Beschluss vom Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht (11. Kammer) - 11 B 67/22

Tenor

Der Antrag wird abgelehnt.

Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.

Der Wert des Streitgegenstands wird auf 5.000,00 € festgesetzt.

Gründe

I.

1

Der Antragsteller wendet sich im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes gegen eine ihm drohende Abschiebung.

2

Der am 2. Januar 1973 geborene Antragsteller ist türkischer Staatsangehöriger. Er reiste am 30. Oktober 1976 zum Zwecke der Familienzusammenführung in die Bundesrepublik Deutschland ein. Ab dem Jahr 1980 besuchte der Antragsteller die Schule. Aufgrund der mangelnden Sprachkenntnisse wechselte er auf eine Sonderschule, die er mit einem Schulabschluss verließ. Eine berufliche oder sonstige weitergehende Ausbildung absolvierte er in der Folgezeit nicht. Der Antragsteller ging im Anschluss an die Schulzeit auch keiner dauerhaften Erwerbstätigkeit nach. Bis zu seinem 16. Lebensjahr leitete der Antragsteller einen rechtmäßigen Aufenthalt von seinen Eltern ab. Im Jahr 1989 erhielt er erstmals eine befristete Aufenthaltserlaubnis. Der Antragsteller erhielt auch in der Folgezeit zunächst weiterhin befristete Aufenthaltserlaubnisse. Er beging in diesem Zeitraum wiederholt Straftaten, wobei entsprechende Ermahnungen, Weisungen und Verurteilungen durch die zuständigen Gerichte erfolgten. Unter anderem ist der Antragsteller zu einer Jugendstrafe verurteilt worden, weswegen er sich zeitweise in der Jugendanstalt befand. Am 11. August 1997 verurteilte das Landgericht xxx den Antragsteller wegen Mordes in zwei Fällen sowie wegen schwerer Brandstiftung zu einer lebenslangen Gesamtfreiheitsstrafe und stellte die besondere Schwere der Schuld fest. Das Urteil erwuchs im Jahr 1998 in Rechtskraft.

3

Mit Verfügung vom 18. Januar 2000 wies der Antragsgegner den Antragsteller aufgrund der abgeurteilten Straftaten nach § 47 Abs. 1 Nr. 1 des damaligen Ausländergesetzes mit unbefristeter Wirkung aus dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland aus und kündigte die Abschiebung in die Türkei an. Hiergegen gerichtete Rechtsbehelfe des Antragstellers blieben erfolglos.

4

Mit Beschluss vom 16. November 2021 setzte die zuständige Strafvollstreckungskammer des Landgerichts A-Stadt nach Einholung eines kriminologisch-psychologischen Prognosegutachtens die weitere Vollstreckung der lebenslangen Freiheitsstrafe ab dem 1. Juli 2022 zur Bewährung aus. Die Justizvollzugsanstalt teilte dem Antragsgegner sodann mit, dass der Antragsteller – aufgrund von anzurechnenden Tagen der Inhaftierung – am 27. April 2022 aus der Haft entlassen werden solle. Die Staatsanwaltschaft xxx setzte den Antragsgegner in der Folgezeit davon in Kenntnis, dass zwecks einer durch den Antragsgegner beabsichtigten Aufenthaltsbeendigung gemäß § 456a StPO von der weiteren Vollstreckung der lebenslangen Freiheitsstrafe ab dem 22. April 2022 abgesehen werde.

5

Mit Schreiben vom 18. Februar 2022 beantragte der Antragsteller bei dem Antragsgegner die Aufhebung der Ausweisungsverfügung aus dem Jahr 2000 und hilfsweise, das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf „null“ zu befristen. Die Ausweisungsverfügung sei rechtswidrig und aufzuheben. Der Antragsteller beantragte überdies, ihm eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 8 EMRK zu erteilen. Er habe einen Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels, da es sich bei ihm um einen faktischen Inländer handele.

6

Mit Bescheid vom 7. April 2022 lehnte der Antragsgegner den Antrag auf Aufhebung der Ausweisungsverfügung vom 18. Januar 2000 sowie den Antrag auf Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf „null“ ab (Ziffer 1 des Bescheides). Er sprach überdies aus, dass der Antragsteller weder erneut in das Bundesgebiet einreisen noch sich darin aufhalten dürfe und befristete die Wirkung des Einreise- und Aufenthaltsverbots gemäß § 11 Abs. 2 AufenthG auf fünf Jahre ab dem Zeitpunkt der Ausreise (Ziffer 2 des Bescheides). Der Antragsgegner drohte die Abschiebung unmittelbar aus der Haft ohne eine Fristsetzung in die Türkei oder einen anderen Staat, in welchen der Antragsteller einreisen dürfe oder der zu seiner Rücknahme verpflichtet oder bereit sei, an (Ziffer 3 des Bescheides). Der Antragsgegner führte aus, dass eine Aufhebung der Ausweisungsverfügung oder ein Wiederaufgreifen des Verfahrens mangels des Vorliegens der gesetzlichen Voraussetzungen nicht in Betracht komme.

