn ist insoweit das in § 34 Abs. 1 BauGB enthaltene drittschützende Rücksichtnahmegebot ausreichend, das eine Abwägung der nachbarlichen Interessen ermöglicht und den Nachbarn vor unzumutbaren Beeinträchtigungen schützt. Ein darüber hinausgehender, von einer realen Beeinträchtigung unabhängiger Anspruch des Nachbarn auf Einhaltung der Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung kann dagegen dem Bundesrecht nicht entnommen werden (BVerwG, Beschl. v. 23.06.1995, - 4 B 52/95 -). Im unbeplanten Innenbereich - wie hier - gilt nichts Anderes; insbesondere geht hier der Nachbarschutz nicht weiter als in Bebauungsplangebieten. Bei Abweichungen vom „einfügsamen“ Maß der Nutzung, wie dies von den Antragstellern hinsichtlich der überbauten Grundfläche in Gestalt der höheren Grundflächenzahl, der Geschosszahl und der Höhe der Wand des genehmigten Baukörpers gerügt wird, bietet - allein - das drittschützende Rücksichtnahmegebot ausreichenden Schutz (vgl. OVG Schleswig, Beschl. v. 25.10.2012, - 1 MB 38/12 - juris). Insofern bedarf es im vorliegenden Fall insbesondere keiner Prüfung, ob das genehmigte Vorhaben tatsächlich über den in der näheren Umgebung vorgegebenen Rahmen hinsichtlich der vorgenannten Maß-Kriterien hinausgeht und sich deshalb im Sinne des § 34 Abs. 1 BauGB nicht einfügt.

21

Entgegen der Annahme der Antragsteller erweist sich das genehmigte Vorhaben der Beigeladenen aber nicht als rücksichtslos.

22

Welche Anforderung das Gebot der Rücksichtnahme begründet, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab. Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung derer ist, denen die Rücksichtnahme im gegebenen Zusammenhang zugutekommt, umso mehr kann an Rücksicht verlangt werden. Je verständlicher und unabweisbarer die mit dem Vorhaben verfolgten Interessen sind, umso weniger braucht derjenige, der das Vorhaben verwirklichen will, Rücksicht zu nehmen. Bei diesem Ansatz kommt es für die sachgerechte Beurteilung des Einzelfalles wesentlich auf eine Abwägung zwischen dem an, was einerseits dem Rücksichtnahmebegünstigten und andererseits dem Rücksichtnahmeverpflichteten nach Lage der Dinge zuzumuten ist (BVerwG, Urt. v. 25.02.1977 - 4 C 22/75 -, Rn. 22).

23

Soweit ein Bauvorhaben – wie im vorliegenden Fall (das Gebäude der Beigeladene in einem Abstand von 4,57 m zur gemeinsamen Grundstücksgrenze ist angesichts einer Wandhöhe von 6,26 m offenkundig im Einklang mit § 6 LBO genehmigt) - die landesrechtlichen Abstandvorschriften einhält, scheidet die Verletzung des bauplanungsrechtlichen Gebotes der Rücksichtnahme hinsichtlich der Wirkungen des Baukörpers im Regelfall aus (OVG Schleswig, Beschl. v. 11.11.2010 - 1 MB 16/10 -, Rn. 14; OVG Schleswig, Urt. v. 20.01.2005 - 1 LB 23/04 -, Rn. 44; BVerwG, Beschl. v. 11.01.1999 - 4 B 128/98 -, Rn. 4).

24

Unter besonderen Umständen kann ein Bauvorhaben - ausnahmsweise - auch dann rücksichtslos sein, wenn die bauordnungsrechtlichen Abstandflächen gewahrt sind. Dies kommt in Betracht bei „bedrängender“ oder (gar) „erdrückender“ Wirkung einer baulichen Anlage oder in Fällen, die - absehbar - zu gravierenden, allein durch die Abstandflächenwahrung nicht zu bewältigenden Nutzungskonflikten führen (OVG Schleswig, Beschl. v. 11.11.2010 - 1 MB 16/10 -, Rn. 15 mwN).

