Beschluss vom Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht (1. Kammer) - 1 B 89/21
Tenor
Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes wird abgelehnt.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 5.000 € festgesetzt.
Gründe
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Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes hat keinen Erfolg.
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Der Antrag ist dahingehend auszulegen, dass der Antragsteller die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs gegen die in dem Bescheid des Antragsgegners vom 2. Juni 2021 ausgesprochene Ablehnung der Aufenthaltserlaubnis (Ziffer 1 des Bescheides) sowie gegen die Abschiebungsandrohung (Ziffer 3 des Bescheides) begehrt. Dies entspricht dem erkennbaren Rechtsschutzziel des Antragstellers. Der Antrag ist über den ausdrücklichen Wortlaut hinaus dahingehend auszulegen, dass der Antragsteller daneben den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO mit dem Ziel der vorläufigen Verpflichtung des Antragsgegners zur Aussetzung einer Abschiebung und Erteilung einer (längerfristigen) Duldung zur Vermeidung einer auch nur vorübergehenden Trennung des Antragstellers von seiner Ehefrau und seinem minderjährigen Kind begehrt; der ausdrücklich gestellte auf Erlass einer einstweiligen Anordnung soll sich demgegenüber nach seinem Wortlaut offenbar auf die Zeit bis zur Entscheidung über den vorliegenden Antrag beziehen. Dagegen wendet sich der Antragsteller gegenwärtig nicht gegen das Einreise- und Aufenthaltsverbot mit Befristung für den Fall einer Abschiebung.
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Nach §§ 88, 122 Abs. 1 VwGO darf das Gericht über das Antragsbegehren nicht hinausgehen, ist aber an die Fassung der Anträge nicht gebunden Das Gericht hat grundsätzlich das im Antrag und im gesamten Antragsvorbringen zum Ausdruck kommende Rechtsschutzziel zu ermitteln und seiner Entscheidung zugrunde zu legen. Bei der Ermittlung des Willens des Rechtsuchenden ist nach anerkannter Auslegungsregel zu dessen Gunsten davon auszugehen, dass er denjenigen Rechtsbehelf einlegen will, der nach Lage der Sache seinen Belangen entspricht und eingelegt werden muss, um den erkennbar angestrebten Erfolg zu erreichen (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. April 1990 – 8 C 70.88 –, Rn. 23, juris). Neben dem Antrag und der Begründung ist auch die Interessenlage zu berücksichtigen, soweit sie sich aus dem Parteivortrag und sonstigen erkennbaren Umständen ergibt (BVerwG, Beschluss vom 13. Januar 2012 – 9 B 56.11 –, Rn. 7, juris). Ist der Rechtsschutzsuchende bei der Fassung des Antrages anwaltlich vertreten worden, kommt zwar der Antragsformulierung gesteigerte Bedeutung für die Ermittlung des tatsächlich Gewollten zu. Selbst dann darf die Auslegung jedoch vom Antragswortlaut abweichen, wenn die Begründung, die beigefügten Bescheide oder sonstige Umstände eindeutig erkennen lassen, dass das wirkliche Ziel von der Antragsfassung abweicht (BVerwG, Beschluss vom 13. Januar 2012 – 9 B 56.11 –, Rn. 8, juris). Da sich vorliegend der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen die Ablehnung der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis als unzulässig erweist, entspricht es auch dem erkennbaren Rechtsschutzziel des Antragstellers, zur Vermeidung einer auch nur vorübergehenden Trennung von seiner Ehefrau und seinem Kind, bereits durch das vorläufige Rechtsschutzverfahren eine (längerfristige) Duldung zu diesem Zweck zu erhalten. Der Antragsgegner schiebt den Antragsteller gegenwärtig wegen des eingeleiteten vorläufigen Rechtsschutzverfahrens nicht ab, sodass sich eine Entscheidung über den weiteren Antrag erübrigt.