7

Das Einreise- und Aufenthaltsverbot sei auch nicht gemäß § 11 Abs. 4 AufenthG auf „null“ zu reduzieren. Es lägen keine Belange vor, die eine Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots rechtfertigen könnten. Dem Antragsteller stehe insbesondere nicht deswegen eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG zu, weil er ein „faktischer Inländer“ sei. Die Gesamtwürdigung ergebe, dass der Antragsteller nicht zur Gruppe der in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Ausländer gehöre, die aufgrund ihrer gesamten Entwicklung faktisch zu einem Inländer geworden seien und wegen der Besonderheiten des Falles ein Leben im Staat ihrer Staatsangehörigkeit, zu dem sie keinen Bezug haben, nicht zuzumuten sei. Eine wirtschaftliche und gesellschaftliche Integration habe nicht stattgefunden. Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis scheitere auch an der bestandskräftigen Ausweisungsverfügung.

8

Die ausgesprochene Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbot solle die Begehung weiterer Straftaten durch den Antragsteller im Bundesgebiet verhindern. Hierzu sei es erforderlich, dass der Antragsteller mindestens fünf Jahre aus der Bundesrepublik Deutschland fernbleibe. Es bestehe auch weiterhin die Gefahr einer erneuten Straffälligkeit.

9

Der Antragsteller erhob gegen den vorgenannten Bescheid mit Schreiben vom 14. April 2022 Widerspruch, über den noch nicht entschieden wurde.

10

Der Antragsteller hat zudem am 14. April 2022 beim Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgericht um einstweiligen Rechtsschutz nachgesucht.

11

Zur Begründung verweist er fortgesetzt darauf, dass er einen Anspruch auf die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 8 EMRK habe. Es handele sich bei ihm um einen faktischen Inländer. Er sei im Alter von drei Jahren als Sohn einer Gastarbeiterfamilie in die Bundesrepublik gezogen und habe hier sein gesamtes weiteres Leben verbracht. Es sei nicht entscheidend, dass er die längste Zeit seines Aufenthalts in der Bundesrepublik in Strafhaft verbracht habe. Es müssten mit Blick auf Art. 8 EMRK und den Resozialisierungsgedanken der Strafhaft alle integrativen und die Verwurzelung in Deutschland vorantreibenden Elemente und Leistungen in den Blick genommen werden, gleich ob diese innerhalb oder außerhalb der Justizvollzugsanstalt stattgefunden hätten. Der Resozialisierungsgedanke der Strafhaft bedinge, dass zumindest bei einer derart langen Haftstrafe wie bei dem Antragsteller eine von Art. 8 EMRK geschützte Position erlangt werde und eine Integration und Verwurzelung in die herrschenden Verhältnisse der Bundesrepublik angenommen werden müsse. Der Umstand, dass der Antragsteller ausgewiesen worden sei und sich nicht legal in der Bundesrepublik aufgehalten habe, stehe dem im Übrigen nicht entgegen.

12

Der Antragsteller habe sich in der Haft beanstandungsfrei geführt und sei straffrei geblieben. Er habe sich in der Strafhaft auch wirtschaftlich in die herrschenden Verhältnisse integrieren können. Er sei die längste Zeit berufstätig gewesen und habe alle Schulden begleichen können. Er habe sich zum „Fahrzeugpfleger“ ausbilden lassen und könne auch außerhalb der Strafhaft nahtlos in diesem Bereich weiterarbeiten. Es bestünden persönliche und soziale Kontakte und Beziehungen des Antragstellers im Bundesgebiet. Die Familie habe zugesichert, dass er nach der Entlassung bei dieser wohnen könne. Das Umfeld der Familie wirke integrativ und stabilisierend auf den Antragsteller, weswegen dieser in absehbarer Zeit vollständig in der Freiheit und deutschen Gesellschaft „ankommen“ könne.