25

Es ist zwar in der Rechtsprechung anerkannt, dass nachbarliche Belange in unzumutbarer Weise beeinträchtigt sein können, wenn ein Nachbaranwesen durch die Ausmaße eines Bauvorhabens, seine massive Gestaltung oder seine Lage unangemessen benachteiligt und geradezu „erdrückt“, „eingemauert“ oder „abgeriegelt“ würde. Mit anderen Worten wird dies dann angenommen, wenn die baulichen Dimensionen des „erdrückenden Gebäudes“ aufgrund der Besonderheiten des Einzelfalles derart übermächtig sind, dass das „erdrückte“ Gebäude oder Grundstück nur noch überwiegend wie eine von dem herrschenden Gebäude dominierte Fläche ohne eigene baurechtliche Charakteristik wahrgenommen wird, oder das Bauvorhaben das Nachbargrundstück regelrecht abriegelt, d.h. dort das Gefühl des Eingemauertseins oder der Gefängnishofsituation hervorruft. Dem Grundstück muss gleichsam die Luft zum Atmen genommen werden.

26

Dass das Vorhaben die bislang vorhandene Situation lediglich verändert oder dem Nachbarn (sehr) unbequem ist, reicht jedoch nicht aus.

27

Die in den gewählten Ausdrücken bzw. Bildern („Gefängnishofsituation“, „Eingemauertsein“, „erdrücken“, „erschlagen“, „Luft zum Atmen nehmen“) liegende „Dramatik“ ist danach vielmehr ernst zu nehmen (vgl. OVG Lüneburg, Beschl. v. 15.01.2007 - 1 ME 80/07 -, Rn. 24 und v. 13.01.2010 - 1 ME 237/09 -, Rn. 14; s.a. Beschl. der Kammer v. 21.02.2011 - 2 B 8/11 -, v. 02.02.2012 - 2 B 1/12 -, v. 28.06.2012 - 2 B 30/12 - und v. 08.12.2014 - 2 B 85/14 -; st Rspr. OVG Schleswig, Beschl. v. 27.11.2020, - 1 LA 85/19 -; Beschl. v. 31.03.2020, - 1 MR 2/20 -, Rn. 15 mwN). Ob eine solche Wirkung vorliegt oder nicht, kann nur unter wertender Berücksichtigung aller konkreten Umstände des Einzelfalls entschieden werden. Neben den Ausmaßen der betreffenden Baukörper in ihrem Verhältnis zueinander kann auch deren jeweilige Lage eine maßgebliche Rolle spielen. Im Rahmen dieser Bewertung ist regelmäßig auch die Entfernung zwischen den Baukörpern beziehungsweise die Entfernung der "erdrückenden" baulichen Anlage zu den Grenzen des "erdrückten" Grundstücks von Bedeutung. Zusätzlich kann von Belang sein, wie die angrenzenden Flächen genutzt sind, insbesondere ob die "erdrückende" bauliche Anlage für sich steht oder ob sie von anderen Baukörpern vergleichbarer Dimension umgeben ist, die zu der "erdrückenden Wirkung" noch beitragen und diese verstärken können.

28

Nach diesen Grundsätzen vermag daher allein der Verweis auf die räumliche Nähe von Anlagenstandort und Wohngrundstück die von den Antragstellern angenommene übermächtige Wirkung des bei fast gleichgebliebener Firsthöhe aber nun zweigeschossigen Gebäudes der Beigeladenen eine baurechtlich als rücksichtslos einzustufende Wirkung nicht zu begründen. Dass die Voraussetzungen für die Annahme einer erdrückenden Wirkung im o.g. Sinne nicht vorliegen, ergibt bereits eine Gegenüberstellung der äußeren Maße des Wohnhauses der Antragsteller und des Gebäudes der Beigeladenen. Beide (Haupt-)Gebäude weisen nahezu gleiche Firsthöhen (Vorhaben 8,36 m zu Gebäude der Antragsteller 8,58 m) und nicht wesentlich unterschiedlicher Grundfläche (Vorhaben 162 m² zu Gebäude der Antragsteller 194 m²) auf. Selbst hinsichtlich der Wandhöhe weist zwar das Vorhaben nach Westen auf 18 m Länge eine Höhe von 6,26 m auf. Aber auch das Gebäude der Antragsteller verfügt auf einer Breite von 9,73 m über eine 6,65 m hohe Südwand. Auch von einem „Eingemauertsein“ im o.g. Sinne kann keine Rede sein.

