Gerichtsbescheid vom Verwaltungsgericht Schwerin (1. Kammer) - 1 A 770/20 SN

Tenor

Die Klage wird abgewiesen.

Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens.

Der Gerichtsbescheid ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Kläger können die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte zuvor Sicherheit in Höhe des zu vollstreckenden Betrages leistet.

Tatbestand

1

Die Kläger begehren die Aufhebung der Entscheidung des Beklagten, nach welcher die Kommunen Entscheidungen im Umlaufverfahren ohne Präsenzpflicht treffen konnten. Weiter begehren sie die Aufhebung der darauf aufbauenden kommunalen Beschlüsse, die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses bzw. die Einleitung einer Untersuchung sowie dass sämtliche internen Dokumente der Beklagten der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.

2

Der Kläger zu 1) ist Bürger der Stadt A-Stadt. Der Kläger zu 2) ist Mitglied der Stadtvertretung der Landeshauptstadt A-Stadt.

3

Am 16. März 2020 stellte der Städte- und Gemeindetag Mecklenburg-Vorpommern e.V. stellvertretend für alle Kommunen im Land Mecklenburg-Vorpommern den Antrag bei dem Beklagten, eine Abweichung von der Präsenzpflicht für die kommunalen Entscheidungsgremien zu erteilen und Umlaufbeschlüsse per Mail oder schriftlich einzuführen.

4

Mit Schreiben vom 24. März 2020 gab der Beklagte dem Antrag statt. Den Kommunen wurde erlaubt, dass in Abweichung von §§ 29, 30, 31, 35, 36, 135 und 136 der Kommunalverfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern (KV M-V) Beschlussfassungen im schriftlichen Umlaufverfahren möglich sind. Voraussetzung für eine Beschlussfassung im Umlaufverfahren sollte sein, dass nicht ein Viertel aller Mitglieder widerspricht. Für die Einzelheiten wird auf das Schreiben vom 24. März 2020 (vgl. Bl. 4 bis 5 d.G.A.) verwiesen. Die Entscheidung wurde im Amtsblatt für Mecklenburg-Vorpommern Nr. 16 (AmtsBl. M-V 2020 S. 150) wie folgt veröffentlich:

5

„1. Auf der Grundlage von § 1 Absatz 3 Satz 1 und § 2 Absatz 2 des Kommunalen Standarderprobungsgesetzes (KommStEG M-V) befreie ich die Gemeinden und Ämter, für die der Städte- und Gemeindetag Mecklenburg-Vorpommern e. V. mit den o. a. Schreiben stellvertretend einen entsprechenden Antrag gestellt hat, von dem Sitzungszwang für Beschlussfassungen gemäß §§ 29, 30, 31, 35, 36, 135 und 136 der Kommunalverfassung insoweit, als eine Beschlussfassung der Gemeindevertretung und ihrer Ausschüsse bzw. des Amtsausschusses und seiner Ausschüsse auch im schriftlichen Umlaufverfahren erfolgen kann. Voraussetzung für eine Beschlussfassung im Umlaufverfahren ist es, dass ihr nicht ein Viertel aller Mitglieder der Gemeindevertretung oder des Ausschusses bzw. Amtsausschusses widerspricht.

6

2. Die Befreiung nach 1. gilt befristet bis zum Außerkrafttreten des § 6 Absatz 1 SARSCoV-2-Bekämpfungsverordnung.

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Hinweise

8

Die Entscheidung über den Beitritt zu dem Antrag des Städte- und Gemeindetages Mecklenburg-Vorpommern e. V. trifft gemäß § 2 Absatz 1 Satz 1 und 3 und § 3 Satz 2 KommStEG M-V der gesetzliche Vertreter der kommunalen Körperschaft. Die Vertretungskörperschaft entscheidet als oberstes Willensbildungs- und Beschlussorgan, ob von der Befreiung grundsätzlich Gebrauch gemacht werden soll (§ 2 Absatz 5 Satz 2 KommStEG M-V). Bereits diese Entscheidung kann im Umlaufverfahren erfolgen.“

9

Eine Rechtsbehelfsbelehrung enthält weder das Schreiben vom 24. März 2020 noch die Veröffentlichung im Amtsblatt.