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Der Antrag ist nicht zulässig, soweit der Antragsteller die Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs nach § 80 Abs. 5 Satz 1 1. Alt. VwGO gegen die Ablehnung des Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis durch Ziffer 1 des Bescheides des Antragsgegners vom 2. Juni 2021 begehrt. Widerspruch und Klage gegen die Ablehnung einer Aufenthaltserlaubnis entfalten keine aufschiebende Wirkung (§ 84 Abs.1 Nr. 1 AufenthG). Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung gemäß § 80 Abs. 5 VwGO hätte zwar nicht die Wiederherstellung einer Erlaubnis- bzw. Fiktionswirkung zur Folge, allerdings wird in diesem Fall die Einstellung des Vollzugs nach § 241 Abs. 1 Nr. 3 LVwG erreicht. Deshalb ist nur in den Fällen des Eintritts von Erlaubnis- bzw. Fiktionswirkungen § 80 Abs. 5 VwGO der zutreffende Rechtsbehelf (vgl. dazu OVG Schleswig, Beschluss vom 25. Juli 2011 – 4 MB 40/11 –, Seite 4 der Beschlussausfertigung). Hat die Ablehnung der Erteilung oder Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis keine gesetzliche oder behördlich angeordnete Erlaubniswirkung oder Fiktionswirkung nach § 81 Abs. 3 oder 4 AufenthG beendet, so kann die Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen den ablehnenden Verwaltungsakt dem Antragsteller keinen rechtlichen Vorteil bringen. Denn seine Ausreisepflicht ist bereits gemäß § 58 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG von Gesetzes wegen vollziehbar. Nach dieser Vorschrift ist die Ausreisepflicht vollziehbar, wenn der Ausländer noch nicht die erstmalige Erteilung des erforderlichen Aufenthaltstitels oder noch nicht die Verlängerung beantragt hat oder trotz erfolgter Antragstellung der Aufenthalt nicht nach § 81 Abs. 3 als erlaubt oder der Aufenthaltstitel nicht nach § 81 Abs. 4 nicht als fortbestehend gilt (OVG Lüneburg, Beschluss vom 20. November 2020 – 8 ME 109/20 –, Rn. 9, juris).
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Der bei dem Antragsgegner am 29. April 2021 gestellte Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis führte nicht nach § 81 Abs. 3 AufenthG zu einem vorläufig erlaubten Aufenthalt, weil der Antragsteller sich nicht – wie die Vorschrift es voraussetzt – rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat. Zwar bedurfte er als Staatsangehöriger Serbiens nach Art. 4 Abs. 2 i.V.m. Anhang II der Verordnung (EU) 2018/1806 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. November 2018 zur Aufstellung der Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige beim Überschreiten der Außengrenzen im Besitz eines Visums sein müssen, sowie der Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige von der Visumpflicht befreit sind (EU-VisaVO), für das Überschreiten der Außengrenze der Bundesrepublik Deutschland für einen Aufenthalt, der 90 Tage je Zeitraum von 180 Tagen nicht überschreitet, grundsätzlich keines Visums. Eine titelfreie, also visumfreie, Einreise ist allerdings nur dann als erlaubt im Sinne von § 14 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG anzusehen, wenn der beabsichtigte Aufenthaltszweck nur auf einen Kurzaufenthalt im Sinne von Art. 4 Abs. 1 EU-VisaVO gerichtet ist (so VGH Kassel, Beschluss vom 20. Oktober 2016 – 7 B 2174/16 –, Rn. 27, juris; VGH München, Beschluss vom 21. Juni 2013 – 10 CS 13.1002 –, Rn. 13, juris zur entsprechenden Bestimmung des Art. 1 Abs. 2 der außer Kraft getretenen Verordnung (EG) Nr. 539/2001). Deshalb ist unter dem Aspekt der Aufenthaltsdauer für die Frage, ob eine Befreiung von der Visumpflicht besteht, maßgeblich, welche Absichten bzw. Vorstellungen der Betreffende im Zeitpunkt der Einreise in Bezug auf die Aufenthaltsdauer hat. Für die Anwendbarkeit der Befreiungsvorschrift des Art. 4 Abs. 1 EU-VisaVO ist darauf abzustellen, ob schon bei der Einreise ein Aufenthalt beabsichtigt war, der wegen der Überschreitung des zeitlichen Rahmens eines Visums bedurft hätte. Ein Staatsangehöriger eines der in Anhang II der EU-VisaVO genannten Staaten reist aus diesem Grund dann unerlaubt ein, wenn er bereits bei der Einreise die Absicht hat, sich länger als 90 Tage je Zeitraum von 180 Tagen im Bundesgebiet oder im Gebiet der Anwenderstaaten aufzuhalten (vgl. VGH Kassel, Beschluss vom 20. Oktober 2016, a.a.O.; VGH München, Beschluss vom 21. Juni 2013, a.a.O.). Nur wenn der Ausländer subjektiv die zeitliche Grenze von 90 Tagen nicht überschreiten will und sich ein Sinneswandel hin zu einem Daueraufenthalt erst während des Aufenthalts ergibt, führt ein entsprechender Antrag zu der Erlaubniswirkung des § 81 Abs. 3 AufenthG (VGH Mannheim, Beschluss vom 20. September 2018 – 11 S 1973/18 –, Rn. 14, juris).