29

Eine bestimmte Dauer oder „Qualität“ der Tagesbelichtung eines Grundstücks wird im öffentlichen Baurecht nicht gewährleistet. Diese Frage wird nur mittelbar – über das Abstandflächenrecht – erfasst. Durch Abstandflächen nach § 6 LBO sollen eine ausreichende Belichtung und Besonnung im Regelfall sichergestellt werden. Das Maß der aus diesen Gründen einzuhaltenden Abstände ist damit vom Gesetzgeber vorgegeben. Ein Nachbar, der sich gegen die Verwirklichung eines Bauvorhabens zur Wehr setzt, kann eine über den Schutz des § 6 LBO hinausgehende Rücksichtnahme nicht beanspruchen. Weitergehende baunachbarrechtliche Abwehrrechte sind nur in Extremfällen zu erwägen (OVG Schleswig, Beschl. v. 29.06.2020, - 1 LA 96/19 -). Im vorliegenden Fall liegen (extreme) Besonderheiten nicht vor, die einen über die gesetzliche Regelung hinausgehenden Nachbarschutz zu Gunsten der Antragsteller geböten. Vielmehr liegen die Gebäude ca. 12 m voneinander entfernt.

30

Der bloße Umstand, dass eine von der Geschosszahl größere, aber von der absoluten Höhe gleich große Bebauung westlich an das Grundstück der Antragsteller anschließt, ist für die Annahme einer solchen Besonderheit nicht geeignet. So geht die damit einhergehende Verschattungswirkung nicht über das hinaus, was in bebauten Ortslagen – bei Beachtung der Abstandflächen – unvermeidlich und von einem Nachbarn daher hinzunehmen ist. Dies gilt vorliegend umso mehr, als das Vorhabengrundstück bereits in der Vergangenheit mit einer mit dem umgestalteten Gebäude vergleichbaren Firsthöhe bebaut war.

31

Eine Rücksichtslosigkeit im Rechtssinne resultiert gegenüber den Antragstellern auch nicht aus den vom Vorhaben der Beigeladenen ausgehenden Einsichtnahmemöglichkeiten in den Garten- und Terrassenbereich der Antragsteller, die durch das - verglichen mit den vorher vorhandenen drei Dachflächenfenstern - Hinzutreten von fünf Fenstern an der Ostseite des neuen Obergeschosses entstehen.

32

Nach gefestigter Rechtsprechung gibt es in der Regel keinen Schutz vor Einsichtsmöglichkeiten von benachbarten Grundstücken aus. Es gibt keinen Rechtsanspruch des Nachbarn, dass Räume, Fenster, Terrassen, Balkone oder Dachgauben auf dem benachbarten Grundstück so angeordnet werden, dass sein Grundstück nicht oder nur eingeschränkt eingesehen werden kann (OVG Schleswig, Beschl. v. 13.07.2021, - 1 MB 14/21 -; Beschl. v. 14.07.2011 – 1 LA 31/11 –, Rn. 2). In einem bebauten innerstädtischen Wohngebiet müssen Nachbarn grundsätzlich hinnehmen, dass Grundstücke innerhalb des durch das Bauplanungs- und das Bauordnungsrecht (insbesondere § 6 LBO) vorgegebenen Rahmens baulich ausgenutzt werden und es dadurch zu Einsichtsmöglichkeiten kommt, die in einem bebauten Gebiet üblich sind. Allenfalls in besonderen, von den Umständen des jeweiligen Einzelfalls geprägten Ausnahmefällen kann sich unter dem Gesichtspunkt der Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme etwas Anderes ergeben.

33

Tragfähige Ansatzpunkte für einen situationsbedingten Ausnahmefall sind aber weder dem Vorbringen der Antragsteller noch den tatsächlichen Verhältnissen zu entnehmen. Für einen solchen Ausnahmefall – wie z.B. der unmittelbare Einblick aus kürzester Entfernung auf geschützte Räumlichkeiten (wie z.B. Schlafzimmer) – gibt weder der Vortrag der Antragsteller noch der Eindruck durch die Lichtbilder in den Verwaltungsvorgängen und den Schriftsätzen der Antragsteller etwas her. So geht es den Antragstellern auch nicht etwa um Einsichtsmöglichkeiten in Wohn- und Schlafräume. Ein Recht auf Unbeobachtetheit im eigenen Garten bzw. auf ihrer Terrasse können die Antragsteller jedoch angesichts der innerörtlichen Lage ihres Grundstücks und der zwangsläufig durch die mit der umgebenden Bebauung unvermeidbar verbundenen Einsichtnahmemöglichkeiten nicht beanspruchen. Insbesondere können sie ihre eigene subjektive Empfindlichkeit insoweit nicht zum Maßstab für die Zulässigkeit von Bebauung auf angrenzenden Grundstücken erheben.