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Mit Schreiben vom 27. April 2020 lehnte der Beklagte ein Verlängerungsgesuch des Städte- und Gemeindetags Mecklenburg-Vorpommern e.V. mit der Begründung ab, dass rechtliche Zweifel bestünden und die Erteilung „in zeitlicher Hinsicht auf das absolut nötige Mindestmaß beschränkt bleiben“ müsse (vgl. Bl. 15-16 d.GA.).

11

Mit Schreiben vom 04. Mai 2020 (vgl. Bl. 6 d.GA.) an den Städte- und Gemeindetag Mecklenburg-Vorpommern e.V. wies der Beklagte daraufhin, dass aufgrund des Konnex zu § 6 Absatz 1 SARSCoV-2-Bekämpfungsverordnung mit Ablauf des 19. April 2020 die gewährte Ausnahme erloschen sei.

12

Mit Schriftsatz vom 15. Mai 2020 – eingegangen bei Gericht am 16. Mai 2020 - haben die Kläger die streitgegenständliche Klage erhoben.

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Sie tragen vor, klagebefugt zu sein. Dem Kläger zu 1) sei es aufgrund des Bescheides nicht möglich gewesen, an den sonst öffentlichen Sitzungen teilzunehmen. Dem Kläger zu 2) sei es als Mitglied der Stadtvertretung der Landeshauptstadt A-Stadt nicht möglich gewesen, seinen Rechten und Pflichten vollumfänglich nachzukommen. Er sei durch die Entscheidung in seinen verfassungsmäßigen Verfahrensrechten eingeschränkt worden. Er sei als fraktionsloses Mitglied auf die Öffentlichkeit der Sitzungen besonders angewiesen. Zudem sei er aufgrund seiner Fraktionslosigkeit nicht in die Entscheidungen des Ältestenrates der Landeshauptstadt eingebunden gewesen, weshalb er seine Bedenken nicht habe vortragen können. Eine beantragte Teilnahme an den Sitzungen des Ältestenrates sei ihm verwehrt worden. Sie tragen weiter vor, dass das Quorum von einem Viertel der Mitglieder willkürlich festgelegt worden sei. Vielmehr hätte die Regelung auf eine Gegenstimme abstellen müssen. Ein Umlaufverfahren sei in der Kommunalverfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern nicht vorgesehen. Das Kommunale Standarderprobungsgesetz sei keine taugliche Ermächtigungsgrundlage für die streitgegenständliche Befreiung von der Präsenzpflicht, zudem seien formale Anforderungen nicht eingehalten worden. Auch seien über das Ablaufdatum der Geltung der Ausnahmegenehmigung hinaus Beschlussfassungen durch Kommunen, konkret der Landeshauptstadt A-Stadt am 20. April 2020, erfolgt.

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Die Kläger beantragen:

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1. Die Entscheidung des Innenministeriums ist aufzuheben.

16

2. Alle auf der Entscheidung aufbauenden Beschlüsse von Gemeindevertretungen sind als ungültig zu erklären.

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3. Einen Untersuchungsausschuss / eine Untersuchung ist durchzuführen.

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4. Den Beklagten aufzuerlegen, sämtliche Dokumente die zu dem Sachverhalt existieren öffentlich (Amtsblatt, Presse o.ä.) zugänglich zu machen.

19

Der Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Er trägt vor, dass die Klage bereits unzulässig sei, da es insbesondere an der Drittwirkung der Genehmigung fehle. Die Kläger hätten eine eigene Rechtsverletzung nicht hinreichend dargelegt, eine solche sei auch nicht ersichtlich, da keine subjektiven Rechte durch den Bescheid betroffen seien. Auch fehle es an einer belastenden Wirkung des Bescheides, da nur eine weitere Möglichkeit auf kommunaler Ebene geschaffen werde. Weiter wehrt er sich mit rechtlichen Ausführungen.