13

Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG verpflichtete den Staat im Übrigen, den Strafvollzug darauf auszurichten, dem Inhaftierten ein zukünftig straffreies Leben in Freiheit zu ermöglichen. Ein Leben in Freiheit sei dem Antragsteller aufgrund der umfänglichen Sozialisierung nur in die Verhältnisse der Bundesrepublik möglich. Die Resozialisierungsprogramme seien auf die Eingliederung in die hiesige Gesellschaft ausgerichtet. Eine mögliche Resozialisierung in die Verhältnisse von Drittstaaten sei aufgrund der Resozialisierungsmaßnahmen in der Strafhaft im Bundesgebiet stark erschwert oder unmöglich. Die Resozialisierung würde in der Bundesrepublik durch flankierende Maßnahmen unterstützt. Es existierten keine Beziehungen des Antragstellers zur Türkei, lediglich das formale Band der Staatsangehörigkeit.

14

Der Antragsteller habe zudem einen Anspruch auf Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots von fünf Jahren, hilfsweise auf Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes auf „null“.

15

Der Antragsteller beantragt,

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1. den Antragsgegner zu verpflichten, bis zur rechtskräftigen Entscheidung über den Antrag vom 18. Februar 2022 Abschiebemaßnahmen zu unterlassen sowie

17

2. den Antragsgegner zu verpflichten, Abschiebemaßnahmen bis zur Entscheidung des Gerichts im vorliegenden Eilverfahren zu unterlassen.

18

Der Antragsgegner beantragt sinngemäß,

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den Antrag abzulehnen.

20

Zur Begründung verweist er im Wesentlichen auf die Ausführungen in dem Bescheid vom 7. April 2022. Ergänzend verweist er darauf, dass der Staat zwar verpflichtet sei, den Strafvollzug darauf auszurichten, dem Inhaftierten ein zukünftig straffreies Leben in Freiheit zu ermöglichen. Hieraus ergebe sich jedoch nicht, dass die „Lebenstüchtigkeit“ ausschließlich im Bundesgebiet zu gewährleisten sei.

21

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen.

II.

22

Der Antrag zu 1. ist als Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO statthaft und auch sonst zulässig, aber unbegründet.

23

Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung des Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. § 123 Abs. 1 VwGO setzt daher sowohl ein Bedürfnis für die Inanspruchnahme vorläufigen Rechtsschutzes (Anordnungsgrund) als auch einen sicherungsfähigen Anspruch (Anordnungsanspruch) voraus. Die tatsächlichen Voraussetzungen für die besondere Eilbedürftigkeit (Anordnungsgrund) und das Bestehen eines zu sichernden Rechts (Anordnungsanspruch) sind glaubhaft zu machen, § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO.

24

Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Der Antragsteller hat keinen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht.

25

Dem Antragsteller steht insbesondere kein sicherungsfähiger Anspruch aus § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG zur Seite. Danach kann einem Ausländer, der vollziehbar ausreisepflichtig ist, eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn seine Ausreise aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist und mit dem Wegfall der Ausreisehindernisse in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist. Da der Anspruch nach § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG nur aus dem Inland geltend gemacht werden kann, ist er im Verfahren nach § 123 Abs. 1 VwGO grundsätzlich sicherungsfähig (vgl. OVG Schleswig, Beschl. v. 03.01.2022 – 4 MB 68/21 –, juris Rn. 9).

26

Anders als der Antragsteller meint, steht sein langjähriger Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland einer Ausreise jedoch nicht entgegen. Die Frage, ob das Institut des „faktischen Inländers“ gemäß Art. 8 EMRK überhaupt eine rechtliche Unmöglichkeit im Sinne des § 25 Abs. 5 AufenthG begründen kann (vgl. dazu VGH Kassel, Urt. v. 07.07.2006 – 7 UE 509/06 –, juris Rn. 52 ff.; OVG Lüneburg, Beschl. v. 17.08.2020 – 8 ME 60/20 –, juris Rn. 65), kann offenbleiben, da der Antragsteller bereits kein faktischer Inländer ist.