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Hiervon ausgehend ist der Antragsteller unerlaubt im Sinne des § 14 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG eingereist, weil er bei der Einreise nicht den Aufenthaltstitel besessen hat, der nach § 4 AufenthG erforderlich gewesen sein dürfte. Denn es spricht alles dafür, dass der Antragsteller schon bei seiner Einreise beabsichtigte, sich über den Zeitraum eines Kurzaufenthalts im Sinne der EU-VisaVO hinaus dauerhaft im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland aufzuhalten. Das legt der Vortrag und die zeitliche Abfolge der Ereignisse mit der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis im Frühjahr 2019 für die Ehefrau des Antragstellers, der vorgetragenen Registrierung im Jahre 2019 bei der deutschen Botschaft, der Heirat am 18. November 2020, der Einreise des Antragstellers am 1. April 2021 in Kenntnis des bevorstehenden voraussichtlichen Entbindungstermins der Ehefrau Ende Juni 2021 sowie der Antragstellung auf eine Aufenthaltserlaubnis mit Schreiben vom 28. April 2021 nahe. Da der Antragsteller auch nicht im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis war, kommt auch eine Fiktion des Fortbestehens einer Aufenthaltserlaubnis nach § 81 Abs. 4 AufenthG nicht in Betracht. Hat ein Antrag auf Verlängerung oder Neuerteilung einer Aufenthaltserlaubnis weder eine gesetzliche noch eine angeordnete Erlaubniswirkung oder Fiktionswirkung, die durch eine ablehnende Entscheidung der Ausländerbehörde beendet werden könnte, kommt vorläufiger Rechtsschutz nur nach § 123 VwGO in Betracht (OVG Magdeburg, Beschluss vom 3. Juni 2020 – 2 M 35/20 –, juris).
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Der Antrag des Antragstellers auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs gegen die Abschiebungsandrohung in Ziffer 3 des Bescheides vom 2. Juni 2021 ist nach § 80 Abs. 5 Satz 1 1. Alt. VwGO statthaft, weil gemäß § 80 Abs. 2 Satz 2 VwGO in Verbindung mit § 248 Abs. 1 Satz 2 LVwG der Widerspruch gegen Maßnahmen, die in der Verwaltungsvollstreckung getroffen werden – dazu gehört auch der Erlass einer Abschiebungsandrohung – keine aufschiebende Wirkung hat.
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Der Antrag ist jedoch insoweit unbegründet, weil die Androhung der Abschiebung nach Serbien unter Bestimmung einer Frist für die freiwillige Ausreise in Ziffer 3 des Bescheides vom 2. Juni 2021 offensichtlich rechtmäßig ist, sodass die im Rahmen einer Entscheidung nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO erforderliche Interessenabwägung zulasten des Antragstellers ausfällt.
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Der Erlass einer Abschiebungsandrohung setzt grundsätzlich eine Ausreisepflicht voraus. Der Antragsteller ist nach § 50 Abs. 1 AufenthG kraft Gesetzes ausreisepflichtig. Nach dieser Vorschrift ist ein Ausländer zur Ausreise verpflichtet, wenn er einen erforderlichen Aufenthaltstitel nicht oder nicht mehr besitzt und ein Aufenthaltsrecht nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei nicht oder nicht mehr besteht. Der Antragsteller besitzt seit seiner Einreise in die Bundesrepublik Deutschland, nicht den erforderlichen Aufenthaltstitel. Die Abschiebungsandrohung wurde nach Maßgabe des § 59 AufenthG erlassen. Gemäß § 59 Abs. 1 Satz 1 AufenthG ist die Abschiebung unter Bestimmung einer angemessenen Frist zwischen 7 und 30 Tagen für die freiwillige Ausreise anzudrohen. Die von dem Antragsgegner bestimmte Ausreisefrist bewegt sich nach Erhalt des Bescheides innerhalb dieses gesetzlichen Rahmens und ist angemessen. Besondere Umstände des Einzelfalles, unter deren Berücksichtigung die Ausreisefrist gemäß § 59 Abs. 1 Satz 4 AufenthG für einen längeren Zeitraum hätte festgesetzt werden müssen, sind nicht ersichtlich. Das Vorliegen von Abschiebungsverboten und Gründen für die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung stünde gemäß § 59 Abs. 3 Satz 1 AufenthG dem Erlass der Abschiebungsandrohung nicht entgegen. Die Rechtmäßigkeit einer Abschiebungsandrohung würde auch nicht die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht voraussetzen (vgl. OVG Münster, Beschluss vom 20. Februar 2009 – 18 A 2620/08 –, juris). Die Ausreisepflicht ist daneben allerdings vorliegend zunächst bereits nach § 58 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG vollziehbar, weil der Antragsteller – wie oben ausgeführt – unerlaubt eingereist ist. Darüber hinaus ist die Ausreisepflicht nach § 58 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG vollziehbar, weil der Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nicht gemäß § 81 Abs. 3 AufenthG bzw. § 81 Abs. 4 AufenthG zu einem als erlaubt bzw. fortbestehend geltenden rechtmäßigen Aufenthalt geführt hat.
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Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat ebenfalls keinen Erfolg.