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Hinsichtlich der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und auf den Verwaltungsvorgang des Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe

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Das Gericht konnte nach Anhörung der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden, da die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist (§ 84 VwGO).

24

Die Klage bleibt ohne Erfolg.

I.

25

Sie ist in allen Klagepunkten unzulässig.

26

1. Die gegen den Bescheid des Beklagten vom 24. März 2020 erhobene Anfechtungsklage ist unzulässig. Den Klägern fehlt das Rechtsschutzbedürfnis, da die Entscheidung des Beklagten inzwischen keine Regelungswirkung mehr entfaltet. Vorliegend ist der Verwaltungsakt am 19. April 2020 außer Kraft getreten. Statthafte Klageart gegen einen Verwaltungsakt, der sich vor Klageerhebung erledigt hat, ist die Fortsetzungsfeststellungsklage nach § 113 Abs. 1 S. 4 VwGO analog (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. Mai 2013 – 8 C 14.12, BeckRS 2013, 54296).

27

Sollte der Antrag der Kläger gemäß § 88 VwGO so auszulegen sein, dass damit die Feststellung der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts begehrt wird, fehlt es dem Kläger zu 1) bereits an der Klagebefugnis, darüber fehlt es beiden Klägern am erforderlichen Fortsetzungsfeststellungsinteresse.

28

a. Für den Kläger zu 1) ist die Klage bereits mangels Klagebefugnis unzulässig. Gemäß § 42 Abs. 2 VwGO ist erforderlich, dass ein Kläger geltend macht, durch einen Verwaltungsakt oder seine Ablehnung oder Unterlassung in seinen Rechten verletzt zu sein. Dies setzt voraus, dass eine solche Rechtsverletzung als objektiv möglich erscheint. Das ist der Fall, wenn sie nicht offensichtlich und eindeutig nach jeder Betrachtungsweise ausgeschlossen ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 28. Februar 1997 - BVerwG 1 C 29.95, BVerwGE 104, 115-122).

29

Eine Rechtsverletzung des Klägers zu 1) kommt offensichtlich nicht infrage. Der Bescheid erging im Verhältnis Beklagter zu Städte- und Gemeindetag e.V., der stellvertretend für sämtliche Gemeinden im Land Mecklenburg-Vorpommern den Erlass beantragt hatte und nicht gegenüber dem Kläger zu 1). Er ist somit nicht Adressat des Verwaltungsakts. Ergeht ein Verwaltungsakt gegenüber einem Dritten, besteht nur dann eine Klagebefugnis, wenn der Kläger durch den Verwaltungsakt auch in eigenen subjektiv-öffentlichen Rechten i. S. des § 42 Abs. 2 VwGO verletzt sein kann. Dies bestimmt sich anhand der Schutznormtheorie. Demnach ist eine Norm drittschützend, wenn sie ausschließlich oder zumindest neben dem öffentlichen Interesse auch Individualinteresse zu dienen bestimmt ist und die Rechtsmacht verleiht, das Individualinteresse durchzusetzen (so z.B. BVerwG, Beschluss vom 19. Januar 1996 - 11 B 90/95, NJW 1996, 1297; BVerwG, Urteil vom 16. September 1993 - 4 C 28/91, NJW 1994, 1546; Urteil vom 17. Juni 1993 - 3 C 3/89, NJW 1994, 1604; Urteil vom 06. Oktober 1989 - 4 C 14/87, NJW 1990, 1192; Urteil vom 18. Juli 1967 - I C 9/66, NJW 1968, 218; BeckOK VwGO/Schmidt-Kötters, 56. Ed. 1.10.2019, VwGO § 42 Rn. 151).

