Beschluss vom Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht (11. Kammer) - 11 B 13/22

Tenor

Der Antrag wird abgelehnt.

Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.

Der Streitwert wird auf 10.000,00 Euro festgesetzt.

Gründe

I.

1

Der 43-jährige Antragsteller ist türkischer Staatsangehöriger. Er reiste am 04.02.2004 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Aufgrund der Eheschließung mit einer deutschen Staatsangehörigen erhielt er zunächst eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 28 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG. Nach der Ehescheidung am 27.11.2012 erhielt er zunächst eine Aufenthaltserlaubnis nach § 31 Abs. 1 AufenthG, die mehrfach verlängert wurde, zuletzt am 14.02.2019, gültig bis zum 13.02.2021.

2

Für den Antragsteller wurde im Februar 2016 wegen einer psychischen Erkrankung eine Betreuung eingerichtet, die unter anderem die Aufenthaltsbestimmung einschließlich der Unterbringung in einer geschlossenen Abteilung, Gesundheitsfürsorge, Vertretung gegenüber Behörden, Versicherungen, Renten- und Sozialleistungsträgern umfasst.

3

Mit Strafbefehl vom 03.02.2017 wurde der Antragsteller vom Amtsgericht A-Stadt wegen exhibitionistischer Handlungen (Tatzeit am 30.06.2015) zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen verurteilt. Mit Strafbefehl vom 11.12.2017 wurde er vom Amtsgericht xxx wegen Diebstahls zu einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen verurteilt.

4

Mit Schreiben vom 19.07.2018 richtete sich die Antragsgegnerin an den Betreuer des Antragstellers und sprach wegen der Verurteilungen zu insgesamt 70 Tagessätzen eine Verwarnung aus mit dem Hinweis, es werde zunächst von einer Ausweisung bzw. der Ablehnung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis abgesehen.

5

Ein Strafverfahren wegen Sachbeschädigung (Tatzeit 31.12.2020) wurde am 18.03.2021 nach § 170 Abs. 2 StPO von der Staatsanwaltschaft A-Stadt eingestellt. Ein weiteres Strafverfahren wegen Diebstahls und Beleidigung wurde vom Amtsgericht A-Stadt am 28.09.2021 gemäß § 153 Abs. 2 StPO eingestellt.

6

Mit Bescheid vom 20.12.2021 teilte die Deutsche Rentenversicherung dem Antragsteller mit, dass seine mit Bescheid vom 27.09.2013 gewährte Rente in Höhe von derzeit 74,60 Euro wegen voller Erwerbsminderung als Dauerrente bis längstens zum 28.02.2046 weiter gewährt werde.

7

Die Antragsgegnerin lehnte schließlich die am 11.03.2021 beantragte Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis nach § 31 Abs. 1 AufenthG nach vorheriger Anhörung des Antragstellers mit Bescheid vom 20.12.2021 ab (Ziffer 1). Ihm wurde eine Ausreisefrist von einem Monat nach Zustellung des Bescheides gesetzt (Ziffer 2) und für den Fall der nicht freiwilligen Ausreise die Abschiebung in die Türkei oder einen anderen Staat angedroht, in den er einreisen dürfe und der zur Rücknahme verpflichtet sei (Ziffer 3). Zur Begründung hieß es, der Antragsteller sei nicht in der Lage, seinen Lebensunterhalt zu sichern. Er sei zwar erwerbsgemindert, es sei aber nicht ausgeschlossen, dass die volle Erwerbsfähigkeit wiederhergestellt werden könne. Des Weiteren sei der Antragsteller in den vergangenen Jahren immer wieder strafrechtlich in Erscheinung getreten, unter anderem wegen Diebstahls und exhibitionistischer Handlungen. Die im Rahmen der Anhörung hierfür abgegebene Begründung der psychischen Erkrankung sei nicht erheblich, da Verurteilungen vorliegen würden und somit eine Schuldunfähigkeit offenbar nicht vorgelegen habe. Die Ausreisefrist von einem Monat sei angemessen, da keine Umstände ersichtlich oder vorgetragen seien, die eine längere Fristsetzung hätten rechtfertigen können.

8

Mit Schreiben vom 13.01.2022 legte der Antragsteller Widerspruch gegen den Bescheid ein, über den noch nicht entschieden wurde, unter anderem mit der Begründung, die den Strafbefehlen zugrundeliegenden Straftaten seien im Zustand der Schuldunfähigkeit begangen worden. Diese sei allerdings im Strafbefehlsverfahren nicht geprüft worden. Mit Ausnahme der beiden Strafbefehle seien alle Vorwürfe aufgrund von Schuldunfähigkeit eingestellt worden. Der Antragsteller befinde sich seit vielen Jahren in psychischer/psychotherapeutischer Behandlung und sei u. a. wegen einer paranoiden Schizophrenie in stationärer Behandlung gewesen. Im Falle einer Abschiebung würde eine aktuelle Substitutionsbehandlung abgebrochen werden, da eine derartige Therapie in der Türkei nicht existiere. Daraus resultiere eine erhebliche Gesundheitsgefährdung für den Antragsteller.

9

Mit Entscheidung vom 08.09.2021 stellte die Antragsgegnerin dem Antragsteller eine Fiktionsbescheinigung, gültig bis zum 07.03.2022, aus.

10

Der Antragsteller hat am 25.01.2022 um vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht.