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Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (Sicherungsanordnung). Voraussetzung hierfür ist, dass sowohl ein Anordnungsanspruch, d. h. der materielle Anspruch, für den der Antragsteller um vorläufigen Rechtsschutz nachsucht, als auch ein Anordnungsgrund, der insbesondere die Eilbedürftigkeit einer vorläufigen Regelung begründet, glaubhaft gemacht werden, § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO. Maßgebend sind dabei die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung. Das Gericht bestimmt dabei nach § 123 Abs. 3 VwGO in Verbindung mit § 938 Abs. 1 ZPO nach freiem Ermessen, welche Anordnungen zur Erreichung des Zwecks erforderlich sind.
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Der Antrag, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen unter Erteilung einer Duldung zur Vermeidung einer auch nur vorübergehenden Trennung des Antragstellers von seiner Ehefrau und seinem Kind abzusehen, ist nach dem derzeitigen Erkenntnisstand des Gerichts nicht begründet. Dem Antragsteller steht kein im Wege der einstweiligen Anordnung zu sichernder Anspruch auf eine Aussetzung der Abschiebung zur Vermeidung einer solchen Trennung zu. Es liegen gegenwärtig keine Gründe dafür vor, nach denen die Abschiebung des Antragstellers nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG rechtlich unmöglich wäre. Nach dieser Vorschrift ist die Abschiebung eines Ausländers auszusetzen, solange die Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist und keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird.
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Eine Abschiebung des Antragstellers erweist sich insbesondere nicht im Hinblick auf den geltend gemachten Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen als rechtlich unmöglich im Sinne von § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG.
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In den Fällen, in denen der Antrag auf Erteilung bzw. Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis eine Fiktionswirkung mit einhergehendem Bleiberecht (§ 81 Abs. 3 und 4 AufenthG) nach der Entscheidung des Gesetzgebers – so wie vorliegend – nicht auslöst, scheidet aus gesetzessystematischen Gründen die Erteilung einer Duldung für die Dauer des Erteilungsverfahrens grundsätzlich aus. Dieser Grundsatz beruht auf der Erwägung, dass dies der in den §§ 50, 58 Abs. 1 und 2, 81 Abs. 3 und 4 AufenthG zum Ausdruck kommenden gesetzlichen Wertung widerspräche, die für die Dauer eines Aufenthaltsgenehmigungsverfahrens ohne Hinzutreten besonderer Umstände nur unter den Voraussetzungen des § 81 AufenthG ein Bleiberecht gewährt. Eine spezielle „Duldung“ für die Dauer des ausländerbehördlichen Verfahrens bis zu einer behördlichen oder gerichtlichen Entscheidung allein wegen des Vorliegens eines solchen behördlichen Verfahrens und eines etwaigen Anspruchs auf Aufenthaltserlaubnis kommt nicht in Betracht, weil das Gesetz einen solchen Fall grundsätzlich nicht vorsieht, sondern gerade ausschließt (Beschluss des Gerichts vom 10. August 2017 – 1 B 75/17 – mwN; OVG Münster, Beschluss vom 11. Januar 2016 – 17 B 890/15 –; OVG Magdeburg, Beschluss vom 14. Oktober 2009 – 2 M 142/09 –; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 28. Februar 2006 – 7 S 65.05 –; VG Aachen, Beschluss vom 24. Mai 2016 – 8 L 1025/15 –; VG Trier vom 14. Dezember 2011 – 1 L 1537/11 TR – alle zitiert nach Juris; Bergmann/Dienelt Ausländerrecht, AufenthG § 81 Rn. 40-47, beck-online).
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Allerdings sind Ausnahmen von diesem Grundsatz insoweit anerkannt, als sich einer Abschiebung entgegenstehende rechtliche Hindernisse im Sinne des § 60a Abs. 2 AufenthG aus inlandsbezogenen Abschiebungsverboten ergeben können, die ihre Grundlage etwa in den Grundrechten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 (Leben und körperliche Unversehrtheit), Art. 6 Abs. 1 GG (Ehe und Familie) oder Art. 8 EMRK (Familien- und Privatleben) haben. Zum anderen können Abschiebungsverbote aber auch ausnahmsweise aus der Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes gemäß Art. 19 Abs. 4 GG in Verbindung mit einfachgesetzlichen Rechten folgen, wenn diese Rechte dem Ausländer eine Rechtsposition einräumen, die durch eine Abschiebung verloren gehen würde (OVG Münster, Beschluss vom 5. Dezember 2011 – 18 B 910/11 –, Rn. 4, juris). Dies kann insbesondere der Fall sein, wenn sich der Ausländer auf § 39 AufenthV (i.V.m. § 99 AufenthG) berufen kann, der die Möglichkeit der Einholung eines Aufenthaltstitels vom Bundesgebiet aus vorsieht. Denn in diesen Fällen würde das Recht, den Aufenthaltstitel ohne Durchführung des Visumverfahrens erhalten zu können, durch die Ausreise regelmäßig vereitelt.