27

Ob ein Ausländer sein Privatleben faktisch nur noch im Aufenthaltsstaat führen kann, hängt zum einen von seiner Integration in der Bundesrepublik Deutschland (Dimension „Verwurzelung“) und zum anderen von der Möglichkeit zur (Re-)Integration in seinem Heimatland (Dimension „Entwurzelung“) ab. Gesichtspunkte für die Integration des Ausländers in Deutschland sind dabei eine zumindest mehrjährige Dauer des Aufenthalts in Deutschland, gute deutsche Sprachkenntnisse und eine soziale Eingebundenheit in die hiesigen Lebensverhältnisse, wie sie etwa in der Innehabung eines Arbeits- oder Ausbildungsplatzes, in einem festen Wohnsitz, ausreichenden Mitteln, um den Lebensunterhalt einschließlich ausreichenden Krankenversicherungsschutzes ohne die Inanspruchnahme öffentlicher Mittel bestreiten zu können, und fehlender Straffälligkeit zum Ausdruck kommt. Eine nach Art. 8 EMRK schutzwürdige Verwurzelung im Bundesgebiet kann dabei aber grundsätzlich nur während Zeiten entstehen, in denen der Ausländer sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat (OVG Lüneburg, Beschl. v. 17.08.2020 – 8 ME 60/20 –, juris Rn. 65, m.w.N.; VG Schleswig, Beschl. v. 04.08.2017 – 1 B 74/17 –, juris Rn. 45).

28

Diese Voraussetzungen erfüllt der Antragsteller nicht. Zwar ist insoweit zu berücksichtigen, dass der Antragsteller bereits im Alter von drei Jahren zum Zwecke der Familienzusammenführung in die Bundesrepublik Deutschland eingereist ist und sich seit mittlerweile 46 Jahren und somit über einen beachtlichen Zeitraum im Bundesgebiet aufhält. Der Antragsteller hat, bedingt durch die Einreise als Kleinkind, auch einen wesentlichen Teil seiner Sozialisation in der Bundesrepublik Deutschland erfahren. Ausweislich des Bescheides des Antragsgegners vom 7. April 2022 lebt zudem die Kernfamilie des Antragstellers, in Gestalt seiner Mutter und seiner Geschwister und deren Familien, in der Bundesrepublik Deutschland.

29

Demgegenüber ist gleichwohl zu berücksichtigen, dass es dem Antragsteller trotz seines langjährigen Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland nicht gelungen ist, sich nachhaltig in die hiesigen gesellschaftlichen, rechtlichen und wirtschaftlichen Lebensverhältnisse zu integrieren.

30

Dem Antragsteller ist es insbesondere offenkundig nicht gelungen, sich nachhaltig in die Rechts- und Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik Deutschland zu integrieren. Er hat während seines hiesigen Aufenthalts eine Vielzahl von Straftaten verübt und hierdurch seine beharrliche Missachtung der Rechtsordnung offenbart (vgl. Bl. 177 ff. der Verwaltungsakte: Richterliche Ermahnung wegen Diebstahls in einem besonders schwerem Fall sowie gemeinschaftlicher Diebstahl geringwertiger Sachen im Jahr 1991; Richterliche Ermahnung wegen Unterschlagung im Jahr 1991; Richterliche Verwarnung sowie Erteilung einer richterlichen Weisung wegen Diebstahls geringwertiger Sachen und gemeinschaftlichen schweren Diebstahls im Jahr 1991; Verurteilung wegen räuberischer Erpressung mit Waffen sowie zweier Diebstähle im Jahr 1992; Verurteilung wegen einer schweren räuberischen Erpressung sowie vorsätzlicher Körperverletzung im Jahr 1993; Verurteilung wegen vorsätzlicher Trunkenheit im Verkehr sowie Verurteilung wegen Bedrohung und Beleidigung in Tateinheit mit Sachbeschädigung und vorsätzlicher Körperverletzung, jeweils im Jahr 1996). Selbst durch einen Aufenthalt in der Jungendanstalt konnte er nicht zu einem rechtstreuen Verhalten angehalten werden. Er ist vielmehr im Jahr 1997 aufgrund der Begehung schwerster Straftaten in Gestalt zweier Morde (vgl. § 211 StGB) sowie wegen schwerer Brandstiftung (vgl. § 306a StGB) unter Feststellung der besonderen Schwere der Schuld zu einer lebenslangen (Gesamt-)Freiheitsstrafe verurteilt worden. Die zumindest weitgehend (vgl. näher hierzu kriminologisch-psychologisches Prognosegutachten vom 12. Juli 2021, S. 7 des Gutachtensabdrucks) beanstandungsfreie Führung während der besonderen – schützenden und ordnenden – Bedingungen der Haftzeit, welche bereits kaum Gelegenheit zur erneuten Straffälligkeit darbieten, lässt den notwendigen Einstellungswandel und eine nachhaltige Integration des Antragstellers in den Rechtsrahmen der Bundesrepublik Deutschland demgegenüber allenfalls ansatzweise erkennen.