11

Er trägt im Wesentlichen vor, aufgrund seiner krankheitsbedingten Erwerbsunfähigkeit liege weder ein Missbrauch der Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen im Sinne des § 31 Abs. 2 Satz 4 AufenthG vor, noch habe er die Inanspruchnahme anderweitig zu vertreten. Aus dem Versicherungsverlauf der Deutschen Rentenversicherung ergebe sich, dass er in den ersten Jahren seines Aufenthalts erwerbstätig gewesen sei und daher auch einen Rentenanspruch erworben habe. Ihm könne nicht vorgehalten werden, selbst ursächlich für die Inanspruchnahme von Sozialhilfe gewesen zu sein. Diese Umstände seien bei der Verlängerung des Aufenthalts gemäß § 31 Abs. 4 Satz 2 AufenthG zu berücksichtigen, da es sich hierbei um eine Ermessensentscheidung handele. Den allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des § 5 AufenthG dürfe dabei kein unangemessenes Gewicht beigemessen werden, da dies anderenfalls im Widerspruch zu der Ermessensentscheidung des § 31 Abs. 4 AufenthG stünde. Es sei atypisch und unverhältnismäßig, wenn er nach seiner Erkrankung, die zur Erwerbsunfähigkeit geführt habe, seinen Aufenthaltsanspruch verlieren solle. Eine Ermessensabwägung durch die Antragsgegnerin habe nicht stattgefunden.

12

Bei dem Strafbefehl vom 03.02.2017 handele es sich um eine Tat vom 30.06.2015, die bei einer normalen Bearbeitung längst tilgungsreif sei. Die lange Bearbeitungsdauer der Staatsanwaltschaft könne nicht zu Lasten des Antragstellers gehen. Unabhängig davon werde dieser Strafbefehl gemäß § 46 Abs. 1 Nr. 1 BZRG am 03.02.2022 getilgt sein.

13

Es sei auch nicht nachvollziehbar, dass die Antragsgegnerin in Kenntnis der strafrechtlichen Verurteilungen dem Antragsteller noch am 14.02.2019 eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 31 Abs. 1 AufenthG erteile, die Verlängerung nunmehr aber unter Berufung auf die Verurteilungen ablehne.

14

Zudem habe der Antragsteller im Falle einer Abschiebung in die Türkei mit einer erheblichen Gesundheitsverschlechterung zu rechnen. Wie sich aus dem aktuellen ärztlichen Attest vom 14.01.2022 der xxx Fachambulanz ergebe, erfordere die Schizophrenie eine immer wieder angepasste medikamentöse Behandlung; die Suchterkrankung müsse aktuell mit Polamidon substituiert werden.

15

Der Antragsteller legte einen vorläufigen Entlassungsbrief des Zentrums für Integrative Psychiatrie (ZIP) in A-Stadt vom 01.11.2021 vor. Danach bestehen bei ihm eine paranoide Schizophrenie (F20.0) sowie psychische und Verhaltensstörungen durch multiplen Substanzgebrauch und Konsum psychotroper Substanzen: Abhängigkeitssyndrom (F19.2.). Eine Behandlung sei zunächst mit Olanzapin und Tavor, später mit Rivotril sowie L-Polamidon erfolgt. Ausweislich des Attestes befand er sich vom 16.09.2021 bis zum 01.11.2021 in stationärer Behandlung und wurde mit der Medikation Fluanxol sowie L-Polamidon entlassen. Außerdem legte er ein ärztliches Attest vom 14.01.2022 der xxx Fachambulanz in A-Stadt vor. Dieses bestätigt die Diagnosen, ergänzt um eine Opiatabhängigkeit (F11.2) sowie Störungen durch Kokain (schädlicher Gebrauch (F14.1)) und eine Opiatsubstitution. Der Antragsteller sei seit dem 11.02.2020 wegen einer Opiatabhängigkeit in der dortigen substitutionsgestützten Behandlung. Die Erkrankung verschlechtere sich durch die begleitende Drogenabhängigkeit von verschiedenen Substanzen. In diesen Phasen werde er durch akustische und optische Halluzinationen beeinträchtigt, sein Gedankengang sei ungeordnet, zerfahren und es könne zu Fehlhandlungen im Alltag kommen. Der Antragsteller habe in der Vergangenheit den Konsum legaler und illegaler Substanzen als Selbsttherapie eingesetzt und es sei zu erwarten, dass er dies auch im Falle der Ausreise tun werde. Der Drogenkonsum führe mit hoher Wahrscheinlichkeit erneut zu einer Verschlechterung seiner Schizophrenie, was in den letzten Jahren zu stationären Krankenhausaufenthalten geführt habe. Aus ärztlicher Sicht sei eine medizinische Behandlung bei der schweren psychiatrisch komorbiden Erkrankung dauerhaft erforderlich; die bestehende Schizophrenie erfordere eine immer wieder angepasste medikamentöse Behandlung, so wie die Sucherkrankung aktuell eine Substitution mit Polamidon erforderlich mache. Eine Reisefähigkeit sei gegeben, da der Antragsteller seine Medikamente einnehme und psychisch stabil eingestellt sei. Bei einer Ausreise sei er mit ausreichend Medikation zu versorgen und auch im Zielland sollte für eine weitere Betreuung gesorgt sein. Es sei erforderlich, dass eine psychische Weiterbehandlung bezüglich Psychose und Suchterkrankung sowie eine weitere Substitution im Zielland gegeben sei.

16

Der Antragsteller beantragt,

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die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 13.01.2022 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 20.12.2021 anzuordnen,

18

die Antragsgegnerin anzuweisen, bis zu einer Entscheidung über den vorliegenden Antrag von Vollzugsmaßnahmen abzusehen,

19

dem Antragsteller Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Frau Rechtsanwältin B., A-Stadt, zu bewilligen.

20

Die Antragsgegnerin beantragt,

21

die Anträge abzulehnen.