30

Ein solches subjektiv-öffentliches Recht ergibt sich für den Kläger zu 1) nicht aus § 29 Abs. 5 Satz 1 KV M-V. Demnach sind Sitzungen der Gemeindevertretung öffentlich. Davon abweichend ist die Öffentlichkeit nach § 29 Abs. 5 Satz 2 KV M-V in den dort aufgeführten Fällen auszuschließen. Der Ausschluss kann gemäß § 29 Abs. 5 Satz 3 KV durch Hauptsatzung oder Beschluss der Gemeindevertretung angeordnet werden. Der Wortlaut der Norm enthält keinen Hinweis auf einen subjektiven Anspruch einer nicht der Gemeindevertretung angehörenden Person, dass eine Sitzung öffentlich ist. Die „Öffentlichkeit“ stellt keinen abgrenzbaren Kreis von Rechtssubjekten dar. Sie ist vielmehr ein synonym für die Allgemeinheit und verweist folglich nicht auf ein einem Individuum zuzuordnendes subjektiv-öffentliches Recht (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 28. Oktober 2010 – 15 A 3225/08, juris Rn. 5; VG Greifswald Urteil vom 3. Juli 2018 – 2 A 301/18, BeckRS 2018, 17553 Rn. 20).

31

Etwas anderes folgt auch nicht aus dem Sinn und Zweck der Sitzungsöffentlichkeit, die integrativ wirken und Transparenz und Kontrolle ermöglichen soll und ein Grundpfeiler demokratischen Lebens darstellt. Weder diese besondere Bedeutung noch der mit dem Öffentlichkeitsgrundsatz verfolgte Kontrollzweck rechtfertigen die Annahme eines subjektiv-öffentlichen Rechts (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 28. Oktober 2010 – 15 A 3225/08, Juris Rn. 7 unter Aufgabe der gegenteiligen früheren Ausführungen im Urteil vom 24. April 2001 – 15 A 3021/97, juris Rn. 16; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 24. Februar 19921 S 2242/91, juris Rn. 14; VG Greifswald Urteil vom 3. Juli 2018 – 2 A 301/18, BeckRS 2018, 17553, Rn. 21). Rechtsschutz besteht regelmäßig erst bei der Umsetzung eines konkreten Beschlusses der Gemeindevertretung, wenn dadurch die subjektiven Rechte einer Person betroffen sind.

32

Selbst wenn man ein subjektives Recht auf Zugang zu einer öffentlichen Sitzung annehmen würde (vgl. Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 28. Oktober 2010 – 15 A 3225/08. Rn. 4), wäre dieses jedoch nicht bereits durch den streitgegenständlichen Verwaltungsakt verletzt, denn dieser besagt gerade nicht, dass die Sitzungen nicht öffentlich sein sollen, sondern er ermöglicht den Gemeinden erst, durch einen eigenständigen Beschluss hiervon abzuweichen. Es bedarf eines eigenständigen Zwischenschritts. Erst durch einen solchen Beschluss kann der Kläger zu 1) in eigenen Rechten verletzt sein und Rechtschutz ersuchen.

33

Andere subjektiv-öffentliche Rechte des Klägers zu 1) sind nicht ersichtlich.

34

Der Kläger zu 2) ist hingegen in eigenen subjektiv-öffentlichen Rechten betroffen.

35

Er kann sich auf subjektiv-öffentliche Rechte aus organschaftlichen Verfahrensrechten als Mitglied der kommunalen Vertretung berufen.