31

Eine nachhaltige Integration in die gesellschaftlichen Verhältnisse der Bundesrepublik Deutschland ist auch nicht aufgrund etwaiger Resozialisierungsmaßnahmen ersichtlich, an welchen der Antragsteller teilgenommen hat oder beabsichtigt teilzunehmen. Der Antragsteller hat bereits nicht weiter substantiiert, welche konkreten Resozialisierungsmaßnahmen in welcher Art und Weise zu einer Verwurzelung in die hiesigen gesellschaftlichen Verhältnisse geführt hätten. Vor diesem Hintergrund ist auch nicht ersichtlich, dass bereits erreichte Resozialisierungserfolge durch eine Rückkehr in die Türkei zunichtegemacht würden. Das Aufenthaltsrecht dient im Übrigen nicht der Resozialisierung des Antragstellers.

32

Auch eine nachhaltige wirtschaftliche Integration in der Bundesrepublik Deutschland ist schließlich weder hinreichend dargelegt noch sonst ersichtlich. Der Antragsteller besuchte vor seiner Inhaftierung in der Bundesrepublik Deutschland zwar eine Sonderschule und schloss diese offenbar mit einem Schulabschluss ab (vgl. Bl. 177 der Verwaltungsakte). Er absolvierte – soweit dies für die Kammer ersichtlich ist – vor seiner Inhaftierung jedoch weder eine berufliche Ausbildung oder sonstige berufliche Qualifikationsmaßnahme noch ging er einer dauerhaften, seinen Lebensunterhalt sichernden Erwerbstätigkeit nach. Nichts anderes folgt auch daraus, dass der Antragsteller ausweislich der vorgelegten Unterlagen während seiner Inhaftierung sog. Qualifizierungen absolvierte, unter anderem als Fahrzeugpflegehelfer und in der Justizvollzugsanstalt verschiedenen vergüteten Tätigkeiten nachging. In der Kfz-Lehrwerkstatt der Justizvollzugsanstalt ist er etwa mehrjährig eingesetzt worden und auch als sog. Vorarbeiter tätig gewesen. Eine nachhaltige wirtschaftliche Integration kann hieraus jedoch bereits deswegen nicht hergeleitet werden, weil diese Tätigkeit von vorneherein auf die Haftzeit beschränkt und nach allen erkennbaren Umständen nicht zur vollumfänglichen Sicherung des Lebensunterhalts geeignet waren. Gegenteiliges folgt auch nicht aus dem Vortrag des Antragstellers dazu, dass er seine Tätigkeit im Bereich der Fahrzeugpflege im Anschluss an die Entlassung aus der Haft „nahtlos“ fortsetzen könne. Eine nachhaltige wirtschaftliche Integration in die hiesigen Verhältnisse oder eine gesicherte Erwartung einer derartigen Integration lassen sich aus dem diesbezüglichen Vortrag im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht herleiten. Dem Antragsteller ist ausweislich eines Schreibens des TÜV xxx vom 18. Februar 2022 bislang lediglich mündlich durch ein Unternehmen in xxx ein Praktikum mit einer möglichen Übernahmemöglichkeit angedient worden.

33

Insgesamt spricht für eine Annahme, dass es sich bei dem Antragsteller um einen faktischen Inländer handele, im Wesentlichen sein langjähriger Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland, was jedoch nicht ausreicht, um eine hinreichende Verwurzelung bei summarischer Prüfung annehmen zu können. Aus dem langjährigen Aufenthalt kann vor dem Hintergrund der vorstehenden Ausführungen zum Werdegang des Antragstellers und seiner Lebenssituation keine den angeführten Maßgaben entsprechende Verwurzelung in der Bundesrepublik Deutschland festgestellt werden.