22

Sie führt zur Begründung aus, ein Anspruch auf eine Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis nach § 31 Abs. 1 AufenthG scheide schon deshalb aus, weil die zuletzt erteilte ehegattenbezogene Aufenthaltserlaubnis des Antragstellers mit dem 02.09.2012 ausgelaufen sei. Der Anspruch bestehe nur in dem Jahr unmittelbar nach Ablauf der ehebezogenen Aufenthaltserlaubnis. Nach Aufhebung der ehelichen Lebensgemeinschaft sei die Aufenthaltserlaubnis noch bis zum 23.05.2013 verlängert worden. Für eine weitere Verlängerung komme allenfalls § 31 Abs. 4 Satz 2 AufenthG in Betracht. Allerdings seien die Voraussetzungen des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG, wonach der Lebensunterhalt regelmäßig gesichert sein müsse, nicht erfüllt. Der Antragsteller bestreite seinen Lebensunterhalt im Wesentlichen aus öffentlichen Mitteln im Sinne von § 2 Abs. 3 Satz 1 AufenthG, nämlich mit Leistungen nach dem SGB XII. Daran werde sich auf absehbare Zeit nichts ändern, da er krankheitsbedingt nicht in der Lage sei, eine Erwerbstätigkeit auszuüben. Dies werde durch die Bewilligung der Rente wegen voller Erwerbsminderung bestätigt. Es komme nicht darauf an, ob der Antragsteller die Inanspruchnahme der öffentlichen Mittel zu vertreten habe. Die Erkrankung könne allenfalls einen atypischen Ausnahmefall vom Regelerfordernis begründen, wenn sich der Antragsteller in einer Sondersituation befinden würde. Dies sei aber nicht der Fall. Die dauerhafte Erkrankung reiche nicht aus. Der Antragsteller habe auch keine familiären Bindungen im Bundesgebiet, so dass Art. 6 GG nicht einschlägig sei. Er sei überdies wiederholt straffällig geworden. Er sei daher weder wirtschaftlich noch sozial derart gut integriert, dass ihm ein Leben im Heimatland nicht mehr zugemutet werden könne; er sei erst im Alter von 25 Jahren nach Deutschland gekommen, so dass er eine Reintegration in der Türkei bewältigen könne. Atypische Umstände nach Art. 8 EMRK lägen damit nicht vor. Da er keinen Aufenthaltstitel besitze und ein Aufenthaltsrecht nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei bei dauernder Erwerbsunfähigkeit nicht oder nicht mehr bestehe, sei er auch gemäß § 50 Abs. 1 AufenthG ausreisepflichtig.

23

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge verwiesen.

II.

24

Das Gericht legt das vorläufige Rechtsschutzbegehren des Antragstellers zunächst dahingehend aus, dass dieser neben seinem Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen die Ablehnung des Antrags auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis mit Bescheid vom 20.12.2021 hilfsweise die Verpflichtung der Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO erstrebt, ihn vorläufig nicht abzuschieben und ihm auch weiterhin eine Duldung zu erteilen.

25

Nach §§ 88, 122 Abs. 1 VwGO darf das Gericht über das Antragsbegehren nicht hinausgehen, ist aber an die Fassung der Anträge nicht gebunden Das Gericht hat grundsätzlich das im Antrag und im gesamten Antragsvorbringen zum Ausdruck kommende Rechtsschutzziel zu ermitteln und seiner Entscheidung zugrunde zu legen. Bei der Ermittlung des Willens des Rechtsuchenden ist nach anerkannter Auslegungsregel zu dessen Gunsten davon auszugehen, dass er denjenigen Rechtsbehelf einlegen will, der nach Lage der Sache seinen Belangen entspricht und eingelegt werden muss, um den erkennbar angestrebten Erfolg zu erreichen (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.04.1990 – 8 C 70.88 –, juris, Rn. 23). Neben dem Antrag und der Begründung ist auch die Interessenlage zu berücksichtigen, soweit sie sich aus dem Parteivortrag und sonstigen erkennbaren Umständen ergibt (BVerwG, Beschluss vom 13.01.2012 – 9 B 56.11 –, juris, Rn. 7). Ist der Rechtsschutzsuchende bei der Fassung des Antrages anwaltlich vertreten worden, kommt zwar der Antragsformulierung gesteigerte Bedeutung für die Ermittlung des tatsächlich Gewollten zu. Selbst dann darf die Auslegung jedoch vom Antragswortlaut abweichen, wenn die Begründung, die beigefügten Bescheide oder sonstige Umstände eindeutig erkennen lassen, dass das wirkliche Ziel von der Antragsfassung abweicht (vgl. BVerwG, Beschluss vom 13.01.2012 – 9 B 56.11 –, juris, Rn. 8).

26

Das Rechtsschutzziel des Antragstellers liegt hier erkennbar darin, während der Dauer seines Verwaltungsverfahrens zur Erlangung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 31 Abs. 4 Satz 2 AufenthG von Vollzugsmaßnahmen der Antragsgegnerin, namentlich einer Abschiebung, verschont zu bleiben. Dies ergibt sich schon daraus, dass er sich im Rahmen der Antragsbegründung neben den Ausführungen zu der Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis darauf beruft, dass er auch aus krankheitsbedingten Gründen von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen verschont werden müsse. Die Kammer legt deshalb den Antrag dahingehend aus, dass der Antragsteller über den Wortlaut des Antrags hinaus zusätzlich hilfsweise die vorläufige Verpflichtung der Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO begehrt, die Abschiebung auszusetzen und dem Antragsteller weiterhin eine Duldung zu erteilen.

27

Weder der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung gemäß § 80 Abs. 5 VwGO (1.) noch der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 123 Abs. 1 VwGO haben Erfolg (2.).