34

Ebenso wenig erweist sich die durch das Vorhaben mit seinen Außenstellplätzen bedingte Nutzung des Nachbargrundstücks als rücksichtslos. Eine allgemeine Verkehrszunahme – auch ausgelöst durch ein benachbartes Bauvorhaben – ist grundsätzlich nicht per se rücksichtslos. Vielmehr muss der An- und Abfahrtsverkehr zu einem künftigen Vorhaben einen Grad annehmen, welcher für einen das Gebot der Rücksichtnahme überschreitenden Konflikt spricht (OVG Schleswig, Beschl. v. 09.07.2019 - 1 MB 12/19 -). Dafür bietet der vorliegende Sachverhalt keinen Anhalt, zumal im Ausgangspunkt zu beachten ist, dass gemäß § 12 Abs. 2 BauNVO auch den Anwohnern selbst in einem reinen wie auch allgemeinen Wohngebiet zugemutet wird, das mit einer zulässigen Grundstücksnutzung verbundene Abstellen und Einparken von Kraftfahrzeugen und den damit einhergehenden Lärm hinzunehmen. § 12 Abs. 2 BauNVO beinhaltet insoweit eine normative Duldungspflicht. Nachbarn müssen daher die sich aus der Nutzung von Garagen und Stellplätzen ergebenden üblichen Störungen bei Tag und Nacht hinnehmen, wenn die Garagen- oder Stellplatzanlage in ihrem Ausmaß das Bedürfnis nicht überschreitet, das sich aus dem auf dem Grundstück zulässigerweise verwirklichten Wohnungsbestand ergibt (VGH München, Beschl. v. 09.02.2004, - 14 CS 03.2977 -, Rn. 16; OVG Schleswig, Beschl. v. 09.07.2019 - 1 MB 12/19 -). So liegt es hier.

35

Selbst eine nicht ausreichende Stellplatzausstattung des genehmigten Vorhabens wäre gegenüber den Antragstellern erst dann rücksichtslos, wenn damit gerechnet werden müsste, dass für sie ein unverträglicher Park- und Suchverkehr entstünde mit der Folge, dass ihr Grundstück nicht mehr ohne Weiteres angefahren werden könnte (vgl. OVG Schleswig, Beschl. v. 13.05.2013, - 1 MB 4/13 – Rn. 17; OVG Lüneburg, Beschl. v. 21.12.2010, - 1 LA 274/09 - Rn. 33). Auch davon kann hier keine Rede sein.

36

Die übrigen Einwände der Antragsteller betreffen durchweg Fragen der Einhaltung objektiv-rechtlicher bauordnungsrechtlicher Vorschriften, denen ebenso wie die gerügten angeblichen Verfahrensmängel bei der Erteilung des gemeindlichen Einvernehmens oder der Baugenehmigung als solche kein drittschützender Charakter zukommt, sodass sich die Antragsteller auf Verstöße dagegen für ihr gegen die streitbefangene Baugenehmigung gerichtetes Begehren nicht mit Erfolg berufen können.

37

Dies gilt auch dann, wenn man entgegen dem mit dem Antrag zu 2 von den Antragstellern offenkundig verfolgten Ziel, das Entstehen vollendeter Tatsachen durch den Baufortschritt zu verhindern, diesen als einen Antrag auf Verpflichtung des Antragsgegners zum sofortigen Einschreiten gegen angebliche Verstöße im Zusammenhang mit dem streitbefangenen Vorhaben gegen bauordnungsrechtliche Vorschriften auslegen wollte. Denn auch dazu bedürfte es eines drittschützenden Charakters derjenigen bauordnungsrechtlichen Vorschriften, deren Einhaltung die Antragsteller vom Antragsgegner überprüft wissen wollen.

38

Das vorläufige Rechtsschutzgesuch der Antragsteller war nach alldem mit der sich aus § 154 Abs. 1 VwGO ergebenden Kostenfolge abzulehnen.

39

Es entsprach hier der Billigkeit, die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen nicht für erstattungsfähig zu erklären (§ 162 Abs. 3 VwGO), weil sie sich nicht durch das Stellen eines eigenen Sachantrages nach § 154 Abs. 3 VwGO am Kostenrisiko des vorliegenden Verfahrens beteiligt hat.

40

Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 52 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 2, 63 Abs. 2 GKG, wobei die Kammer unter Berücksichtigung der geltend gemachten Beeinträchtigungen des Wohnhauses A-Straße von einem Streitwert in Höhe von 15.000 € für das Hauptsacheverfahren ausgeht, der für das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes zu halbieren war.


Verwandte Urteile

Keine verwandten Inhalte vorhanden.

Referenzen