34

Dem Antragsteller ist es auch zumutbar, im Land seiner Staatsangehörigkeit zu leben. Es ist anzunehmen, dass dem Antragsteller durch seine Sozialisation im türkischstämmigen Elternhaus die heimatstaatlichen Lebensverhältnisse und die türkische Sprache nähergebracht wurden. Ausweislich des kriminologisch-psychologischen Prognosegutachtens vom 12. Juli 2021 führt der Antragsteller Gespräche mit seinen Familienangehörigen in türkischer Sprache. Von einer bloßen Verbindung des Antragstellers zur Türkei durch die türkische Staatsangehörigkeit kann demzufolge keine Rede sein. Selbst wenn verwandtschaftliche Beziehungen im Herkunftsstaat fehlen sollten, wäre dies bei Volljährigen – wie dem Antragsteller – kein Umstand, aus dem sich die Unzumutbarkeit der Rückkehr ableiten ließe (vgl. VGH München, Beschl. v. 10.01.2022 – 19 ZB 21.2053 –, juris Rn. 33; OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 27.02.2018 – OVG 3 B 11.16 – juris Rn. 46). Anhaltspunkte dafür, dass die Eingewöhnung in der Türkei, der Aufbau eines Privatlebens und die Eingliederung in das Wirtschaftsleben für den im erwerbsfähigen Alter befindlichen, gesunden, ledigen und kinderlosen Antragsteller, auch vor dem Hintergrund seines in der Bundesrepublik Deutschland erworbenen Schulabschlusses sowie der beruflichen Qualifizierungsmaßnahmen, unmöglich oder unzumutbar sein könnten, sind nicht ersichtlich. Lediglich ergänzend ist insoweit anzumerken, dass der Antragsgegner in dem Bescheid vom 7. April 2022 zutreffend darauf verweist, dass der Antragsteller auch in der Bundesrepublik Deutschland nach einer Entlassung aus der Justizvollzugsanstalt aufgrund der langjährigen Inhaftierung nicht in vertraute Verhältnisse und etablierte Strukturen zurückkehren würde.

35

Auf die Frage, ob auch § 11 Abs. 1 AufenthG – aufgrund der bestandskräftigen Ausweisung des Antragstellers – der Erteilung der beantragten Aufenthaltserlaubnis entgegensteht, kommt es angesichts des mangelnden Vorliegens der Voraussetzungen des § 25 Abs. 5 AufenthG nicht weiter an.

36

Soweit der Antragsteller schließlich darauf verweist, dass jenes vom Antragsgegner im Bescheid vom 7. April 2022 auf fünf Jahre befristete Einreise- und Aufenthaltsverbot (Verfügungsziffer 2) aufzuheben sei, vermag dies dem Antrag nicht zum Erfolg zu verhelfen. Zwar kann vorläufiger Rechtsschutz gegen eine Befristungsentscheidung (mit dem Ziel der Verkürzung der Wiedereinreise- und Aufenthaltssperre) grundsätzlich durch eine Regelungsanordnung im Verfahren nach § 123 Abs. 1 VwGO erlangt werden. Ein solcher Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 123 Abs. 1 VwGO wurde im vorliegenden Fall in Bezug auf die Befristungsentscheidung jedoch nicht gestellt und ist hier auch nicht im Wege der Auslegung nach § 122 Abs. 1, § 88 VwGO zu ermitteln. Denn dem Antragsteller geht es – jedenfalls im vorläufigen Rechtsschutz – ersichtlich darum, gar nicht erst aus dem Bundesgebiet ausreisen zu müssen und nicht (lediglich) darum, innerhalb einer kürzeren Frist oder unmittelbar wieder einreisen zu dürfen. Dementsprechend bezieht sich auch der von dem Antragsteller gestellte Antrag ausschließlich darauf, dem Antragsgegner einstweilen aufenthaltsbeendende Maßnahmen zu untersagen. Selbst wenn man jedoch unterstellt, dass der Antragsteller gegenüber der Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots selbstständig vorläufigen Rechtsschutz nachsuchen wollte, wäre ein derartiger Antrag aufgrund der mangelnden Glaubhaftmachung eines Anordnungsgrundes jedenfalls unbegründet. Der Antragsteller hat weder dazu vorgetragen noch ist sonst ersichtlich, dass er nach einer erfolgten Abschiebung in die Türkei oder einen sonstigen aufnahmebereiten Staat konkret absehbar eine Wiedereinreise in die Bundesrepublik Deutschland plant (vgl. hierzu VG Sigmaringen, Beschl. v. 21.10.2016 – A 3 K 3105/16 –, juris Rn. 22).

37

Durch die Entscheidung über den Eilantrag hat sich der auf den Erlass einer Zwischenverfügung zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes (sog. „Hängebeschluss“) gerichtete Antrag zu 2. erledigt (vgl. VG München, Beschl. v. 30.09.2021 – M 9 SN 21.4956 –, juris Rn. 25 m.V.a. VGH München, Beschl. v. 09.12.2016 – 15 CS 16.1417 –, juris Rn. 23).

38

Nach alledem war der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes insgesamt mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzulehnen. Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 52 Abs. 2, § 53 Abs. 2 Nr. 1 GKG.


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