28

1. Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist zunächst statthaft. Dies ist der Fall, wenn wie hier die Versagung des Aufenthaltstitels ein zunächst eingetretenes fiktives Bleiberecht nach § 81 AufenthG beendet hat, wenn also der Aufenthalt nach Stellung des Antrages auf Erteilung oder Verlängerung eines Aufenthaltstitels nach § 81 AufenthG zunächst als erlaubt oder als geduldet galt, d.h. die gesetzliche Erlaubnis- oder Duldungsfiktion ausgelöst hat (Dittrich/Breckwoldt in HTK-AuslR / Rechtsschutz / 2.1.3, Stand: 23.09.2019, Rn. 30 ff. m.w.N.). Zwar lebt im Falle der Anordnung der aufschiebenden Wirkung die Fiktionswirkung des § 81 Abs. 4 AufenthG nicht (wieder) auf, denn die behördliche Ablehnung der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis ist ein Verwaltungsakt im Sinne des § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG, der nach der Konzeption des Gesetzgebers unbeschadet einer gerichtlich angeordneten aufschiebenden Wirkung von Widerspruch und Klage die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts des Ausländers beendet (OVG Magdeburg, Beschluss vom 22.01.2007 – 2 M 318/06 –, juris, Rn. 4 m.w.N.; VG Schleswig, Beschluss vom 26.11.2018 – 1 B 115/18 –, juris, Rn. 21). Allerdings würde die Einstellung des Vollzugs nach § 241 Abs. 1 Nr. 3 LVwG erreicht werden können, sodass der beantragte Rechtsbehelf nicht nutzlos wäre. Deshalb wäre in diesen Fällen § 80 Abs. 5 VwGO der zutreffende Rechtsbehelf (so auch OVG Schleswig, Beschluss vom 25.07.2011 – 4 MB 40/11 –, juris, Rn. 10; VG Schleswig, Beschluss vom 09.01.2019 – 1 B 137/18 –, juris, Rn. 6).

29

Vorliegend kam dem Antragsteller bei Stellung seines Antrages auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis die Fiktionswirkung aus § 81 Abs. 4 Satz 3 AufenthG zu Gute. Zwar hat der Antragsteller die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis nicht - wie es § 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG verlangt - vor dem Ablauf des Aufenthaltstitels am 13.02.2021, sondern erst am 11.03.2021 beantragt. Nach summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage geht der Kammer jedoch davon aus, dass die Antragsgegnerin die Verlängerung der Fortgeltungswirkung des Aufenthaltstitels gemäß § 81 Abs. 4 Satz 3 AufenthG zur Vermeidung einer unbilligen Härte (konkludent) angeordnet hat. Eine solche Anordnung ergibt sich zwar nicht allein daraus, dass die Antragsgegnerin dem Antragsteller zuletzt am 08.09.2021 eine Fiktionsbescheinigung gemäß § 81 Abs. 4 AufenthG ausgestellt hat. Denn allein aus der Erteilung einer Fiktionsbescheinigung nach § 81 Abs. 5 AufenthG kann nicht darauf geschlossen werden, dass die Ausländerbehörde die Fortgeltungswirkung nach § 81 Abs. 4 Satz 3 AufenthG angeordnet hat (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 02.08.2019 – OVG 11 N 122.16 –, juris, Rn. 7; OVG Magdeburg, Beschluss vom 03.06.2020 – 2 M 35/20 –, juris, Rn. 19). Jedoch kann sich aus besonderen Umständen des Einzelfalls eine konkludente Anordnung der Fortgeltungswirkung ergeben (vgl. BVerwG, Urteil vom 15. August 2019 – 1 C 23.18 –, juris, Rn. 28). Solche Umstände liegen hier vor. Auf seinen Antrag vom 11.03.2021 hin erteilte die Antragsgegnerin dem Antragsteller ausweislich der Verwaltungsakte einen Abholtermin für die Aushändigung der Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis für den 10.05.2021. Hierzu kam es nur deswegen nicht, weil die Antragsgegnerin zuvor erneut von weiteren Ermittlungsverfahren gegen den Antragsteller Kenntnis erhielt und von einer Aushändigung zunächst absah. Mit Schreiben vom 11.06.2021 forderte die Antragsgegnerin den Antragsteller zudem auf, für die Bearbeitung seines Antrages weitere Unterlagen (Mitvertrag, Einkommensnachweise, etc.) vorzulegen. Insoweit hat die Antragsgegnerin in Kenntnis der Antragsumstände inhaltlich die Voraussetzungen des § 31 Abs. 4 Satz 2 AufenthG geprüft und die Verspätung offensichtlich für nicht entscheidungserheblich erachtet mit dem Ergebnis, dass in der späteren Erteilung der Fiktionsbescheinigung eine konkludente Anordnung gemäß § 81 Abs. 4 Satz 3 AufenthG zu sehen ist.

30

Soweit sich der Antrag auf die Abschiebungsandrohung bezieht, ist er ebenfalls nach § 80 Abs. 5 VwGO statthaft. Die Abschiebungsandrohung nach § 59 Abs. 1 Satz 1 AufenthG ist eine bundesrechtlich geregelte Vollzugsmaßnahme, deren Vollstreckung sich nach Landesrecht richtet, sodass Rechtsmittel hiergegen gemäß § 248 Abs. 1 Satz 2 LVwG SH keine aufschiebende Wirkung entfalten, § 80 Abs. 2 Satz 2 VwGO. Widerspruch und Klage gegen die Festsetzung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots haben nach § 84 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 AufenthG keine aufschiebende Wirkung (hierzu ausführlich: VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 13.11.2019 – 11 S 2996/19 –, juris, Rn. 41 ff.).