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Die tatbestandlichen Voraussetzungen des insoweit für den Antragsteller in Betracht kommenden § 39 Nr. 5 AufenthV für eine inländische Titelbeantragung sind hier allerdings nicht gegeben. Danach kann ein Ausländer über die im Aufenthaltsgesetz geregelten Fälle hinaus einen Aufenthaltstitel im Bundesgebiet einholen oder verlängern lassen, wenn seine Abschiebung nach § 60a AufenthG ausgesetzt ist und er auf Grund einer Eheschließung oder der Begründung einer Lebenspartnerschaft im Bundesgebiet oder der Geburt eines Kindes während seines Aufenthalts im Bundesgebiet einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis erworben hat. Die Abschiebung des Antragstellers war zunächst schon von dem Antragsgegner zu keinem Zeitpunkt nach § 60a AufenthG ausgesetzt.
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Der Antragsteller hat darüber hinaus auch während seines Aufenthalts im Bundesgebiet keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis erworben. Ein Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels ist nur ein gesetzlicher Anspruch. Ein gesetzlicher Anspruch muss sich unmittelbar aus dem Gesetz ergeben. Ein derart strikter Rechtsanspruch setzt voraus, dass alle zwingenden und regelhaften Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sind, weil nur dann der Gesetzgeber selbst eine Entscheidung über das zu erteilende Aufenthaltsrecht getroffen hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 17. Dezember 2015 – 1 C 31.14 –, BVerwGE 153, 353-360, Rn. 21; Urteil vom 10. Dezember 2014 – 1 C 15.14 –, Rn. 15, juris). Ansprüche aufgrund einer Ermessensvorschrift führen hingegen nicht zu einem gesetzlichen Anspruch, und zwar auch dann nicht, wenn das Ermessen im Einzelfall „auf Null“ reduziert ist (vgl. VGH München, Beschluss vom 4. Mai 2020 – 10 ZB 20.666 –, Rn. 7, juris).
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Ein Anspruch des Antragstellers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3d AufenthG (die Voraussetzungen dieser von dem Antragsgegner nicht geprüften Ziffer liegen grundsätzlich vor) zum Ehegattennachzug scheitert nicht nur daran, dass der Antragsteller bislang nicht die hinreichenden Sprachkenntnisse im Sinne von § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG nachgewiesen hat, es fehlt für einen zwingenden Anspruch nach dieser Vorschrift ebenso wie für einen Anspruch auf Familiennachzug zu einem minderjährigen Kind nach § 29 AufenthG bei dem Antragsteller auch an der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG. Diese Vorschrift setzt für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis voraus, dass kein Ausweisungsinteresse besteht. Zwar kann nach § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG von § 5 Abs. 1 Nr. 2 abgesehen werden. Diese Entscheidung steht jedoch im Ermessen der Behörde, sodass ein Anspruch im Sinne von § 39 Nr. 5 AufenthV ausscheidet. Der Antragsteller hat darüber hinaus nicht – wie es § 39 Nr. 5 AufenthV voraussetzt – aufgrund einer Eheschließung im Bundesgebiet während seines Aufenthalts im Bundesgebiet einen Anspruch erworben.
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Für das Vorliegen eines Ausweisungsinteresses nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG kommt es nicht darauf an, ob der Ausländer tatsächlich ausgewiesen werden könnte. Vielmehr reicht es aus, dass ein Ausweisungsinteresse gleichsam abstrakt, also nach seinen tatbestandlichen Voraussetzungen, vorliegt, wie es insbesondere im Katalog des § 54 AufenthG normiert ist. Der Begriff des Ausweisungsinteresses verweist auf das Ausweisungsrecht und greift die in § 53 Abs. 1, § 54 AufenthG gewählte und anhand von Beispielen erläuterte Begriffsbildung auf (BVerwG, Urteil vom 12. Juli 2018 – 1 C 16.17 –, BVerwGE 162, 349-363, Rn. 15). Auch allein generalpräventive Gründe können ein Ausweisungsinteresse begründen. Nach § 53 Abs. 1 AufenthG muss für eine Ausweisung der weitere Aufenthalt eine Gefährdung bewirken. Vom Aufenthalt eines Ausländers, der Straftaten begangen hat, kann auch dann eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgehen, wenn von ihm selbst keine (Wiederholungs-)Gefahr mehr ausgeht, im Fall des Unterbleibens einer ausländerrechtlichen Reaktion auf sein Fehlverhalten andere Ausländer aber nicht wirksam davon abgehalten werden, vergleichbare Delikte zu begehen (vgl. BVerwG, Urteil vom 12. Juli 2018 – 1 C 16.17 –, BVerwGE 162, 349-363, Rn. 16).