36

Grundsätzlich können Verfahrensrechte nur organintern geltend gemacht werden. Wird jedoch durch die Handlung eines Dritten unmittelbar in Organrechte von außen eingegriffen, kann sich der Betroffene im Rahmen sogenannter wehrfähiger Innenrechtspositionen - auch als subjektive Mitgliedschaftsrechten oder als sonstige rechtlich geschützte organschaftliche Befugnisse bezeichnet - direkt gegen den Eingriff erwehren (vgl. BVerwG, Beschluss vom 09. Oktober 1984 - 7 B 187/84, NVwZ 1985; BVerwG, Urteil vom 2. Dezember 2015 – 10 C 18/14, NVwZ-RR 2016, 344; BeckOK VwGO/Schmidt-Kötters, 55. Ed. 1.10.2019, VwGO § 42 Rn. 149; Schoch/Schneider VwGO/Wahl/Schütz, 39. EL Juli 2020, VwGO § 42 Abs. 2 Rn. 99; BeckOK KommunalR BW, GemO Systematische Einführung zum Kommunalrecht Deutschlands Rn. 174, beck-online). Zu den anerkannten, wehrfähigen Organteilrechten zählen insbesondere die ordnungsgemäße Mandatsausübung, insbesondere in Gestalt eines Rechts auf Schutz vor Störungen der Mandatsausübung (innerorganisatorischer Störungsbeseitigungsanspruch) (vgl. BVerwG, Beschluss vom 16. August 1989 - 7 B 118/89, NVwZ 1990, 165; OVG Koblenz, Beschluss vom 13. März 1989 - 7 B 11/89, NVwZ-RR 1990, 98; OVG Münster, Beschluss vom 12. Februar 1990 - 15 B 35/90, NVwZ 1990, 791) eines Rechts auf ordnungsgemäße Einladung zu den Sitzungen (vgl. VGH Mannheim, Urteil vom 12. Februar 1990 - 1 S 588/89, NVwZ-RR 1990, 369), eines Rechts auf Redezeit (vgl. VGH Mannheim, Beschluss vom 04. November 1993 - 1 S 953/93, NVwZ-RR 1994, 229), eines Rechts auf Information über den Beschlussgegenstand sowie auf gleichberechtigte Mitwirkung an den Beratungen und Entscheidungen (vgl. VG Meiningen, Urteil vom 20. September 2011 - 2 K 303/10 Me, BeckRS 2011, 55604; OVG Bautzen, Beschluss vom 28. Juli 2009 - 4 B 406/09, BeckRS 2009, 38048; VG Saarlouis, Gerichtsbescheid vom 16. Januar 2014 - 3 K 1834/12, BeckRS 2015, 42808). Nach Maßgabe der einschlägigen Kommunalgesetze ergeben sich ferner wehrfähige Organbefugnisse etwa in Gestalt eines Rechts auf Einsicht in die Akten der Gemeindeverwaltung (vgl. OVG Münster, Beschluss vom 28. August 1997 - 15 A 3432/94, NVwZ 1999, 1252, beck-online) oder eines Initiativrechts zur Tagesordnung (vgl. OVG Münster, Urteil vom 21. Dezember 1988 - 15 A 951/87, NVwZ-RR 1989, 380, BVerfG Beschluss vom 27. November 1989 - 2 BvR 246/89, NVwZ 1990, 355: Recht zur Aufnahme eines Tagesordnungspunktes nur bei Unterstützung durch einem Viertel der Gemeindevertreter).

37

Vorliegend wird durch den Verwaltungsakt direkt in bestehende Verfahrensrechte eingegriffen, denn es werden Abweichungen von den §§ 29, 30, 31, 35, 36, 135 und 136 KV M-V zugelassen. Insbesondere wird ein neues, nicht im Gesetz vorgesehenes Abstimmungsverfahren - das sogenannte Umlaufverfahren - eingeführt. Dieses ist bereits in Abweichung zu den bestehenden gesetzlichen Vorgaben ohne Anwendungs- bzw. Umsetzungsbeschluss direkt anwendbar. Die Abstimmung über die Anwendung des Umlaufverfahrens kann bereits durch Umlaufbeschluss respektive nach den „neuen“ Regeln erfolgen und somit nach einem nicht in der KV M-V vorgesehen Abstimmungsverfahren. Hinzu kommt, dass die Beschlussfassung in Abweichung von § 31 KV M-V geschieht. Grundsätzlich gilt, dass inhaltliche Beschlüsse nur dann angenommen sind, wenn diesen eine Mehrheitsentscheidung zugrunde liegt. Die vorgesehene Widerspruchslösung dreht das System um, indem nicht mehr zugestimmt, sondern explizit widersprochen werden muss. Es gilt somit: wer schweigt, stimmt zu. Zwar gibt es auch in der KV M-V Ausnahmen vom Mehrheitsbeschluss, diese sind jedoch vereinzelt und spezialgesetzlich normiert. Ein verallgemeinerungsfähiger Rechtssatz, der auf neueingeführte Verfahrensweisen übertragbar ist, lässt sich daraus nicht entnehmen. Hinzu kommt, dass grundsätzlich nicht durch Verwaltungsakt tiefgreifend in gesetzlich normierte Verfahrensrechte eingegriffen werden kann. Ein solches Vorgehen verstößt gegen den Vorrang des Gesetzes und den Wesentlichkeitsgrundsatz.