31

Der Antrag ist jedoch unbegründet. Die in Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO gebotene Interessenabwägung ist in erster Linie an den Erfolgsaussichten in der Hauptsache auszurichten. Sie fällt regelmäßig zugunsten der Behörde aus, wenn der angefochtene Verwaltungsakt offensichtlich rechtmäßig ist und ein besonderes Interesse an seiner sofortigen Vollziehung besteht oder der Sofortvollzug gesetzlich angeordnet ist. Dagegen ist dem Aussetzungsantrag stattzugeben, wenn der Verwaltungsakt offensichtlich rechtswidrig ist, da an der sofortigen Vollziehung eines solchen Verwaltungsakts kein öffentliches Interesse bestehen kann. Lässt die im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO gebotene summarische Prüfung der Sach- und Rechtslage eine abschließende Beurteilung der Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts nicht zu, so hat das Gericht eine eigenständige, von den Erfolgsaussichten unabhängige Abwägung der widerstreitenden Interessen vorzunehmen (vgl. OVG Münster, Beschluss vom 02.03.2016 – 1 B 1375/15 –, juris, Rn. 9; OVG Schleswig, Beschluss vom 06.08.1991 – 4 M 109/91 –, SchlHA 1991, 220).

32

Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache ist die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der Eilentscheidung (vgl. Beschluss der Kammer vom 26.11.2019 – 11 B 129/19 –, juris, Rn. 19; OVG Schleswig, Beschlüsse vom 16.01.2020 – 4 MB 98/19 –, juris, Rn. 10 und vom 03.07.2018 – 1 MB 7/18 –, ; Schenke in: Kopp/Schenke, Verwaltungsgerichtsordnung, 25. Auflage 2019, § 80 Rn. 147, m.w.N.; a.A.: Schoch in: Schoch/Schneider, Verwaltungsgerichtsordnung: VwGO, Werkstand: 39. EL Juli 2020, § 80 Rn. 413 ff., m.w.N.). Da es sich bei der Entscheidung im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO um eine eigene Ermessensentscheidung des Gerichts handelt und nicht etwa um eine reine Rechtmäßigkeitskontrolle, ist maßgebend auf diesen Zeitpunkt abzustellen.

33

Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe ist der Bescheid vom 20.12.2021 offensichtlich rechtmäßig. Dem Antragsteller steht kein Anspruch auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis zu.

34

Der Antragsteller hat die Verlängerung einer ihm nach § 31 Abs. 1 AufenthG erteilten Aufenthaltserlaubnis beantragt, sodass sich die Rechtmäßigkeit der Ablehnung dieses Antrages nach § 31 Abs. 4 AufenthG beurteilt. Der Anspruch nach § 31 Abs. 1 AufenthG bezieht sich auf den Aufenthalt nur in dem Jahr unmittelbar nach Ablauf der Gültigkeit der ehegattenbezogenen Aufenthaltserlaubnis. Läuft die ehegattenbezogene Aufenthaltserlaubnis aus, so kann das Aufenthaltsrecht aus § 31 Abs. 1 Satz 1 AufenthG nur in dem sich unmittelbar anschließenden Jahr erteilt werden. Ist das Jahr abgelaufen, so kann die Aufenthaltserlaubnis nur noch als Übergangstitel für den Verlängerungsanspruch nach § 31 Abs. 4 AufenthG erteilt werden. Denn die Aufenthaltserlaubnis nach § 31 Abs. 1 Satz 1 AufenthG ist Voraussetzung für eine darauf aufbauende Verlängerung im Ermessenswege nach § 31 Abs. 4 Satz 2 AufenthG (vgl. Dienelt in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 31 AufenthG Rn. 9 m.w.N.). Bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen steht der Behörde ein Ermessen zu.

35

Nach § 8 Abs. 1 i. V. mit § 31 Abs. 4 Satz 2 AufenthG kann eine Aufenthaltserlaubnis auch nach der erstmaligen auf ein Jahr befristeten Verlängerung (§ 31 Abs. 1 Satz 1 AufenthG) erneut verlängert werden, wenn zusätzlich die sich aus § 5 AufenthG ergebenden allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen vorliegen (vgl. OVG Bautzen, Beschluss vom 18.05.2017 – 3 B 297/16 –, juris, Rn. 6; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 31.05.2018 – OVG 11 B 18.16 –, juris, Rn. 19).

36

Vorliegend fehlt es an der allgemeinen Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG. Nach dieser Norm setzt die Erteilung eines Aufenthaltstitels in der Regel voraus, dass der Lebensunterhalt gesichert ist. Dies ist im Falle des Antragstellers nicht der Fall. Der Antragsteller ist – neben seiner geringen monatlichen Rente in Höhe von 74,60 Euro – ausweislich des vorgelegten Rentenversicherungsverlaufs sowie der Angaben der Beteiligten zur Sicherung seines Lebensunterhaltes seit mehreren Jahren auf Sozialleistungen nach dem SGB II bzw. SGB XII angewiesen.

37

Angesichts dessen fehlt es an der in § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG vorausgesetzten Sicherung des Lebensunterhalts. Dies steht in der Regel der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis entgegen. Etwas anderes folgt auch nicht aus § 31 Abs. 4 Satz 1 AufenthG, nach dem die Inanspruchnahme von Leistungen nach dem Zweiten oder Zwölften Buch Sozialgesetzbuch der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis unbeschadet des § 31 Abs. 2 Satz 4 AufenthG nicht entgegensteht. Diese Privilegierung gilt nur für die erstmalige Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis nach § 31 Abs. 1 AufenthG. Bei allen weiteren Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis als eheunabhängiges Aufenthaltsrecht muss grundsätzlich die Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG vorliegen (vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 02.02.2011 – 11 ME 441/10 –, juris, Rn. 13; VGH München, Beschluss vom 17.06.2013 – 10 C 13.881 –, juris, Rn. 15; Dienelt, a.a.O. Rn. 97 jeweils m.w.N.).