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Es liegt bei dem Antragsteller ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG vor, weil er einen nicht nur geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften begangen hat. Diese Vorschrift ist dahin zu verstehen, dass ein Rechtsverstoß nur dann unbeachtlich ist, wenn er vereinzelt und geringfügig ist, andererseits aber immer dann beachtlich ist, wenn er vereinzelt, aber nicht geringfügig oder geringfügig, aber nicht vereinzelt ist. Der Begriff der Geringfügigkeit erfordert eine wertende und abwägende Beurteilung insbesondere der Begehungsweise, des Verschuldens und der Tatfolgen. Eine vorsätzlich begangene Straftat ist grundsätzlich nicht geringfügig (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. November 2004 – 1 C 23.03 –, juris; OVG Bautzen, Beschluss vom 29. Juni 2021 – 3 B 14/21 –, Rn. 11 - 12, juris). Der Antragsteller ist unerlaubt in das Bundesgebiet eingereist und hält sich seit seiner Einreise hier unerlaubt auf. Es liegt insoweit ein vorsätzlicher Verstoß gegen die Strafvorschrift des § 95 Abs. 1 Nr. 2 und 3 AufenthG vor. Damit liegt kein geringfügiger Verstoß vor, sodass die tatbestandlichen Voraussetzungen für ein Ausweisungsinteresse gegeben sind. Das zumindest durch generalpräventive Gründe getragene Ausweisungsinteresse ist auch noch hinreichend aktuell. Für die dem Antragsteller zur Last gelegte Tat beträgt die einfache Verjährungsfrist drei Jahre (§ 78 Abs. 3 Nr. 5 StGB), weil die Tat mit einer Freiheitsstraße bis zu einem Jahr bedroht ist. Die absolute Verjährungsfrist beträgt sechs Jahre (§ 78c Abs. 3 Satz 2 StGB). Die einfache Verjährungsfrist ist noch nicht abgelaufen.
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Der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen steht darüber hinaus auch entgegen, dass der Antragsteller nicht gemäß § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und 2 AufenthG mit dem erforderlichen Visum eingereist ist und die für die Erteilung maßgeblichen Angaben nicht bereits im Visumsantrag gemacht hat. Von diesem Erfordernis kann nach § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG abgesehen werden, wenn die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung erfüllt sind, dies ist nur dann der Fall, wenn ein strikter Rechtsanspruch besteht (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. November 2010 - 1 C 17.09, Rn. 27 und Urteil vom 10. Dezember 2014 - 1 C 15.14, Rn. 19, beide juris), was vorliegend wegen des bestehenden Ausweisungsinteresses nicht der Fall ist, oder es aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalls nicht zumutbar ist, das Visumverfahren nachzuholen.
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Die durch die Nachholung des Visumverfahrens voraussichtlich erforderliche Zeit, die mit der Trennung des Antragstellers insbesondere von seiner Ehefrau und seinem erst wenige Monate alten Kind verbunden sein könnte, kann vorliegend nicht dazu führen, dass es deshalb für den Antragsteller nicht zumutbar wäre, das Visumverfahren nachzuholen. Wegen der absehbaren nicht zu langen Trennungsdauer liegt kein rechtliches Abschiebungshindernis im Sinne von § 60a Abs. 2 AufenthG vor.
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Eine Unzumutbarkeit der Nachholung des Visumverfahrens oder eine rechtliche Unmöglichkeit einer Abschiebung im Sinne von § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG kann sich aus inlandsbezogenen Abschiebungsverboten ergeben, die aus Verfassungsrecht etwa mit Blick auf Art. 6 Abs. 1 GG oder aus Art. 8 Abs. 1 EMRK herzuleiten sind. Nach Art. 6 Abs. 1 GG schutzwürdige Belange können einer Beendigung des Aufenthalts dann entgegenstehen, wenn es dem Ausländer nicht zuzumuten ist, seine familiären Bindungen durch Ausreise auch nur kurzfristig zu unterbrechen (vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juni 1997 – 1 C 9.95 –, BVerwGE 105, 35, 39 f.; OVG Lüneburg, Beschluss vom 20. Mai 2009 – 11 ME 110/09 –, Rn. 10, juris; jeweils m.w.N.). Der Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG umfasst das Recht auf ein familiäres Zusammenleben (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 1987 – 2 BvR 1226/83 u.a. –, BVerfGE 76, 1, 42). Er knüpft dabei nicht an bloße formalrechtliche familiäre Bindungen an. Entscheidend ist vielmehr die tatsächliche Verbundenheit zwischen den Familienmitgliedern, mithin eine tatsächlich bestehende familiäre Lebensgemeinschaft (vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 2. Februar 2011 – 8 ME 305/10 –, InfAuslR 2011, 151 m.w.N.). Art. 6 Abs. 1 GG schützt die Familie zunächst als tatsächliche Lebens- und Erziehungsgemeinschaft der Kinder und ihrer Eltern. Von einer solchen familiären Lebensgemeinschaft ist vorliegend auszugehen. Der Antragsteller kümmert sich offenbar seit der Geburt um das Kind. Er lebt seit seiner Einreise am 1. April 2021 zusammen mit seiner Ehefrau und nach der Geburt mit dem Kind in einer familiären Lebensgemeinschaft.