38

Die genannten Verfahrensrechte schützen und berechtigen den Kläger zu 2) in seiner Position als gewähltem Vertreter in der kommunalen Vertretung, weshalb er sich in dieser Funktion auch auf sie berufen kann.

39

b. Es fehlt den Klägern jedoch am erforderlichen Fortsetzungsfeststellungsinteresse gemäß § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO.

40

Das berechtigte Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit eines erledigten Verwaltungsakts nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO kann rechtlicher, wirtschaftlicher oder auch ideeller Natur sein. Entscheidend ist, dass die gerichtliche Entscheidung geeignet ist, die Position des Klägers in den genannten Bereichen zu verbessern. Das berechtigte Feststellungsinteresse geht über das bloße Interesse an der Klärung der Rechtswidrigkeit der Verfügung hinaus. Ein besonderes Rechtsschutzinteresse wird insbesondere anerkannt, wenn das gerichtliche Verfahren dazu dienen kann, einer Wiederholungsgefahr zu begegnen, eine fortwirkende Beeinträchtigung durch den an sich beendeten Eingriff zu beseitigen oder wenn es sich um den Fall eines tiefgreifenden, nach seiner Eigenart jedoch kurzfristig erledigten Grundrechtseingriffs handelt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 6. Juli 2016, 1 BvR 1705/15, juris Rn. 11; VGH München, Urteil vom 12. Dezember 2016, 10 BV 13.1005, juris Rn. 46 m.w.N.).

41

Kurzfristig bedeutet in diesem Zusammenhang, dass nur ausnahmsweise nach Art. 19 Abs. 4 GG ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse an der bloßen Klärung der Rechtmäßigkeit des erledigten Verwaltungsakts zu bejahen ist, wenn andernfalls kein wirksamer Rechtsschutz gegen solche Eingriffe zu erlangen wäre. Davon ist nur bei Maßnahmen auszugehen, die sich typischerweise so kurzfristig erledigen, dass sie ohne die Annahme eines Fortsetzungsfeststellungsinteresses regelmäßig keiner Überprüfung im gerichtlichen Hauptsacheverfahren zugeführt werden könnten. Maßgebend ist dabei, ob die kurzfristige, eine Anfechtungs- oder Verpflichtungsklage ausschließende Erledigung sich aus der Eigenart des Verwaltungsakts selbst ergibt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 05. Dezember 2001 - 2 BvR 527/99, 2 BvR 1337/00, 2 BvR 1777/00, BeckRS 2012, 56306; BVerfG, Beschluss vom 03. März 2004 - 1 BvR 461/03, BeckRS 2004, 22474). Dies kann beispielsweise bei polizeilichen Maßnahmen der Fall sein, die z.B. im Zusammenhang mit Demonstrationsgeschehen und Großsportveranstaltungen zusammenhängen. Ansonsten kann ein berechtigtes Interesse an der Feststellung auch dann angenommen werden, wenn die Kläger die Geltendmachung von Ansprüchen aus Amtshaftung oder von sonstigen Schadensersatz- oder Entschädigungsansprüchen beabsichtigen und die Erledigung des Verwaltungsaktes erst nach Klageerhebung eingetreten ist (vgl. Kopp/Schenke/Schenke, VwGO, 25. Aufl. 2020, § 113 Rn. 136 f.). Entscheidend ist, dass die gerichtliche Entscheidung geeignet ist, die Position der Kläger zu verbessern (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. Mai 2013 - BVerwG 8 C 15.12, juris Rn. 25; st. Rspr.). Als Sachentscheidungsvoraussetzung muss das Fortsetzungsfeststellungsinteresse im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung vorliegen.