38

Entgegen den Ausführungen des Antragstellers liegt auch kein Ausnahmefall von der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG vor. Hierfür müssten entweder besondere, atypische Umstände vorliegen, die so bedeutsam sind, dass sie das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regelung beseitigen, oder die Erteilung des Aufenthaltstitels müsste aus Gründen höherrangigen Rechts, wie etwa Art. 6 GG oder Art. 8 EMRK, geboten sein (vgl. VGH München, Beschluss vom 06.03.2020 – 10 C 20.139 –, juris, Rn. 8; VGH München, Beschluss vom 08.08.2014 – 10 ZB 14.861 –, juris, Rn. 6 m.w.N.). Mit der Normierung der Pflicht zur Sicherung des Lebensunterhalts als allgemeine Erteilungsvoraussetzung hat der Gesetzgeber zum Ausdruck gebracht, dass die Sicherung des Lebensunterhalts bei der Erteilung von Aufenthaltstiteln im Ausländerrecht als eine Voraussetzung von grundlegendem staatlichen Interesse anzusehen ist (vgl. BT-Drs. 15/420 S. 70). Daher ist bei der Annahme eines Ausnahmefalls ein strenger Maßstab anzulegen. Kann ein Ausländer wegen seines Alters oder einer dauerhaften Erkrankung keine den Lebensunterhalt sichernde Beschäftigung finden, rechtfertigt dies als solches noch nicht die Annahme eines Ausnahmefalls (vgl. VGH München, Beschluss vom 06.03.2020 – 10 C 20.139 –, juris, Rn. 8; VGH München, Beschluss vom 24.04.2014 – 10 ZB 14.524 –, juris, Rn. 7; Bergmann/Dienelt/Samel, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 5 AufenthG, Rn. 27). Denn eine aufgrund einer Erkrankung eingetretene Einschränkung oder Unmöglichkeit der Vermittelbarkeit auf dem Arbeitsmarkt liegt nicht außerhalb des der gesetzgeberischen Entscheidung zugrundeliegenden Erfahrungshorizonts (vgl. VGH München, Beschluss vom 24.04.2014 – 10 ZB 14.524 –, juris, Rn. 7).

39

Gemessen daran ist hier nicht von einem atypischen Fall auszugehen. Allein der langjährige Aufenthalt des Antragstellers im Bundesgebiet reicht nicht zur Annahme eines atypischen Ausnahmefalles (zu einer ähnlichen Konstellation vgl. VGH München, Beschluss vom 04.12.2013 – 10 CS 13.1449 –, juris, Rn. 19 f.). Für die Annahme eines solchen atypischen Falles wäre erforderlich, dass sich der Ausländer die ihm durch einen langen Aufenthalt gegebene Gelegenheit auch genutzt hat, sich wirtschaftlich und sozial so zu integrieren, dass eine Verfestigung seiner Lebensverhältnisse im Bundesgebiet eingetreten ist und ihn eine Beendigung des Aufenthalts besonders hart treffen würde. Zu der langjährigen Dauer des Aufenthalts müssen also noch besondere Umstände hinzutreten (vgl. OVG Bautzen, Beschluss vom 05.12.2012 – 3 B 258/12 –, juris, Rn. 9; VGH München, Beschluss vom 04.12.2013 – 10 CS 13.1449 –, juris, Rn. 22). Solche liegen hier nicht vor.

40

Aus dem eingereichten Rentenversicherungsverlauf geht hervor, dass der Antragsteller auch für die Vergangenheit keine durchgehende Erwerbsbiografie aufweisen kann. Bis Anfang 2005 hat der Antragsteller jeweils nur geringfügige Beschäftigungen ausgeübt ohne versicherungspflichtig gewesen zu sein. In der Folgezeit finden sich zwar einige Beschäftigungszeiten (Beitragszeit mit Pflichtbeiträgen), die jedoch mit Ausnahme von April bis Juni 2005 jeweils den Zusatz auf den Bezug von Arbeitslosengeld II enthalten. Ab Juli 2006 ist die Erwerbstätigkeit erneut geprägt von Zeiträumen geringfügiger Beschäftigung sowie kurzzeitigen Beitragszeiten mit Pflichtbeiträgen, die mit dem Bezug von Arbeitslosengeld II einhergingen. Seit dem 01.01.2011 bezog der Antragsteller bis zum Ende des ausgewiesenen Zeitraums bis Juni 2014 ausschließlich Arbeitslosengeld II und ist laut unwidersprochener Auskunft der Antragsgegnerin weiterhin durchgehend Bezieher von Sozialleistungen. Die Historie lässt insoweit nicht auf eine vor seiner Erkrankung liegende konstante Integration auf dem Arbeitsmarkt erkennen, die einen atypischen Fall rechtfertigen könnte.