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Dieser beschriebenen verfassungsrechtlichen Pflicht des Staates zum Schutz der Familie entspricht ein Anspruch des Trägers des Grundrechts aus Art. 6 GG darauf, dass die zuständigen Behörden und Gerichte bei der Entscheidung über das Aufenthaltsbegehren seine familiären Bindungen an im Bundesgebiet lebende Personen angemessen berücksichtigen. Dabei ist grundsätzlich eine Betrachtung des Einzelfalles geboten, bei der auf der einen Seite die familiären Bindungen zu berücksichtigen sind, auf der anderen Seite aber auch die sonstigen Umstände des Einzelfalles (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 31. August 1999 – 2 BvR 1523/99 –, InfAuslR 2000, S. 67, 68; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 23. Januar 2006 – 2 BvR 1935/05 –, NVwZ 2006, 682, 683). Kann die bereits gelebte Lebensgemeinschaft zwischen einem Ausländer und seinem Kind nur in der Bundesrepublik Deutschland stattfinden, weil weder dem Kind noch seiner Mutter das Verlassen der Bundesrepublik Deutschland zumutbar ist (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 23. Januar 2006 – 2 BvR 1935/05 –, NVwZ 2006, S. 682 f.), so drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, einwanderungspolitische Belange regelmäßig zurück. Dies kann selbst dann gelten, wenn der Ausländer vor der Entstehung der zu schützenden Lebensgemeinschaft gegen aufenthaltsrechtliche Bestimmungen verstoßen hat (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 30. Januar 2002 – 2 BvR 231/00 –, InfAuslR 2002, S. 171 ff.; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 10. Mai 2008 – 2 BvR 588/08 –, InfAuslR 2008, S. 347, 348).
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Im Zuge dieser Verpflichtung der Ausländerbehörde ist bei aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen, die den Umgang mit einem Kind berühren, maßgeblich auch auf die Sicht des Kindes abzustellen und im Einzelfall zu untersuchen, ob tatsächlich eine persönliche Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist. Dabei sind die Belange des Elternteils und des Kindes im Einzelfall umfassend zu berücksichtigen. Dementsprechend ist im Einzelfall zu würdigen, in welcher Form die Elternverantwortung ausgeübt wird und welche Folgen eine endgültige oder vorübergehende Trennung für die gelebte Eltern-Kind-Beziehung und das Kindeswohl hätte. In diesem Zusammenhang ist davon auszugehen, dass der persönliche Kontakt des Kindes zu jedem Elternteil und der damit verbundene Aufbau und die Kontinuität emotionaler Bindungen zu Vater und Mutter in der Regel der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes dienen. Ein hohes, gegen eine Aufenthaltsbeendigung sprechendes Gewicht haben die Folgen einer Trennung insbesondere, wenn – wie vorliegend – ein noch sehr kleines Kind betroffen ist, das den nur vorübergehenden Charakter einer räumlichen Trennung nicht begreifen kann und diese rasch als endgültigen Verlust erfährt (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 23. Januar 2006 – 2 BvR 1935/05 –, juris).
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Es ist mit dem verfassungsrechtlichen Schutz von Ehe und Familie nach Art 6 GG aber grundsätzlich vereinbar, den Ausländer auf die Einholung eines erforderlichen Visums zu verweisen, wobei die Möglichkeit, im Einzelfall gemäß § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG hiervon abzusehen, dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genügt (BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 4. Dezember 2007 – 2 BvR 2341/06 –, juris). Das Visumverfahren ist von elementarer Bedeutung als Steuerungsinstrument für die Zuwanderung in das Bundesgebiet (BVerwG, Urteil vom 16. November 2010 – 1 C 17.09 –, BVerwGE 138, 122-135, Rn. 19).
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Dass der Ausländer ein kleines Kind hat, ist regelmäßig nicht als besonderer Umstand des Einzelfalls zu werten, der die Nachholung des Visumverfahrens schon allein deshalb unzumutbar macht, da es im Verantwortungsbereich des Ausländers liegt, die Ausreisemodalitäten und den Ausreisezeitpunkt in Absprache mit der zuständigen Ausländerbehörde so familienverträglich wie möglich zu gestalten. Allerdings muss die Dauer des Visumverfahrens absehbar sein. Dazu muss geklärt sein, ob die grundsätzliche Möglichkeit zum Familiennachzug besteht (VGH München, Beschluss vom 10. März 2021 – 10 CE 20.2030 –, Rn. 23 - 24, juris) und das Gericht muss konkret eine Vorstellung darüber entwickeln, welchen Trennungszeitraum es für zumutbar erachtet (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 5. Juni 2013 – 2 BvR 586/13 –, Rn. 14, juris).