42

Eine Wiederholungsgefahr liegt nicht vor. Nach den Gesamtumständen ist davon auszugehen, dass der Beklagte in Zukunft keinen vergleichbaren Verwaltungsakt erlassen wird. So hat der Beklagte bereits einen Antrag auf Verlängerung der Ausnahme mit Schreiben vom 27. April 2020 abgelehnt und dies mit der Einmaligkeit der Ausnahme begründet. Zudem wurden die gesetzlichen Voraussetzungen modifiziert. Durch das am 27. Januar 2021 beschlossene „Gesetz zur Aufrechterhaltung der Handlungsfähigkeit der Kommunen in der Corona-Pandemie“ (LT-Drs.: 7/5581) besteht nun ein normativer Anknüpfungspunkt auf landesgesetzlicher Ebene, der Umlaufbeschlüsse und Abweichungen von der Sitzungspräsenz ermöglicht. Ein Rückgriff auf das Kommunale Standarderprobungsgesetz (KommStEG M-V) ist daher nicht zu erwarten.

43

Ein tiefgreifender, nach seiner Eigenart jedoch kurzfristig erledigter Grundrechtseingriff liegt ebenfalls nicht vor. Die Regelung wurde erlassen, um kommunale Beschlüsse während der SARSCoV-2-Pandemie zu ermöglichen. Notwendigerweise geht dies mit einer Wirkung über einen längeren Zeitraum einher, da kommunale Beschlüsse bzw. die Vorbereitung zu Sitzungen mit einem gewissen Zeitvorlauf und Fristen verbunden sind. Vorliegend galt die Regelung über mehrere Wochen hinweg, konkret zwischen dem 24. März 2020 und dem 19. April 2020. Eine kurzfristige Erledigung ist daher bereits nach der Eigenart ausgeschlossen. Die Kläger hatten genug Zeit, Rechtsmittel gegen den Bescheid vom 24. März 2020 vor Erledigung einzulegen. Zwar muss ihnen zugestanden werden, dass keine Rechtsbehelfsbelehrung in der Veröffentlichung enthalten war. Sie hätten aber umgehend um Rechtsschutz nachsuchen müssen, gegebenenfalls im Rahmen eines einstweiligen Rechtschutzverfahrens, mindestens jedoch noch vor Außerkrafttreten der Regelungen. Dies haben sie nicht getan, sondern erst erheblich verspätet. Dieses Verhalten müssen sich die Kläger entgegenhalten lassen.

44

2. Der Antrag zu 2., dass alle auf der Entscheidung aufbauenden Beschlüsse von Gemeindevertretungen für ungültig zu erklären sind, ist gemäß § 88 VwGO auszulegen.

45

Es kommen zwei Auslegungsvarianten in Betracht, die gleichermaßen unzulässig sind.

46

Die erste Variante wäre, dass der Antrag so zu verstehen ist, dass die Kläger begehren, dass festgestellt wird, dass sämtliche Entscheidungen, die auf dem Umlaufbeschluss beruhen, rechtswidrig sind.