41

Auch ein Verstoß gegen Art. 6 GG oder Art. 8 EMRK ist nicht ersichtlich. Ein unverhältnismäßiger Eingriff in das durch Art. 8 EMRK geschützte „Privatleben“ kann nur dann angenommen werden, wenn die „Verwurzelung“ des Ausländers infolge fortgeschrittener beruflicher und sozialer Integration bei gleichzeitiger Unmöglichkeit der Reintegration im Herkunftsstaat dazu führt, dass das geschützte Privatleben nur noch hier geführt werden kann („faktischer Inländer“, vgl. VGH München, Beschluss vom 13.07.2010 - 19 ZB 10.1129 –, juris, Rn. 7). Ob ein Ausländer sein Privatleben faktisch nur noch im Aufenthaltsstaat führen kann, hängt zum einen von seiner Integration in Deutschland (Dimension „Verwurzelung“) und zum anderen von der Möglichkeit zur (Re-) Integration in seinem Heimatland (Dimension „Entwurzelung“) ab. Gesichtspunkte für die Integration des Ausländers in Deutschland sind dabei eine zumindest mehrjährige Dauer des Aufenthalts in Deutschland, gute deutsche Sprachkenntnisse und eine soziale Eingebundenheit in die hiesigen Lebensverhältnisse, wie sie etwa in der Innehabung eines Arbeits- oder Ausbildungsplatzes, in einem festen Wohnsitz, ausreichenden Mitteln, um den Lebensunterhalt einschließlich ausreichenden Krankenversicherungsschutzes ohne die Inanspruchnahme öffentlicher Mittel bestreiten zu können, und fehlender Straffälligkeit zum Ausdruck kommt. Eine nach Art. 8 EMRK schutzwürdige Verwurzelung im Bundesgebiet kann dabei grundsätzlich nur während Zeiten entstehen, in denen der Ausländer sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat (OVG Lüneburg, Beschluss vom 17.08.2020 – 8 ME 60/20 –, juris Rn. 65 m.w.N.; VG Schleswig, Beschluss vom 04.08.2017 – 1 B 74/17 –, juris Rn. 45).

42

Diese Voraussetzungen erfüllt der Antragsteller nicht. Er hält sich zwar seit seinem 25. Lebensjahr in der Bundesrepublik Deutschland auf und kann mittlerweile auf einen über 18-jährigen Aufenthalt zurückblicken. Außerdem hielt er sich stets erlaubt im Bundesgebiet auf. Für seine Zeit in der Bundesrepublik kann er jedoch keine nennenswerten Integrationsleistungen vorweisen. Zwar führt die fehlende wirtschaftliche Integration des Antragstellers noch nicht zwingend zu einer fehlenden Verwurzelung in Deutschland. Allerdings hat der Antragsteller auch sonst keine nennenswerte soziale oder kulturelle Integration substantiiert dargelegt. Zudem ist davon auszugehen, dass es dem Antragsteller möglich ist, sich in der Türkei zu reintegrieren, da er erst im Erwachsenenalter nach Deutschland einreiste und insofern anzunehmen ist, dass er die türkische Sprache fließend beherrscht.

43

Der Bescheid der Antragsgegnerin leidet auch nicht an einem Ermessensfehler. Die Regelerteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 AufenthG sind Tatbestandsvoraussetzungen. Fehlt eine der Erteilungsvoraussetzungen, kommt eine Ermessensentscheidung i. S. d. § 31 Abs. 4 Satz 2 AufenthG nicht in Betracht (Zeitler, HTK-AuslR / § 31 AufenthG / Abs. 4 Satz 2, Stand: 03.11.2018, Rn. 11).Ob ein Ausnahmefall vorliegt, unterliegt damit keinem Einschätzungsspielraum der Behörde, sondern ist gerichtlich in vollem Umfang überprüfbar (vgl. BVerwG, Urteil vom 13.06.2013 – 10 C 16.12 –, juris, Rn. 3). Die Behörde entscheidet in diesen Fällen also nicht nach pflichtgemäßem Ermessen (Zeitler, HTK-AuslR / § 5 AufenthG / zu Abs. 1 - Regel und Ausnahme, Stand: 24.05.2022, Rn. 2). Ein Abweichen im Ermessenswege kommt nur dann in Betracht, wenn das Gesetz der Behörde, wie in § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG, einen Ermessensspielraum eröffnet. Dieser Ermessensspielraum ist vorliegend aber schon nicht eröffnet, weil sich die Ausnahmeregelung in § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG nur auf die Aufenthaltstitel in Kapitel 2 im 5. Abschnitt bezieht und sich die hier beantragte Aufenthaltserlaubnis im 6. Abschnitt befindet.

44

2. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mit dem Ziel der vorläufigen Verpflichtung der Antragsgegnerin, die Abschiebung des Antragstellers weiterhin auszusetzen und ihm eine Duldung zu erteilen, hat keinen Erfolg.

45

Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann das Gericht, auch schon vor Klageerhebung, eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn diese Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile, Verhinderung drohender Gewalt oder aus anderen Gründen nötig erscheint (Regelungsanordnung). Dabei hat der Antragsteller sowohl die Notwendigkeit einer vorläufigen Anordnung (Anordnungsgrund) als auch das Bestehen eines zu sichernden Rechts (Anordnungsanspruch) glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2, § 294 ZPO).

46

Dem Antragsteller steht kein Anordnungsanspruch zu.

47

Die Abschiebung des Antragstellers wäre nach § 60 a Abs. 2 Satz 1 AufenthG auszusetzen, solange die Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist und keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird. Eine rechtliche oder tatsächliche Unmöglichkeit der Abschiebung in diesem Sinne ist nicht anzunehmen.