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Unter Anlegung dieser Maßstäbe ist die durch die Nachholung des Visumverfahrens eintretende Trennung des Antragstellers von seiner Ehefrau und insbesondere seinem Kind jedenfalls für eine gewisse Zeit hinzunehmen; sie ist hier mit dem verfassungsrechtlich bzw. menschenrechtlich gebotenen Schutz von Ehe und insbesondere Familie im Sinne von Art. 6 GG und Art. 8 EMRK vereinbar, weil hinreichend sicher feststeht, dass die Trennung nicht einen etwa 3-4 Monate langen Zeitraum überschreiten muss.
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Dabei ist zu berücksichtigen, dass die schützenswerte Vater-Kind-Beziehung keine derartige zeitliche Unterbrechung erfahren darf, die zu einem vollständigen Verlust derselben führt. Gerade in dem hier gegebenen Kindesalter von weniger als einem Jahr ist der Aufbau einer Bindung angesichts der Entwicklung des Kindes von einem regelmäßigen persönlichen Kontakt des Kindes zu den Eltern abhängig. Der persönliche Kontakt zu der Mutter wäre offenbar weiterhin ununterbrochen gewährleistet, wenn sie sich hauptsächlich um das Kind kümmern sollte. Eine den Zeitraum von etwa 3 - 4 Monaten deutlich übersteigende Trennungszeit des Kindes von dem anderen Elternteil, hier dem Vater, dürfte im Sinne des Kindeswohls nicht mehr hinnehmbar sein. Wegen der bestehenden Bindungen des Kindes zur Mutter würden damit zwar nicht unbedingt seelische Schäden des Kindes drohen. Damit wäre jedoch die auch aus beruflichen Gründen bei anderen Paaren gelegentlich übliche Trennungszeit des anderen Elternteils überschritten und der andere Elternteil für einen wesentlichen Zeitraum von dem Kontakt zum Kind ausgeschlossen. Bei Kleinkindern von unter 3 Jahren, bei denen eine Trennungszeit von einem Elternteil von über 6 Monaten infrage steht und bei denen dadurch etwa ein halbes Jahr mehr als ein Sechstel des eigenen Lebens ausmachen würde, wäre mit der Nachholung des Visumsverfahrens zuzuwarten, bis das Kind dem Kleinkindalter entwachsen ist und ihm die Möglichkeit offensteht, den Kontakt zu der Bezugsperson anderweitig, etwa brieflich oder telefonisch, weiter aufrecht zu erhalten (vgl. OVG Bautzen, Beschluss vom 2. November 2012 – 3 B 199/12 –, Rn. 3, juris).
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Die Kammer kann offenlassen, ob der Antragsteller mit seiner Familie darauf verwiesen werden kann, die familiäre Gemeinschaft in Serbien zu leben oder ob es im Hinblick darauf, dass die Ehefrau bereits seit über 2 Jahren eine Aufenthaltserlaubnis besitzt und der Antragsteller deshalb die Voraussetzung des § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3d AufenthG für einen Familiennachzug erfüllen kann, ein solcher Verweis nicht zumutbar wäre. Denn die Nachholung des Visumverfahrens ist zumutbar, da dies nicht mit einer zu langen Trennung verbunden wäre. Dies ergibt sich aus Folgendem:
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Der Antragsteller könnte einen Termin bei der deutschen Botschaft in Belgrad auch schon online von Deutschland aus beantragen, um die Trennungszeit zu verkürzen. Es sind aktuell bei der deutschen Botschaft für einen Termin zur Beantragung eines Visums zur Familienzusammenführung im November noch viele Termine verfügbar (vgl. https://service2.diplo.de/rktermin/extern/choose_category.do?locationCode=belg&realmId=705&categoryId=2639 ). In der Regel beträgt die Bearbeitungszeit eines vollständig eingereichten Visumsantrags zwar nach den Angaben auf der Internetseite der Botschaft mindestens 3 Monate. Damit muss aber keine längerfristige Trennung des Antragstellers von der Familie, insbesondere von seinem Kind verbunden sein. Der Antragsgegner verweist insoweit nämlich zu Recht darauf, dass bis zur Erteilung des Visums die Möglichkeit von regelmäßigen Besuchen besteht. Damit kann eine längerfristige Trennung während des Visumverfahrens vermieden werden, sodass die Nachholung des Visumverfahrens nicht unzumutbar ist.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 2, § 63 Abs. 2 GKG.
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