47

Ein solcher Antrag ist als Popularklage unzulässig. Es fehlt an einem Rechtsverhältnis zwischen den Beteiligten, welches zum Erlass einer derartigen Anordnung berechtigen könnte. Rechtliche Beziehungen im Sinne des § 42 VwGO sind gegeben, wenn sich aus einem konkreten Sachverhalt aufgrund einer öffentlich-rechtlichen Norm ein Verhältnis von natürlichen oder juristischen Personen untereinander oder einer Person zu einer Sache ergeben. Die Feststellungsklage muss sich danach auf einen konkreten, gerade die Kläger betreffenden Sachverhalt beziehen. Mit ihr kann nicht allgemein, also losgelöst von einer eigenen, konkret feststehenden Betroffenheit die Rechtmäßigkeit einer behördlichen Maßnahme einer verwaltungsgerichtlichen Überprüfung zugeführt werden. Damit soll die Popularklage im Verwaltungsprozess verhindert werden, bei der sich der Kläger zum Sachwalter öffentlicher Interessen oder rechtlich geschützter Interessen Dritter macht (vgl. BVerwG, Urteil vom 28. Mai 2014 – 6 A 1/13, juris LS 1 und Rn. 20 f.).

48

Das Begehren alle Beschlüsse für „ungültig“ zu erklären, ist jedoch nicht konkret, sondern betrifft über 700 Gemeinden im Land Mecklenburg. Eine eigene Betroffenheit scheidet für den Kläger zu 1) grundsätzlich - nach den oben dargestellten Grundsätzen - aus. Für den Kläger zu 2) kommt eine Betroffenheit nur bezüglich der Ratsbeschlüsse seines eigenen Gremiums in Betracht. Jedoch werden hier die konkreten Beschlüsse nicht benannt. Nach den oben dargestellten Grundsätzen gilt zudem, dass der Kläger als Organteil des Beschlussorgans sich gegen entsprechende Beschlussfassungen im Rahmen eines Kommunalverfassungsstreits erwehren muss. Ein wehrfähiges Innenrecht liegt in diesem Verhältnis nicht vor.

49

Sollte der Antrag dahingehend zu verstehen sein, dass der Beklagte als Rechtsaufsichtsbehörde im Rahmen seiner Rechte nach § 81 KV M-V tätig werden und die entsprechenden Beschlüsse beanstanden soll, fehlt es gleichfalls an den genannten tatbestandlichen Voraussetzungen und darüber hinaus auch an einem außergerichtlich gestellten Antrag bei der Behörde respektive an einem notwendigen Vorverfahren gemäß § 68 Abs. 2 VwGO.

50

3. Gleiches gilt auch für den Klageantrag zu 3., mit dem die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses bzw. die Einleitung einer Untersuchung begehrt wird.

51

Es fehlt bereits am konkreten Klagegegenstand und einer eigenen Rechtsposition, die betroffen sein könnte.

52

Die Einsetzung von Untersuchungsausschüssen ist im „Gesetz über die Einsetzung und das Verfahren von Untersuchungsausschüssen“ (Untersuchungsausschussgesetz - UAG M-V) geregelt. Nach § 1 UAG M-V steht dieses Recht nur Landtagsmitgliedern bei Erreichen eines festgelegten Quorums zu. Die Kläger sind aber weder Mitglieder des Landtags noch ist ein anderes Recht ersichtlich, aus dem ihnen die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses bzw. die Einleitung einer Untersuchung zustehen könnte. Unbesehen davon ist der Beklagte für die Einrichtung von Untersuchungsausschüssen auch nicht zuständig. Es handelt sich hierbei um ein parlamentarisches Recht des Landtags bzw. seiner Mitglieder.

53

4. Hinsichtlich des Antrags zu 4., die Unterlagen öffentlich zugänglich zu machen, ist der Kammer kein Recht bekannt, auf welches eine derartige Forderung gestützt werden könnte. Mithin fehlt es an dem entsprechenden Rechtsschutzbedürfnis, da entsprechend auch kein subjektives Interesse an einer derartigen Forderung ersichtlich ist. Zudem fehlt es an einem notwendigen Vorverfahren gemäß § 68 VwGO. Die Kläger haben keinen Antrag bei dem Beklagten eingereicht, was aber für eine gerichtliche Geltendmachung notwendig gewesen wäre.

II.

54

Die Kostenentscheidung folgt aus den § 154 Abs. 1.

III.

55

Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.

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