48

Eine rechtliche Unmöglichkeit der Abschiebung, die hier allein in Betracht kommt, ergibt sich insbesondere nicht aus einer Reiseunfähigkeit des Antragstellers. Ein inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis wegen rechtlicher Unmöglichkeit der Abschiebung gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG kann gegeben sein, wenn und solange der Ausländer wegen Erkrankung transportunfähig ist, d.h. sich der Gesundheitszustand durch und während des eigentlichen Vorgangs des „Reisens“ wesentlich verschlechtert oder eine Lebens- oder Gesundheitsgefahr transportbedingt erstmals entsteht und die Gefahr nicht durch bestimmte Vorkehrungen ausgeschlossen oder gemindert werden kann (Reiseunfähigkeit im engeren Sinn). Eine Abschiebung muss auch unterbleiben, wenn sie – außerhalb des eigentlichen Transportvorgangs – eine erhebliche konkrete Gesundheitsgefahr bedeutet. Dies ist der Fall, wenn das ernsthafte Risiko besteht, dass unmittelbar durch die Abschiebung als solche (unabhängig vom Zielstaat) sich der Gesundheitszustand des Ausländers wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtert (Reiseunfähigkeit im weiteren Sinne) (BeckOK AuslR/Kluth/Breidenbach, AufenthG, 32. Ed., Stand: 01.01.2022, § 60a, Rn. 13).

49

Gemäß § 60a Abs. 2c Satz 1 AufenthG wird gesetzlich vermutet, dass der Abschiebung gesundheitliche Gründe nicht entgegenstehen. Der Ausländer muss eine Erkrankung, die die Abschiebung beeinträchtigen kann, durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung glaubhaft machen, § 60a Abs. 2c Satz 2 AufenthG. Diese ärztliche Bescheinigung soll insbesondere die tatsächlichen Umstände, auf deren Grundlage eine fachliche Beurteilung erfolgt ist, die Methode der Tatsachenerhebung, die fachlich-medizinische Beurteilung des Krankheitsbildes (Diagnose), den Schweregrad der Erkrankung, den lateinischen Namen oder die Klassifizierung der Erkrankung nach ICD 10 sowie die Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben, enthalten, § 60a Abs. 2c Satz 3 AufenthG. Ein Attest, dem nicht zu entnehmen ist, wie es zur prognostischen Diagnose kommt und welche Tatsachen dieser zugrunde liegen, ist nicht geeignet, das Vorliegen eines Abschiebungsverbots wegen Reiseunfähigkeit zu begründen (vgl. VGH München, Beschluss vom 23.08.2016 – 10 CE 15.2784 –, Rn. 16, juris m. w. N.)

50

Nach diesen Maßstäben – und den im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes allein zu berücksichtigenden präsenten Beweismitteln und glaubhaft gemachten Tatsachen (vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 19.03.2013 – 8 ME 44/13 –, juris, Rn. 5) – hat der Antragsteller die gesetzliche Vermutung nicht widerlegt.

51

Den von dem Antragsteller eingereichten ärztlichen Befundberichten lässt sich weder entnehmen, dass er transportunfähig ist, noch, dass der Abschiebevorgang für ihn eine erhebliche konkrete Gesundheitsgefahr bedeuten könnte. Vielmehr bescheinigt der ärztliche Bericht vom 14.01.2022, dass der Antragsteller „reisefähig“ ist mit der Begründung, dieser nehme seine Medikamente ein und sei psychisch stabil eingestellt. Den eingereichten ärztlichen Unterlagen lässt sich nicht entnehmen, dass sich im Rahmen des Abschiebevorganges der Gesundheitszustand wesentlich oder lebensbedrohlich verschlechtern könnte. Vielmehr heißt es in den Berichten lediglich, dass eine psychische Weiterbehandlung notwendig sei und bei einem Rückfall in Betäubungsmittelkonsum mit einer Verschlechterung der Schizophrenie zu rechnen sei. Welche Folgen dies im Zusammenhang mit dem Abschiebevorgang haben könnte, lässt sich den Berichten hingegen nicht entnehmen. Die eingereichten ärztlichen Atteste sind damit nicht geeignet, die vermutete Reisefähigkeit des Antragstellers zu erschüttern. Soweit auf die Nichtverfügbarkeit einer psychischen Weiterbehandlung im Zielland hingewiesen wird, handelt es sich um rein zielstaatsbezogene Aspekte, die im Rahmen des Vollstreckungsverfahrens nicht berücksichtigungsfähig sind.

52

Tatsächliche Anhaltspunkte, die eine weitere Sachaufklärung (§ 60a Abs. 2d Satz 2 Halbsatz 2 AufenthG) erfordern würden, liegen angesichts fehlenden Vortrags zu konkret zu erwartenden Gesundheitsgefahren im Rahmen einer Abschiebemaßnahme nicht vor.

53

Die Abschiebungsandrohung ist nach § 59 Abs. 1 AufenthG ebenfalls offensichtlich rechtmäßig. Da dem Antragsteller kein Anspruch auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis zusteht, ist er gemäß § 50 Abs. 1, § 58 Abs. 1 Satz 1 AufenthG nach Ablauf der Ausreisefrist vollziehbar ausreisepflichtig.

54

Der Antrag auf Erlass einer Zwischenverfügung, über den vorliegend aufgrund der Erklärung der Antragsgegnerin, vor einer Entscheidung der Kammer keine Vollzugsmaßnahmen zu ergreifen, nicht mehr zu entscheiden war, löst keine eigenen Kostenfolgen aus (vgl. VGH Mannheim, Beschluss vom 26.09.2017 – 2 S 1916/17 –, juris, Rn. 10) mit der Folge, dass dieser Antrag bei der Festsetzung des Streitwerts nicht zu berücksichtigen war (vgl. Eyermann/Happ, 15. Aufl. 2019, VwGO, § 123, Rn. 60).

55

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.

56

Die Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe sind mangels hinreichender Erfolgsaussichten des Antrags auf einstweiligen Rechtsschutz nicht gegeben, § 166 VwGO i.V.m. § 114 ZPO.

57

Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 39 Abs. 1, § 52 Abs. 2, § 53 Abs. 2 Nr. 1 und 2 GKG.


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